Inhalt

VG Regensburg, Urteil v. 26.10.2023 – RN 2 K 23.30938
Titel:

subsidiärer Schutz bei drohender Heranziehung zum militärischen Bereich des eritreischen Nationaldiensts 

Normenketten:
AsylG § 3, § 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Die einem Dienstpflichtigen in Eritrea drohende Einziehung zur Ableistung des Nationaldienstes knüpft nicht an eine ihm zugeschriebene politische Überzeugung oder ein anderes flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal an. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es bestehen stichhaltige Gründe für die Annahme, dass einem 20-jährigen dienstpflichtigen Eritreer m Falle seiner zwangsweisen Rückführung nach Eritrea im Zusammenhang mit seiner Es bestehen stichhaltige Gründe für die Annahme, dass einem 20-jährigen dienstpflichtigen Eritreer m Falle seiner zwangsweisen Rückführung nach Eritrea im Zusammenhang mit seiner Heranziehung zum militärischen Bereich des eritreischen Nationaldiensts ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei Einberufungsgefahr in den eritreischen Nationaldienst, Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus bei Einberufungsgefahr in den militärischen Bereich des Nationaldienstes, Eritrea, Nationaldienst, Wehrdienstentziehung, Diaspora-Status, Reueerklärung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31164

Tenor

I.    Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2.8.2023 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.    Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je die Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.    Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in jeweils entsprechender Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein nach eigenem Vorbringen am … .2002 geborener, eritreischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 15.7.2020 auf dem Landweg über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ein. Für ihn wurde am 6.10.2020 durch seinen damalig bestellten Vormund ein Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gestellt.
2
Die Erstbefragung bei der Zentralen Ausländerbehörde der Regierung von Niederbayern erfolgte am 3.9.2020. Der Kläger gab hierbei im Wesentlichen an, dass er eritreischer Staatsangehöriger sei. Er sei in R. in Saudi-Arabien geboren. Seine Eltern seien eritreische Staatsangehörige. Seinen Pass habe er unterwegs verloren. Seine Geburtsurkunde habe sein Vater, zu dem er keinen Kontakt mehr habe. Er habe in Saudi-Arabien die Mittelschule abgeschlossen. Er habe in Ungarn einen Asylantrag gestellt und subsidiären Schutz für ein Jahr bekommen.
3
Mit Schreiben vom 14.9.2020 teilten die ungarischen Behörden mit, dass dem Kläger am 8.5.2020 der subsidiäre Schutzstatus erteilt worden sei.
4
Am 3.12.2020 wurde der Kläger zur Zulässigkeit des Asylantrags gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 – 4 AsylG i.V.m. § 25 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 AsylG vom Bundesamt angehört.
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Mit Bescheid vom 21.12.2020 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 2). Ferner wurde die Abschiebung nach Ungarn angedroht (Ziffer 3) Der Bescheid wurde durch Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 23.2.2023 im Verfahren RN 2 K 21.30131 aufgehoben.
6
Am 31.7.2023 erfolgte die Anhörung nach § 25 AsylG. Der Kläger führte im Wesentlichen aus, dass er in Saudi-Arabien geboren sei. 2018 habe man ihn und seine Familie von Saudi-Arabien nach Eritrea abgeschoben. Sie seien nach der Abschiebung ca. 40 Tage bei ihrer Tante in A. gewesen. Er sei aus Angst vor einer Rekrutierung die meiste Zeit daheim gewesen. Ende Juni hätten sie Eritrea verlassen. Sein Vater habe sich um alles gekümmert. Er sei vor allem wegen des Wehrdienstes wieder ausgereist. Auch sei die Sicherheitslage schlimm. Er befürchte bei einer Rückkehr verhaftet und getötet zu werden. Die Leute, die Eritrea verließen, würden als Verräter betrachtet. Im Hinblick auf den Diaspora-Status erklärte er, er würde nie eine solche Diktatur finanziell unterstützen.
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Mit Bescheid vom 2.8.2023 lehnte das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 1 und 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4), forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte andernfalls dem Kläger die Abschiebung nach Eritrea oder in einen anderen rücknahmebereiten oder zur Rücknahme verpflichteten Staat an. Die durch die Bekanntgabe der Entscheidung in Lauf gesetzte Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Ziffer 5). Ferner befristete es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Auf den Bescheid wird verwiesen. Der Bescheid wurde ausweislich der Behördenakte am 9.8.2023 als Einschreiben zur Post gegeben.
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Am 22.8.2023 ließ der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg erheben.
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Die Klage wird im Wesentlichen damit begründet, dass eine Bindungswirkung im Hinblick auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes in Ungarn bestehe. Des Weiteren lägen die Voraussetzung für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vor. Bei einer zwangsweisen Rückführung würde der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, zum eritreischen Nationaldienst einberufen zu werden und dort Folter und einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgesetzt zu sein. Darüber hinaus drohe dem Kläger eine Inhaftierung unmittelbar nach Einreise und auch dadurch Folter und eine unmenschliche Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Zur Dienstpflicht in Eritrea wird allgemein ausgeführt. Ferner bringt die Klägerseite vor, dass die EASO unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundene Rückführungen berichte, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis in T. zugeführt würden und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Personen, die wie der Kläger, noch nie in den Nationaldienst aufgeboten worden seien, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen. Weitere Quellen werden zur Situation von Rückkehrern zitiert und hierzu ausgeführt. Die Klägerseite gehe nach den Erkenntnismitteln davon aus, dass der Kläger im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zunächst inhaftiert und einer Überprüfung im Hinblick auf den Nationaldienststatus unterzogen werden würde und anschließend mit Blick darauf, dass er den Nationaldienst in Eritrea bislang nicht angetreten habe, in den Nationaldienst einberufen werden würde. Der Kläger könne der Einziehung in den Nationaldienst bei zwangsweiser Rückführung auch nicht durch die Erlangung des sog. Diaspora-Status entgehen. Die Erlangung des Diaspora-Status komme im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea von vornherein nicht in Betracht. Die Möglichkeit der Erlangung des Diaspora-Status richte sich jedoch nur an freiwillige Rückkehrer (vgl. auch AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 1 f.). Anders als freiwillige Rückkehrer hätten zwangsrückgeführte Personen indes nicht die Möglichkeit, ihren Status gegenüber den Behörden entsprechend zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44). Der Kläger könne schließlich nicht in zumutbarer Weise auf die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise und Rückkehr nach Eritrea verwiesen werden. Nationaldienstverpflichtete Exil-Eritreer wie der Kläger könnten nur dann freiwillig aus- und unbehelligt nach Eritrea einreisen, wenn sie im Bedarfsfall zuvor die „Reueerklärung“ unterzeichnet hätten. Es wird ausgeführt, dass davon auszugehen sei, dass der Kläger eine „Reueerklärung“ abgeben müsse. Dies sei dem Kläger jedoch nicht zumutbar. Die Klägerseite verweist hierbei auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.10.2022 (Az.: 1 C 9.21). Des Weiteren führt die Klägerseite aus, dass dem Kläger im militärisch geprägten Teil des Nationaldienstes eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Bestrafung und auch Folter drohen würden. Gleiches gelte für die Haft. Eine inländische Fluchtalternative scheide aus.
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Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2.8.2023, Aktenzeichen …- 224, zugestellt am 10.08.2023, zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
2. hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;
3. weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Hinblick auf Eritrea vorliegen;
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Die Beklage beantragt mit Schriftsatz vom 25.8.2023,
die Klage abzuweisen.
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Mit Beschluss vom 13.9.2023 ist der Rechtsstreit auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen worden.
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Mit Schreiben vom 14.9.2023 wies das Gericht darauf hin, dass im Hinblick auf die Einberufungsgefahr die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Raum stehe. Es wurde um Mitteilung bis 15.10.2023 gebeten, ob mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil Einverständnis bestehe. Ebenfalls bis 15.10.2023 wurde Gelegenheit zur Stellungnahme in der Sache gegeben. Ferner wurde den Beteiligten die Erkenntnismittelliste „Eritrea“ mit Stand 13.9.2023 übermittelt.
14
Die Beklagte teilte mit Schreiben vom 18.9.2023 mit, dass sie auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichte. Die Klägerseite teilte ihr Einverständnis mit Schreiben vom 27.9.2023 mit.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16
Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin.
17
Über die Klage kann durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) entschieden werden, da die Beteiligten den Verzicht auf die mündliche Verhandlung erklärt haben.
18
Die zulässige Klage ist im tenorierten Umfang erfolgreich.
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Der angegriffene Bescheid erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. AsylG) hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als rechtmäßig und verletzt die Klagepartei nicht in ihren Rechten. Der Klagepartei steht der geltend gemachte Anspruch insoweit nicht zu (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Demgegenüber hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes. Soweit der angegriffene Bescheid dem entgegensteht, war er aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Die Ablehnung des Asylantrags in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides wurde nicht beklagt. Der Bescheid ist insoweit in Bestandskraft erwachsen.
20
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingsanerkennung gem. § 3 AsylG.
21
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist – unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben – Flüchtling, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es aber regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris). Eine Verfolgung i.S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (vgl. auch VG Augsburg, U.v. 11.8.2016 – Au 1 K 16.30744 – juris). Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festzustellenden Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris m.w.N.).
23
Eine Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris).
24
Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Ausländers die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris; BVerwG, U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. VG Ansbach, U.v. 24.10.2016 – AN 3 K 16.30452 – juris m.w.N.).
25
Dies zugrunde gelegt hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG. Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, dass er bei einer Rückkehr nach Eritrea als Verräter verhaftet und getötet werden würde, weil er aus Eritrea ausgereist sei. Er sei vor allem wegen des Wehrdienstes ausgereist. Eine Vorverfolgung des Klägers ist aus seinen Angaben nicht ersichtlich. Auch droht ihm bei einer Rückkehr nach Eritrea nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung.
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Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich nicht aus der Gefahr der Einberufung in den Nationaldienst, da eine dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Eritrea drohende Einberufung zum Nationaldienst nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal anknüpft, insbesondere nicht an eine dem Kläger zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG an.
27
Die mögliche Einberufung zum Nationaldienst weist keine Verknüpfung mit einem Kriterium des § 3b AsylG auf. Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne „wegen“ eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. OVG Lüneburg U. v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
28
Ausgehend von diesen Maßstäben geht die zur Entscheidung berufene Einzelrichterin bei einer qualifizierenden Gesamtbetrachtung und Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel mit der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 -juris; OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online; OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG – beck-online; OVG Bremen, B.v. 24.1.2023 – 1 LA 200/21 – juris u. v. 29.7.2022 – 1 LA 284/21 – juris; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – OVG 4 B 14/21 – juris; VGH Baden-Württemberg, U.v. 18.1.2022 – VGH A 13 S 2403/21 – juris; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 10/18 – juris; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris) davon aus, dass die einem Dienstpflichtigen in Eritrea drohende Einziehung zur Ableistung des Nationaldienstes nicht an eine ihm zugeschriebene politische Überzeugung oder ein anderes flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal anknüpft.
29
Gegen eine Anknüpfung an ein flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal ist in erster Linie anzuführen, dass sich die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes in Eritrea nach Rechtslage und Anwendungspraxis im Wesentlichen auf alle erwachsenen eritreischen Staatsangehörigen ohne Unterscheidung nach flüchtlingsschutzerheblichen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen (Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe) erstreckt (vgl. auch OVG Lüneburg U. v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
30
Gemäß der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 sind in Eritrea Männer und Frauen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr nationaldienstpflichtig („active national service“) und gehören bis zum fünfzigsten Lebensjahr der Reservearmee („reserve military service“) an (Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 4). Nach abweichenden Angaben soll sich das Höchstalter für den Wehr- und Nationaldienst seit 2009 für Männer auf 57 und für Frauen auf 27 bzw. 47 Jahre belaufen (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022 (Stand: November 2021), S. 15, S. 15; Amnesty International (AI) an VG Magdeburg vom 2.8.2018). In der Praxis kommt es vor, dass Eritreer bereits ab dem Alter von etwa 16 Jahren als dienstpflichtig behandelt werden, wobei teilweise auch noch jüngere Eritreer rekrutiert werden. Maßgeblich für die Rekrutierung ist nicht das tatsächliche Alter, sondern häufig eine Alterseinschätzung aufgrund des Aussehens der Person (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 32 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 36 f.; SFH, Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH Länderanalyse, 6.12.2021, S. 1 ff.). Alle Dienstpflichtigen absolvieren gem. Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 zuerst eine sechsmonatige militärische Ausbildung und werden dann entweder dem militärischen Teil unter dem Verteidigungsministerium zugeteilt oder einer zivilen Aufgabe, die von einem anderen Ministerium verwaltet wird. Angehörige des militärischen Teils leisten Dienst im eritreischen Militär (Armee, Marine oder Luftwaffe). Teilweise leisten sie auch Arbeitseinsätze im Aufbau von Infrastruktur und in der Landwirtschaft. Sie leben auf militärischen Stützpunkten und sind in Einheiten eingeteilt. Angehörige des zivilen Teils leisten ihren Dienst in zivilen Projekten. Zu diesem Zweck teilt sie die Regierung verschiedenen Ministerien zu. Meist handelt es sich um Personen mit guter Ausbildung oder speziellen Fähigkeiten. Typisch sind Einsätze an Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung. Ihren zugeteilten Aufgaben gehen die Dienstleistenden wie einer normalen Arbeit nach. Sie leben mit ihren Eltern, Familien oder in privaten Wohnungen am Arbeitsort (vgl. Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.). Zuständig für die Einteilung der Wehrpflichtigen in den militärischen bzw. zivilen Teil ist das Verteidigungsministerium (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25.). Ausgenommen vom Nationaldienst sind lediglich Personen, die ihre Dienstpflicht bereits vor Inkrafttreten der Proklamation Nr. 82/1995 erfüllt haben, sowie ehemalige Unabhängigkeitskämpfer (Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995). Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen in der Regel nur dazu, dass die militärische Ausbildung erlassen wird (Art. 13 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995), nicht jedoch die Dienstverpflichtung als solche. Faktisch werden verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter in der Regel jedenfalls von der Dienstleistung im militärischen Teil des Nationaldiensts ausgenommen (vgl. Danish Immigration Service (DIS), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 29; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 34, vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Nach Art. 21 der Proklamation Nr. 82/1995 kann die Dienstpflicht im Falle eines Kriegs oder einer allgemeinen Mobilmachung über die Dauer von 18 Monaten hinaus verlängert werden, sofern die zuständige Behörde den Dienstpflichtigen nicht offiziell entlassen hat. Seit dem Grenzkrieg mit Äthiopien rechtfertigt die eritreische Regierung die unbeschränkte Dauer des Nationaldiensts mit der Bedrohung durch Äthiopien. Der 1998 verhängte faktische Ausnahmezustand wurde seither nicht aufgehoben. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 14; DIS, Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 ff.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 4 f.; AI; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Die wichtigste Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst stellt das Schulsystem dar. Die eritreische Regierung bezeichnet diese Rekrutierungsform als „reguläre“ Rekrutierung. Die Rekrutierung in den Nationaldienst findet unmittelbar im Anschluss an das 12. Schuljahr statt. Schülerinnen und Schüler, die das 11. Schuljahr abgeschlossen haben, absolvieren die 12. Klasse in dem Militärlager „Sawa“. Das Resultat der dort abgelegten Abschlussprüfung (Eritrean Secondary Education Certificate Examination, ESECE) bestimmt die weiteren Bildungsmöglichkeiten und die Einteilung in den Nationaldienst. Die Schüler mit den besten Noten beginnen das Studium an einer der neun Hochschulen. Nach Studienabschluss werden den Absolventen Funktionen im zivilen Teil des Nationaldiensts zugeteilt. Schüler mit einem mittelmäßigen Abschluss besuchen das „Sawa Center for Technical and Vocational Education“. Den Absolventen werden anschließend Aufgaben im zivilen oder militärischen Teil des Nationaldiensts zugewiesen. Die Schüler mit den schlechtesten Noten gehen entweder an Berufsbildungsschulen oder direkt in den Nationaldienst. Wer direkt in den Nationaldienst kommt, wird dem zivilen oder militärischen Teil oder der Mitarbeit in einem der Bau- oder Landwirtschafts-Unternehmen der Regierungspartei PFDJ zugeteilt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 27 ff.; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Die Rekrutierung der Schüler, die die Schule bereits vor Erreichen der 12. Klasse verlassen haben, erfolgt durch die lokale Verwaltung. Durch Informationen der Schulen behalten die Lokalverwaltungen einen Überblick über die Schulabgänger und ihr Alter. Das Militär weist die lokalen Verwaltungen regelmäßig an, Schulabgänger einzubestellen, damit sie dem Nationaldienst zugeführt werden können oder zumindest eine Liste mit geeigneten Heranwachsenden zu übergeben. Die Einberufungen werden von der lokalen Verwaltung u.a. an schwarzen Brettern, mit Briefen, Hausbesuchen oder Radioansagen bekannt gemacht. Von der Lokalverwaltung einberufene Personen werden meist dem militärischen Teil des Nationaldiensts zugeteilt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 29 f; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Die Einberufung zum Nationaldienst findet zudem statt, wenn Schulabbrecher bei dem Versuch, das Land zu verlassen, aufgegriffen werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 31 f.). Eine weitere Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst stellen Razzien durch die Sicherheitskräfte (sog. „giffas“) dar. Die in „giffas“ rekrutierten Deserteure und Dienstverweigerer verbleiben üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis und werden dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt. Vereinzelt fahnden militärische Einheiten auch gezielt nach Dienstverweigerern, insbesondere wenn diese einem Aufgebot keine Folge geleistet haben (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 31 f.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 5; vgl. insgesamt auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Aufgrund der dargestellten Rechtslage und Anwendungspraxis geht die zur Entscheidung berufene Einzelrichterin davon aus, dass der eritreische Staat grundsätzlich jeden eritreischen Bürger im dienstpflichtigen Alter gleichermaßen und ohne Ansehung von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen als dienstverpflichtet ansieht. Insoweit sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Staat Eritrea eine Auswahl oder Auslese anhand flüchtlingsschutzrechtlicher Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vornimmt. Dies lässt sich vor allem an der dargestellten Rekrutierung jugendlicher eritreischer Staatsangehöriger zum Nationaldienst durch das Schulsystem erkennen, die nach den vorstehenden Ausführungen systematisch alle Kreise der eritreischen Bevölkerung gleichermaßen erfasst (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 21.9.2020 – 19 A 1857/19.A – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Aus keinem der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ergibt sich etwas anderes, als dass der eritreische Staat im Wesentlichen alle Staatsbürger ab der Volljährigkeit oder faktisch zum Teil auch kurz vorher in den Nationaldienst einzieht bzw. dies vorgesehen ist.
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Es ist nach dem Vorstehenden auch nicht ersichtlich, dass der Staat Eritrea hinsichtlich der – in der Praxis regelmäßig die 18-Monats-Grenze überschreitenden – Dauer des Nationaldiensts oder in Bezug auf die dargestellten gesetzlichen oder faktischen Ausnahmen von den Altersgrenzen (Rekrutierung Minderjähriger) und von der Einziehung (ehemalige Unabhängigkeitskämpfer; verheiratete bzw. schwangere Frauen und Mütter) eine Anknüpfung an flüchtlingsschutzerhebliche Persönlichkeitsmerkmale vornimmt (so auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
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Angesichts der insoweit praktisch sämtliche erwachsenen eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen ohne Ansehung ihrer individuellen Persönlichkeitsmerkmale treffenden Dienstverpflichtung fehlt es insbesondere an Anhaltspunkten dafür, dass die Heranziehung zum Nationaldienst als solche an eine dem Kläger unterstellte regimegegnerische politische Überzeugung anknüpft. Aus diesen Gründen scheidet auch die Annahme des Verfolgungsgrunds der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aus. Denn angesichts der die eritreische Bevölkerung ausnahmslos treffenden Dienstverpflichtung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Gruppe der Dienstverpflichteten im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4b AsylG von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würde und daher eine deutlich abgegrenzte Identität besäße (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Etwas anderes folgt auch nicht aus der (auch) politischen Dimension des Nationaldiensts. Zwar dient der Nationaldienst auch der Verbreitung der Staatsideologie und wird als „Schule der Nation“ angesehen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 24 f.). So heißt es etwa in Art. 5 der Proklamation Nr. 82/1995, der Nationaldienst diene unter anderem dazu, das Gefühl der nationalen Einheit im eritreischen Volk zu stärken und subnationale Gefühle zu eliminieren. Die ideologische Bedeutung spiegelt sich auch darin wieder, dass im 12. Schuljahr – das nur im militärischen Ausbildungslager in Sawa vorgesehen ist – neben der militärischen Ausbildung die Vermittlung der nationalen Werte und damit die Ideologie der Regierungspartei im Mittelpunkt steht (vgl. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32, 37; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 24 f., 27; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 6 f.). Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Einziehung in den Nationaldienst nicht an ein Merkmal i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG anknüpft, sondern grundsätzlich alle eritreischen Staatsbürger trifft (vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
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Bezüglich der Heranziehung zum militärischen Teil des Nationaldiensts kommt hinzu, dass diese – wie es in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG indirekt zum Ausdruck kommt – jedenfalls grundsätzlich nicht dem flüchtlingsschutzrechtlichen Schutzversprechen unterfällt, da jedem souveränen Staat grundsätzlich das Recht zusteht, seine Staatsangehörigen zum Wehr- bzw. Militärdienst heranzuziehen (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
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Auch die Bedingungen, unter denen der Nationaldienst in Eritrea abzuleisten ist, knüpfen jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an flüchtlingsschutzrechtliche Merkmale i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG wie Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an. Zwar ist davon auszugehen, dass in „giffas“ aufgegriffene Deserteure und Dienstverweigerer sowie bei dem Versuch der illegalen Ausreise verhaftete Personen in der Regel dem militärischen Teil des Nationaldiensts zugeführt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 31 f.), in dem die Bedingungen deutlich härter sind als im zivilen Teil des Nationaldiensts (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 40). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nicht nur Wehrdienstverweigerer und Deserteure bzw. illegal ausgereiste Personen Aufgaben im militärischen Teil des Nationaldiensts erhalten, sondern insgesamt etwas weniger als die Hälfte aller Dienstverpflichteten im militärischen Teil des Nationaldiensts dient, darunter insbesondere auch Schulabsolventen mit mittelmäßigen oder schlechten Schulabschlüssen und Schulabbrecher (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 12; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25 f., S. 28 ff.). Ob ein Staatsbürger dem militärischen oder zivilen Teil des Nationaldienst zugeführt wird, richtet sich daher erkennbar nicht nach flüchtlingsrelevanten Merkmalen wie zum Beispiel einer (zugeschriebenen) politische Gesinnung. Nach der vorliegenden Erkenntnismittellage treffen als unmenschlich und erniedrigend bzw. als Folter einzuordnende Behandlungen und Bestrafungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch ausnahmslos alle Dienstverpflichten im militärischen Teil des Nationaldiensts, weil diese systematisch und routinemäßig als Prinzip zur Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst zur Aufrechterhaltung von Disziplin, Kontrolle und „Mut und Heldentum“ verstanden und angewandt werden (vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Angesichts dessen kann nicht festgestellt werden, dass unmenschliche Behandlungen im militärischen Teil des Nationaldiensts zielgerichtet eingesetzt werden, um Deserteure und Wehrdienstverweigerer bzw. illegal ausgereiste Personen wegen ihrer – auch nur zugeschriebenen – politischen Überzeugung oder als Teil einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu treffen.
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Dies zugrunde gelegt, ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung bei einer Rückkehr des Klägers durch die Einberufung in den Nationaldienst zu verneinen.
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Des Weiteren besteht auch kein Anspruch des Klägers auf Flüchtlingsanerkennung auf Grund einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung. Ob dem Kläger – der im Alter von 15 Jahren mit Visum ausgereist ist – im Fall einer Rückkehr eine solche Bestrafung und gegebenenfalls Inhaftierung mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht, kann vorliegend dahinstehen. Denn eine Bestrafung diesbezüglich würde nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an einen in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgrund, insbesondere nicht an eine – auch nur unterstellte – politische Überzeugung, anknüpfen.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen an eine Wehrdienstentziehung geknüpfte Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine Verfolgung dar, wenn diese nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals treffen sollen. Eine Verfolgung wird verneint, wenn Sanktionen an eine alle Staatsbürger gleichermaßen treffende Pflicht anknüpfen (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2017 – 1 B 22/17, m.w.N – juris; vgl. auch BayVGH, U.v. 24.3.2000 – 9 B 96.35177 – juris; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris). Sanktionen wegen Wehrdienstentziehung dienen regelmäßig nicht der politischen oder religiösen Verfolgung, sondern werden ungeachtet solcher Merkmale im Regelfall allgemein und unterschiedslos gegenüber allen Deserteuren/Verweigerern aus Gründen der Aufrechterhaltung der Disziplin verhängt (vgl. auch VG Osnabrück, U.v. 18.5.2015 – 5 A 465/14 – juris). In eine flüchtlingsrelevante Verfolgung schlägt eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung erst dann um, wenn sie zielgerichtet gegenüber Personen eingesetzt wird, die durch diese Maßnahme gerade wegen eines in § 3 Abs. 1 Nr. 1 genannten Merkmals getroffen werden soll (vgl. auch VG Osnabrück, U.v. 18.5.2015 – 5 A 465/14 – juris), bzw. wenn die zuständigen Behörden aus der Verwirklichung der Tat auf eine Regimegegnerschaft der betroffenen Person schließen und die strafrechtliche Sanktion nicht nur der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern auch der Bekämpfung von politischen Gegnern dient (vgl. BVerwG, U.v. 25.6.1991 – 9 C 131.90 – juris).
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Es kann jedoch nach Ansicht der zuständigen Einzelrichterin derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die illegale Ausreise, um sich dem Nationalen Dienst zu entziehen oder die Desertion, vom eritreischen Staat allgemein als Regimegegnerschaft gesehen wird und der Bestrafung damit ein politischer Sanktionscharakter zukommt. Explizite Erkenntnisse, dass die eritreische Regierung Personen, die sich dem Nationalen Dienst entziehen und illegal ausreisen oder desertieren, generell als Regimegegner einstuft und politisch verfolgt, ergeben sich für die zur Entscheidung berufene Einzelrichterin auf Grund der vorliegenden Erkenntnisquellen nicht (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021) vom 3.1.2022, S. 5, f, 21 f.; Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), SEM, Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22.6.2016).
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So lassen die angedrohten Strafrahmen nicht den Schluss zu, dass die Bestimmung der Strafe durch Zuschreibung einer oppositionellen Haltung zumindest mitgeprägt ist.
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Art. 37 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995 vom 23. Oktober 1995 enthält Strafvorschriften. Während Abs. 1 die Verletzung von (jedweder) Bestimmung der Proklamation Nr. 82/1995 mit einer Haftstrafe von zwei Jahren oder mit einer Geldstrafe von 3.000 Birr oder beidem bedroht, sieht Abs. 2 für eine Entziehung vom Nationaldienst durch Betrug oder Selbstverstümmelung eine Haftstrafe von zwei bzw. 3.000 Birr vor. Strengere Strafen durch das Eritreische Strafgesetzbuch von 1991 sind möglich. Abs. 3 der vorgenannten Proklamationsbestimmungen sieht für die Entziehung vom Nationaldienst durch Flucht ins Ausland für den Fall, keine Rückkehr und Ableistung des Dienstes bis zum 40. Lebensjahr stattfindet, eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren bis zum Alter von 50. Jahren sowie ein Verlust bestimmter Rechte vor. Abs. 4 bedroht – vorbehaltlich strengerer Strafen durch das eritreische Gesetzbuch 1991 – jeden Versuch der Verhinderung der Ableistung des Nationaldienstes oder auch schon vor der Registrierung für diesen mit der von Abs. 1 vorgesehenen Strafe (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, U.v. 18.1.2022 – VGH A 13 S 2403/21). In Kriegszeiten beläuft sich das Strafmaß für Desertion auf Haft von fünf Jahren bis lebenslänglich. In schweren Fällen kann auch die Todesstrafe verhängt werden. Im Jahr 2015 wurde ein neues Strafgesetzbuch bekanntgegeben, das in Art. 119 für Desertion in Friedenszeiten Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren, in Kriegszeiten zwischen sieben und zehn Jahren vorsieht. Die Todesstrafe in Fällen der Desertion ist hiernach abgeschafft, jedoch soll das neue Strafgesetz noch keine Anwendung finden (AA an VG Schwerin vom 10.10.2017; AI vom 28.7.2017, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea). Auch wenn das neue Strafgesetzbuch noch keine Anwendung finden soll, sprechen die darin vorgesehenen – auch vergleichsweise – nicht exzessiv ausgestalteten Strafrahmen für die „Entziehung“ vom Militärdienst, die (abgesenkten) Höchststrafen für Pflichtverstöße im Zusammenhang mit der Einberufung in den Nationaldienst und die Abschaffung der Todesstrafe in Fällen der Desertion dagegen, dass der eritreische Staat Verstöße gegen die Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes als einen Akt politischen Widerstands auffasst (OVG Lüneburg U. v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online)
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Auch die tatsächliche Strafpraxis bietet keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass bei der Bestimmung der Strafe für die Entziehung vom Nationaldienst oder Desertion ein „Politmalus“ strafschärfend eingestellt wird.
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Es ist nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass die Bestrafungen in der Regel nicht nach der Gesetzeslage erfolgen, sondern außergerichtlich und willkürlich in einem administrativen Verfahren (AA an VG Schwerin vom 10.10.2017; AI an VG Magdeburg vom 2.8.2018). Die Erkenntnislage zeigt derzeit eine große Bandbreite möglicher Folgen bei der Rückkehr von Personen, die illegal ausgereist sind, um sich dem Nationalen Dienst zu entziehen, nämlich von einer Belehrung und Ableistung des Nationalen Dienstes bis zu Haft (Monaten oder Jahre). Diese Bandbreite spricht nach Ansicht der zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin dafür, dass diese Personen nicht automatisch als Regimegegner eingestuft werden und damit nicht generell einer politischen Verfolgung unterliegen (vgl. auch BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris). Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht daraus, dass die erfolgten Verhaftungen oft willkürlich und ohne Angaben von Gründen erfolgen. Anhaltspunkte für eine politisch motivierte Bestrafung der Wehrdienstentziehung bestehen damit nicht (vgl. AA an VG Schwerin vom 10.10.2017). Selbstverständlich ist es vorstellbar, dass gerade aus der Willkür der Bestrafungen eine politisch motivierte Systematik bzw. Konnotation gefolgert werden könnte. Jedoch fehlt es auch insoweit an tatsächlichen Anhaltspunkten, vielmehr ist Willkür in Eritrea generell weit verbreitet.
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Auch ergeben sich aus den Haftbedingungen keine Anhaltspunkte dafür, dass für die Bestrafung wegen Desertion oder Wehrdienstentziehung ein „Politmalus“ anzunehmen sei, da die Haftbedingungen generell als prekär, unmenschlich und lebensbedrohlich beschrieben werden (vgl. OVG Lüneburg U. v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Auch die Tatsache, dass es während der Inhaftierungen zu Folter und Misshandlungen kommen kann, rechtfertigt keine abweichende Wertung (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris m.w.N; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris). Auch wenn der Einsatz von Folter ein Indiz für den politischen Charakter einer Maßnahme darstellen kann, bleibt er ein Indiz und ermöglicht für sich noch keinen zwingenden Rückschluss auf eine tatsächlich dahingehende subjektive Verfolgungsmotivation, wenn wie hier in der zu treffenden Abwägung der Erkenntnismittel diejenigen überwiegen, die dagegensprechen. Es bedarf daher insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien zur Beurteilung der tatsächlichen Verfolgungsmotivation. Derartige objektive Kriterien können vor allem die tatsächlichen und rechtsstaatlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staates, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des Einzelnen und die Behandlung von Minderheiten sein. Maßgeblich ist, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugung seiner Staatsbürger unbeachtet lässt. Auch die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische motivierte Verfolgung nicht zu begründen. Ausgehend hiervon bestehen – ungeachtet der Umstände, dass der Nationaldienst in Eritrea auch als politisches Projekt u. a. zur Vermittlung einer nationalen Identität verstanden wird und Verstöße in diesem Zusammenhang gegebenenfalls auch mit harten Sanktionen belegt werden – keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass die im Fall der Nationaldienstentziehung bzw. Desertion in Eritrea gegebenenfalls drohende Haftstrafe in Verbindung mit den prekären Haftbedingungen eine Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale aufweist (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
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Gegen die generelle Unterstellung einer Regimegegnerschaft durch den eritreischen Staat spricht schließlich auch, dass die anfängliche Funktion des Nationaldiensts als „Schule der Nation“ in den Hintergrund getreten ist (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Für diese Einschätzung spricht, dass die faktisch unbegrenzte Verpflichtung zur Ableistung des staatlichen National- bzw. Militärdienstes – der im Nachgang zu der Grundausbildung oftmals auch einen Einsatz in der staatlichen Verwaltung umfasst – zuvörderst der Aufrechterhaltung und Sicherung der staatlichen Funktionsfähigkeit dient. Angehörige des Nationaldienstes leisten ihren Dienst nicht allein im eritreischen Militär, sondern auch beim Aufbau von Infrastruktur, etwa beim Straßen- und Dammbau, beim Bau von Wohnungen und öffentlichen Gebäuden sowie in der Landwirtschaft. Angehörige des zivilen Dienstes des Nationaldienstes arbeiten zudem in allen Bereichen der staatlichen Verwaltung und der Wirtschaft (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022 (Stand: November 21), S. 14 ff.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 6 f.). Die gesamte Volkswirtschaft Eritreas und der eritreische Staatsapparat stützen sich auf die Nationaldienstverpflichtung, die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung am ehesten als eine Form staatlichen Zwangsdienstes zur Aufrechterhaltung der staatlichen Strukturen zu charakterisieren ist. Von daher dient der Nationaldienst in Eritrea neben militärischen Verteidigungszwecken vor allem der Förderung der volkswirtschaftlichen Entwicklung und Förderung des Landes, der Steigerung der Gewinne staatsnaher bzw. staatlich unterstützter Unternehmen und der Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eritreische Bevölkerung. Dies wiederum rechtfertigt die Annahme, dass die durchaus empfindliche Bestrafung der Wehr- bzw. Nationaldienstentziehung oder der Desertion allein dazu dient, die bestehende Herrschaftsstruktur zu sichern und insbesondere das auf der Langzeitverpflichtung der eritreischen Staatsbürger beruhende staatliche System am Leben zu erhalten. Insofern dient die Sanktionierung der Wehr- bzw. Nationaldienstentziehung durch den eritreischen Staat auch nicht der Sanktionierung einer tatsächlichen oder unterstellten missliebigen politischen Überzeugung seiner Bürger, sondern der Durchsetzung der Dienstverpflichtungen im Interesse der Systemsicherung (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 10/18 – juris; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris). Auch die vornehmlich auf die Generierung von Staatseinnahmen abzielende Möglichkeit der Diaspora-Steuer spricht für dieses Verständnis (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
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Gegen eine generelle Einstufung als politischer Gegner spricht ferner bereits die hohe Zahl der aus Eritrea Flüchtenden. Es kann nicht unterstellt werden, dass der Staat hinter jedem dieser zahlreichen Flüchtenden eine missliebige politische Überzeugung sieht (vgl. ausführlich, VG Düsseldorf, U.v. 23.3.2017 – 6 K 7338/16.A. – juris). Dem eritreischen Staat ist vielmehr bekannt, dass die übergroße Anzahl der Flüchtenden wegen der prekären und unfreien Lebensbedingungen im Nationaldienst und nicht aufgrund einer regimefeindlichen Gesinnung flieht (vgl. auch VG Potsdam, U.v. 10.10.2017 – VG 3 K 2609/16.A – m.w.N. – juris).
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Vor allem aber spricht gegen eine generelle politische Verfolgung aller Personen, die sich dem Nationalen Dienst entziehen, der derzeitige Umgang der eritreischen Regierung mit freiwilligen – zumindest vorübergehenden – Rückkehrern. Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage der zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin werden die gesetzlichen Bestimmungen für Desertion, Dienstverweigerung und illegale Ausreise derzeit für diese Personen nicht angewandt. Sofern sie sich mindestens drei Jahre im Ausland aufgehalten haben, besteht für die Rückkehrer die Möglichkeit, einen sog. „Diaspora Status“ zu erhalten. Dieser setzt voraus, dass eine Diasporasteuer (2% Steuer) bezahlt wurde und, sofern die nationale Dienstpflicht noch nicht erfüllt wurde, ein sog. „Reueformular“ unterzeichnet wurde. Dieses umfasst auch ein Schuldeingeständnis mit der Erklärung, die dafür vorgesehene Bestrafung anzunehmen. Zahlreiche eritreische Staatsangehörige nutzen den Diaspora-Status für Reisen nach Eritrea zu Urlaubs- und Besuchszwecken. Es existiert daher eine relativ große Personengruppe, die zwischen Eritrea und anderen Ländern hin- und herpendelt und dabei Geld und Konsumgüter ins Land bringt (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 22). Nach offiziellen Angaben reisen jährlich im Durchschnitt 95.000 Auslandseritreer vorübergehend nach Eritrea, eingeschlossen Personen, die sich bereits seit Jahrzehnten im Ausland aufhalten und fremde Staatsangehörigkeiten erworben haben (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 63). Zumindest in der Mehrheit kommt es nach den Erkenntnisquellen des Gerichts zu keiner tatsächlichen Bestrafung (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016). Mit diesem „Diaspora Status“ ist es möglich zeitweise in Eritrea zu bleiben, ohne den Nationalen Dienst ableisten zu müssen. Diese Optionen, die gerade auch für Personen gelten, die sich dem Nationalen Dienst durch die illegale Ausreise entzogen haben, sprechen gegen eine generelle Einstufung als politischer Gegner (vgl. auch BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 7/18 – juris). Ob der Kläger den Diaspora-Status ausreichend sicher erhalten kann und ob ihm die Zahlung der sog. Diaspora-Steuer und eine Unterschrift unter die als Schuldeingeständnis zu wertende „Reueerklärung“ zur Erlangung des Diaspora-Status im Einzelfall abverlangt würde und konkret zumutbar wäre, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend.
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Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich auch nicht aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG im Zusammenhang mit dem Einsatz eritreischer Truppen im Tigray Konflikt in Äthiopien.
52
Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem die Strafverfolgung oder die Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfasst, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG zählen hierzu insbesondere Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen. Auch im Rahmen von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG bedarf es einer Verknüpfung zwischen dem geltend gemachten Verfolgungsgrund – hier: Verfolgung aufgrund der politischen Überzeugung – und der Verfolgungshandlung in Form der Strafverfolgung oder Bestrafung (vgl. EuGH, U. v. 19.11.2020 – C-238/19 – juris; OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Diese Verknüpfung ergibt sich nicht allein daraus, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an diese Verweigerung anknüpfen. Allerdings spricht nach dem oben genannten Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht. Es ist insoweit Sache der zuständigen nationalen Behörden und nicht des Schutzsuchenden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.
53
Der Kläger kann sich vorliegend nicht auf die aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG folgende „starke Vermutung“ der Verknüpfung der Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung mit einer (zugeschriebenen) politische Überzeugung berufen.
54
Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob bereits der sachliche Anwendungsbereich der genannten Vorschrift hier nicht eröffnet ist. Dafür könnte sprechen, dass der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise im Jahr 2018 den Wehrdienst in Eritrea nicht „in einem Konflikt“ im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG hätte leisten müssen, weil damals die Regierung Eritreas noch nicht in die gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Autonomiebestrebungen in der äthiopischen Region Tigray involviert war (OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Dieser Konflikt ist nämlich erst im November 2020 ausgebrochen.
55
Aber selbst dann, wenn auf eine Dienstverweigerung des Klägers bei einer Rückkehr nach Eritrea in heutiger Zeit abgestellt würde, scheidet eine Berufung auf die aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG folgende „starke Vermutung“ einer Verknüpfung der Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung mit einem flüchtlingsrelevanten Merkmal aus. Zum einen ist bereits fraglich, ob derzeit noch ein Konflikt mit eritreischer Beteiligung besteht, da im November 2022 eine Waffenruhe vereinbart wurde. Jedenfalls geht die zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin nicht davon aus, dass Kläger derzeit bei einer hypothetischen Heranziehung zum Nationaldienst „zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich“ (vgl. zu diesem Maßstab EuGH, U.v. 19.11.2020 – C-238/19 – juris) überhaupt zu Kampfhandlungen nach Äthiopien geschickt würde. Auch müsste eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehen, dass der Kläger unmittelbar oder mittelbar an Kriegsverbrechen beteiligt würde, wofür es derzeit ebenfalls an ausreichenden Anhaltspunkten fehlt. Diese Prüfung obliegt den staatlichen Behörden und Gerichten im Einzelfall. Die Tatsachenwürdigung muss sich auf ein Bündel von Indizien stützen, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände – insbesondere der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Klägers – zu belegen, dass die Gesamtsituation die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt (vgl. EuGH, U.v. 19.11.2020 – C-238/19 – juris). Dies ist hier nicht der Fall. Die Situation in der Tigray-Region ist bereits von vornherein nicht mit dem Sachverhalt vergleichbar, der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 – C-238/19 – zugrunde lag. Denn die dort angenommene sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet dazu veranlasst werde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG teilzunehmen, betrifft den Kontext eines – hier nicht vorliegenden – allgemeinen (dort des syrischen) Bürgerkriegs im Herkunftsland des Betroffenen, der durch die wiederholte und systematische Begehung solcher Verbrechen oder Handlungen durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist (vgl. EuGH, U.v. 19.11.2020 – C-238/19). Der Tigray-Konflikt besteht indes nicht auf eritreischem, sondern auf äthiopischem Boden. Wie bereits angemerkt ist auch eine konkrete Verwendung des Klägers im Tigray-Konflikt nicht hinreichend wahrscheinlich. Auch wenn noch eritreische Truppen in Äthiopien sind, ist jedenfalls nicht erkennbar, dass ein überwiegender Teil des eritreischen Militärpersonals in der Tigray-Region zum Einsatz kommt.
56
Es kann auch nicht von einer Verknüpfung der Sanktionierung der Nationaldienstentziehung bzw. Desertion mit dem Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgegangen werden. Auch Deserteure und Personen, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, bilden unter eritreischen Staatsangehörigen keine „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinn der vorstehend genannten Regelungen. Für die Gruppe der Nationaldienstverpflichteten geht das Bundesverwaltungsgericht angesichts der die eritreische Bevölkerung ausnahmslos treffenden Dienstverpflichtung davon aus, dass diese nicht von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris). Für die Gruppe der Personen, die sich dem Wehrdienst entzogen haben oder aus ihm desertiert sind, kann – auch vor dem Hintergrund der massenhaften Begehung dieser Delikte – nichts anderes gelten. Die Strafgesetze, die die Desertion und die Entziehung vom Nationaldienst sanktionieren, treffen ebenfalls unterschiedslos alle eritreischen Staatsangehörigen. Dass diejenigen, die die diesbezüglichen Strafgesetze verletzen, von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würden und daher in Eritrea eine deutlich abgegrenzte Identität hätten, ist nicht erkennbar (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris, OVG Lüneburg U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online)
57
Unabhängig davon, ob für eine Bestrafung vorliegend überhaupt eine beachtliche Wahrscheinlichkeit gesehen wird, liegt damit nach Auffassung der zuständigen Einzelrichterin in den möglichen Sanktionen für eine Wehrdienstverweigerung durch illegale Ausreise ohne Hinzutreten weiterer Umstände keine flüchtlingsrelevante Bestrafung mit politischem Charakter (vgl. auch BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 10/18 – juris; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris; OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Anhaltspunkte für besondere Umstände in der Person des Klägers ergeben sich nicht.
58
Nach der zugrundeliegenden Auskunftslage kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass bereits die illegale Ausreise vom eritreischen Staat als Hochverrat angesehen wird. Die oben genannten Erkenntnisse betreffen gerade Personen, die illegal ausreisten, um sich dem Nationalen Dienst zu entziehen, also beide Tatbestände verwirklichen. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass illegal ausgereisten eritreischen Staatsbürgern allein wegen der Ausreise und einer gegebenenfalls erfolgten Asylantragstellung im Ausland von staatlichen Institutionen Eritreas eine regimekritische Haltung unterstellt wird und dass sie deshalb im Fall der Rückkehr nach Eritrea von relevanten Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG betroffen sein könnten (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris m.w.N.).
59
Auch die bloße Asylantragsstellung in Deutschland begründet ebenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr für den Kläger in Eritrea (AA Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022, Stand: November 2021, S. 21). Gleiches gilt im Hinblick auf eine damit einhergehende Weigerung der Zahlung der sog. Diasporasteuer. Zwar ist grundsätzlich jeder im Ausland lebende Eritreer verpflichtet, zwei Prozent seines Einkommens an den eritreischen Staat abzuführen. In Deutschland lebende eritreische Staatsangehörige müssen diese Steuer jedenfalls entrichten, wenn sie Dienstleistungen des eritreischen Staates in Anspruch nehmen wollen (vgl. auch AA Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022, Stand: November 2021, S. 25 ff.). Anhaltspunkte dafür, dass eine Verweigerung zu anderen Konsequenzen als die Nichterlangung dieser Leistungen führt, sind nicht ersichtlich.
60
Es bleibt daher festzuhalten, dass der Kläger keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung gem. § 3 AsylG hat.
61
Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus.
62
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
63
Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens treten; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.
64
Insoweit gilt auch hier – wie bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft – der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (s.o.). Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor einem ernsthaften Schaden im Rechtssinne begründet ist, ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist es Aufgabe des Gerichts, die zu berücksichtigenden Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu den seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden allgemeinen Erkenntnisse. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung gilt auch bei unsicherer Tatsachengrundlage. In diesen Fällen bedarf es in besonderem Maße einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland; hierauf aufbauend muss das Gericht bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen (OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online m.w.N.). Die beachtliche Wahrscheinlichkeit ist tatbestandliche Voraussetzung für eine Entscheidung zugunsten des Ausländers.
65
Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist (wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG i.V. m. Art. 3 EMRK) aufgrund weitgehend identischer sachlicher Regelungsbereiche auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online m.w.N.). Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR kann eine Abschiebung durch einen Konventionsstaat Fragen nach Art. 3 EMRK aufwerfen, wenn es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (EGMR, U.v. 17.1.2012 – Nr. 8139/09 – NVwZ 2013, 487, 488; OVG Bautzen U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online).
66
Folter ist die absichtliche unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, die sehr ernstes und grausames Leiden hervorruft (EGMR, U.v. 13.12.2012 – Nr. 39630/09 – NVwZ 2013, 631). Für die Entscheidung, ob eine bestimmte Form der Misshandlung als Folter einzustufen ist, muss die Unterscheidung berücksichtigt werden, die Art. 3 EMRK zwischen Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung macht, um Fälle vorsätzlicher Misshandlung, die sehr starke und grausame Leiden verursacht, als besonders schändlich, nämlich als Folter, zu brandmarken (EGMR, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 1330).
67
Eine unmenschliche Behandlung liegt vor, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht hat. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie eine Person – nicht zwingend vorsätzlich – demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt und geeignet ist, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (EGMR, U.v. 21.1. 2011 -Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413). Eine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung setzt voraus, dass die zugefügten Leiden oder Erniedrigungen jedenfalls über das Maß hinausgehen, welches unvermeidbar mit einer bestimmten Form berechtigter Behandlung oder Strafe verbunden ist (EGMR, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 133). Das Mindestmaß ist relativ und hängt von den gesamten Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Wirkungen (EGMR, U.v. 28.2.2008 a. a. O.).
68
Nach diesen Maßstäben kann sich der Kläger zwar nicht auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU berufen (s.o.). Es bestehen jedoch stichhaltige Gründe für die Annahme, dass dem Kläger bei Rückkehr nach Eritrea im Zusammenhang mit einer Heranziehung zum militärischen Bereich des eritreischen Nationaldiensts ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
69
Der nun 20-jährige Kläger ist im dienstpflichtigen Alter (s.o.). Die zuständige Einzelrichterin geht nach realitätsnaher Betrachtung davon aus, dass der Kläger nicht freiwillig nach Eritrea ausreist, sondern im Rahmen einer zwangsweisen Rückführung überstellt werden müsste. Die Annahme scheitert auch nicht daran, dass Eritrea grundsätzlich keine unfreiwilligen Rückkehrer akzeptiert, da es solche in der Vergangenheit dennoch gab (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 23). Sie werden auf individuelle Verhandlungen hin akzeptiert (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 67). Die zur Entscheidung berufene Einzelrichterin sieht es zudem nach den vorliegenden Erkenntnismitteln als beachtlich wahrscheinlich an, dass der Kläger in den militärischen Teil des Nationaldienstes einberufen wird. Auch wenn in der Regel die Rekrutierung über das Schulsystem erfolgt (s.o.) kann nach lebensnaher Betrachtung vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger deshalb nicht einberufen wird, weil er nicht mehr schulpflichtig ist. Es ist vielmehr naheliegend, dass der Kläger bei seiner Rückkehr auch nach seinem Nationaldienststatus befragt wird und er dann als junger Mann mit keiner herausragenden Schulbildung und einer Rückkehr aus dem Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedenfalls zeitnah seinen Nationaldienst im militärischen Bereich ableisten muss. So berichtet EASO unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundenen Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis bei T. zugeführt und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 69). Auch nach Auffassung von SEM deuten alle vorliegenden Informationen darauf hin, dass im Falle zwangsweiser Rückführung ähnlich wie bei einer „giffa“ der Nationaldienststatus überprüft und anschließend wie bei Aufgriffen im Inland verfahren werde (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016), d.h. die Personen üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis verblieben und dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt würden (vgl. auch OVG Lüneburg U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online).
70
Das Aufgebot in den Nationaldienst kann der Kläger nicht durch Erlangung des sog. Diaspora-Status abwenden, da zum einen nicht ausreichend gesichert ist, dass er diesen überhaupt erlangen kann und zum anderen ihm der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes bieten würde, unabhängig davon, ob ihm ein Nachsuchen überhaupt zumutbar ist.
71
Die Erlangung des Diaspora-Status kommt im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea wohl von vornherein nicht in Betracht.
72
Der Diaspora-Satus wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreer angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33). Die Möglichkeit der Erlangung des Diaspora-Statusrichtet sich jedoch nur an freiwillige Rückkehrer (vgl. auch AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 1 f.). Anders als freiwillige Rückkehrer haben zwangsrückgeführte Personen nicht die Möglichkeit, ihren Status gegenüber den Behörden entsprechend zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44).
73
Der Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, die Gefahr Einberufung in den Nationaldienst durch freiwillige Ausreise und Rückkehr unter dem Diaspora-Status nach Eritrea abwenden zu können.
74
Nach übereinstimmender Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht, die in gleicher Weise für das Asylanerkennungsverfahren wie für das Abschiebungsschutzverfahren gilt, bedarf des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland nicht, wer den gebotenen Schutz vor ihr auch im eigenen Land finden (sog. inländische Fluchtalternative, vgl. BVerfG, B.v. 2.7.1980 – 1 BvR 147/80 u.a. – juris; BVerwG, U.v. 6.10.1987 – 9 C 13.87 – juris) oder – in entsprechender Anwendung dieses Grundgedankens – durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris). Eine solche freiwillige Rückkehrmöglichkeit ist bei der Gefahrenprognose im Asyl- und Flüchtlingsrecht folglich mit in den Blick zu nehmen, insbesondere, wenn sich durch eine freiwillige Rückkehr Verfolgungsgefahren vermeiden lassen, die im Falle der zwangsweisen Rückkehr als Abgeschobener infolge der damit verbundenen Vorabinformation und Kontakte zwischen Abschiebestaat und Zielstaat entstehen können.
75
Allerdings ist nach der Überzeugung der zuständigen Einzelrichterin zum einen bereits nicht gesichert, dass der Kläger den Diaspora-Status überhaupt erlangen kann.
76
Um den Diaspora-Status zu erlangen, muss der Auslandseritreer sein Identitätsdokument, den Zahlungsnachweis für die sog. Diaspora-Steuer, d.h. einen Betrag i.H.v. 2% des Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen), das „Reueformular“ und ein Schreiben der zuständigen eritreischen Auslandsvertretung vorlegen, in dem diese ihm einen mehr als dreijährigen Auslandsaufenthalt bestätigt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29). Das „Reueformular“ enthält die Erklärung, dass der Unterzeichnende bedauere, durch die Nichterfüllung des Nationaldienstes ein Vergehen begangen zu haben und dass er bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren. Faktisch gilt außerdem die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller keine regierungskritischen Aktivitäten festgestellt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 64).
77
Zum einen ist anzumerken, dass man den Diaspora-Status nach manchen Quellen überhaupt nur erlangen kann, wenn ein gesicherter Aufenthalt im Ausland vorliegt (vgl. Pro Asyl, Neues Eritrea-Gutachten bestätigt: Verweigerung von Schutz verkennt Realität, 12.10.2022). Im Hinblick auf den auf Auslandseritreer zugeschnittenen Zweck des Diaspora-Status erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass für die Erlangung eine gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland oder ein ausländischer Pass erforderlich sei, um die Möglichkeit, ins Ausland zurückzukehren, nachzuweisen (so auch OVG Bautzen, U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online). Jedenfalls aber ist der Diaspora-Status in erster Linie für Auslandseritreer gedacht, die besuchsweise in ihre Heimat reisen und sich dort kurzzeitig aufhalten möchten. Dies ergibt sich bereits aus der Aussage, dass von Diaspora-Eritreern erwartet wird, dass diese mindestens einmal jährlich ausreisen. Andernfalls könne ihnen der Status entzogen werden, so dass sie wieder als normale Einwohner gelten würden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1. 2022, S. 5 f., 21 f.). Auch das Schweizerische Staatssekretariat für Migration führt aus, dass die Erkenntnisse zum Diaspora-Status sich überwiegend auf temporäre Rückkehrer beziehen; über das Ergehen definitiver Rückkehrer gebe es nur wenige Erkenntnisse (EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016, S. 32; zu diesen Vorbehalten auch ausführlich SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 15.8.2016). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt außerdem aus, dass nach 2002 ausgereiste Personen den Diaspora-Status kaum erhielten, insbesondere gebe es keine Rechtssicherheit (SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 30.9.2018, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, S. 10). Auch das EASO kann für die Gruppe der „dauerhaft Einreisenden“ nur wenige, mit Vorsicht zu behandelnde Quellen nennen (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65). Vor dem Hintergrund, dass der eritreische Staat den Diaspora-Status vor allem deshalb „anbietet“, um sich eine überlebenswichtige Finanzierungsquelle zu erhalten, kann angenommen werden, dass dieser Status für permanente Rückkehrer nicht oder nur unter eingeschränkten Bedingungen eröffnet wird, da diese Personen zukünftig nicht mehr als ausländische Finanzierungsquelle zur Verfügung stehen. Zu beachten ist schließlich, dass aufgrund der dargestellten Willkür des eritreischen Regimes schon keine Sicherheit besteht, selbst bei Erfüllen der genannten Voraussetzungen den Diaspora-Status zu erhalten. Auch die Behörden ändern ihre Praxis immer wieder willkürlich (vgl. VG Bremen, B.v. 13.12.2021 – 7 K 2745/20 – beck-online m.w.N; a.A OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online).
78
Vor diesem Hintergrund kann der Kläger den Diaspora-Status bereits nicht mit ausreichender Sicherheit erlangen. Der Kläger hat zwar einen Schutzstatus in Ungarn, allerdings keinen Flüchtlings- oder subsidiären Schutzstatus in Deutschland und im streitgegenständlichen Bescheid wurde die Abschiebung nach Eritrea angedroht. Da eine Überstellung nach Ungarn rechtskräftig als unzulässig entschieden wurde, kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger der Nachweis einer Rückkehrmöglichkeit ins Ausland erbringen könnte und seine Rückkehr ist nicht nur vorübergehend.
79
Aber selbst wenn man annimmt, dass der Kläger bei einer freiwilligen Rückkehr den Diaspora-Status jedenfalls zunächst erlangen könnte, ist fraglich ob ihm ein Nachsuchen des Diaspora-Status zumutbar ist.
80
Problematisch ist hierbei die Unterzeichnung der „Reueerklärung“, in der bedauert wird, seine Dienstpflicht nicht erfüllt zu haben und erklärt, eine dafür verhängte Strafe zu akzeptieren. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass die „Reueerklärung“ von allen Eritreern unterzeichnet werden muss, die das Land illegal verlassen haben und den Nationaldienst nicht geleistet oder abgeschlossen haben. EASO stellt im Hinblick auf den Vorwurf der Dienstpflichtverletzung unmissverständlich klar, dass von dem Erfordernis der Unterzeichnung des „Reueformulars“ nur Personen befreit seien, die vom Nationaldienst ausgenommen sind oder die den Dienst bereits abgeschlossen haben (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 60 f.).
81
Nach Art. 10 Abs. 1 der Proklamation Nr. 24/1992 issued to regulate the issuing of travel documents, entry and exit visa from Eritrea, and to control residence permits of foreigners in Eritrea (im Folgenden: Proklamation Nr. 24/1992, abrufbar in englischer Sprache unter http://www.r... kann keine Person Eritrea über andere Stellen verlassen als über die vom Sekretär für innere Angelegenheiten genehmigten. Nach Art. 11 der Proklamation Nr. 24/1992 kann niemand Eritrea verlassen, wenn er nicht im Besitz eines gültigen Reisedokuments, eines gültigen Ausreisevisums und eines gültigen internationalen Gesundheitszeugnisses ist. Die vorgenannten Voraussetzungen für eine legale Ausreise muss jede Person, unabhängig von dem Alter, erfüllen.
82
Zwar war der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise noch nicht im dienstpflichtigen Alter und er konnte mit einem Visum ausreisen. Die Einheit mit der Disporasteuer, die Tatsache, dass der Kläger jedenfalls keinen Nationaldienst bislang geleistet hat, die willkürliche Vorgehensweise des eritreischen Staates und mögliche Nachweisschwierigkeiten dürften es jedenfalls nicht völlig ausschließen, dass auch im Falle des Klägers, die Unterzeichnung des „Reueformulars“ verlangt wird (vgl. zu einer Ausreise im Kleinkindalter OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online).
83
Geht man davon aus, dass eine „Reueerklärung“ gefordert wird, wäre ein Verweis auf die freiwillige Ausreise unter Diasporastatus bereits unter diesem Aspekt wohl unzumutbar.
84
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Kontext der Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 5 Abs. 1 AufenthV entschieden, dass die Abgabe der „Reueerklärung“ unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, im Hinblick auf die darin enthaltene Selbstbezichtigung weder eine zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine zumutbare staatsbürgerliche Pflicht sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Vom Herkunftsstaat geforderte Mitwirkungshandlungen seien dem Betroffenen gegen seinen Willen nur zuzumuten, wenn sie mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar seien. Dies sei bei der „Reueerklärung“ nicht der Fall. Die Verknüpfung einer Selbstbezichtigung mit der Ausstellung eines Reisepasses entferne sich so weit von einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, dass der Betroffene sich darauf gegen seinen Willen nicht verweisen lassen müsse. Es sei weder ein legitimes Auskunftsinteresse des eritreischen Staats erkennbar noch sei ersichtlich, dass die von den eritreischen Auslandsvertretungen praktizierte Voraussetzung im eritreischen Recht irgendeine formelle Grundlage hätte (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Mit der Erklärung sei eine rechtsstaatliche Grenzen nicht einfordernde Unterwerfung unter die eritreische Strafgewalt verbunden und werde ein Loyalitätsbekenntnis zu dem eritreischen Staat abgefordert, das dem Betroffenen gegen seinen ausdrücklichen Willen nicht zumutbar sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Das Bundesverwaltungsgericht führte weiter aus, dies gelte umso mehr, als es in Eritrea nach den erstinstanzlichen Feststellungen kein rechtsstaatliches Verfahren gebe (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Angesichts der dem eritreischen Staat attestierten gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgung könne ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr müsse der Betroffene unter den beschriebenen Umständen (willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis) kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und sei allein der – nachvollziehbar bekundete – Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Betroffene plausibel darlegt, dass er zu der Selbstbezichtigung freiwillig nicht bereit sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris).
85
Die – in Anwendung ausländerrechtlicher Vorschriften über die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer ergangene – Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auf die hier unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität des Asylrechts anzustellenden Zumutbarkeitsprüfung im Hinblick auf die Abgabe der „Reueerklärung“ als ein dem Asylantragsteller zumutbares Verhalten zur Gefahrenabwehr (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris) nach Ansicht der zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin auch für die vorliegende Konstellation eine gewisse Aussagekraft. Denn sie betrifft im Kern die Frage, ob die Abgabe der „Reueerklärung“ wegen der darin enthaltenen Selbstbezichtigung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23; a.A. OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG). Daran muss sich die Zumutbarkeit der Abgabe der „Reueerklärung“ auch im hier vorliegenden asylrechtlichen Kontext messen lassen.
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Ausgehend hiervon spricht viel dafür, dass die Abgabe dieser „Reueerklärung“ unzumutbar ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Auswärtigen Amtes im aktuellen Lagebericht, wonach der Text als Ermahnung zu verstehen sei und keine Rechtsnachteile für den Unterzeichner mit sich bringe (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022 (Stand: November 2021), S. 25). Zwar scheint für eine Zumutbarkeit zu sprechen, dass viele Eritreer diese Erklärung unterschreiben und unter Ausnutzung des Status vorübergehend nach Eritrea reisen und dies in der Regel auch unbehelligt tun können. Allerdings lassen sich hieraus keine zwingenden Rückschlüsse auf eine permanente Rückkehrsituation treffen. Hier fehlen solche Erfahrungswerte gerade. Auch ist die Zumutbarkeit vor dem Hintergrund des willkürlichen Verhaltens und der fehlenden Rechtsstaatlichkeit Eritreas zu sehen. Ob eine Unzumutbarkeit generell angenommen werden kann, oder ob der Betroffene seine Ablehnung plausibel bekunden muss, kann dahinstehen, da der Kläger vorliegend geäußert hat, dass er eine Diktatur nicht unterstütze. Dies ist ein nachvollziehbarer Grund.
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Im Hinblick auf dieses Erfordernis ist zudem anzumerken, dass das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.10.2022 (Az.: 1 C 9.21) zwar äußerte, dass jedenfalls gegen den geäußerten Willen eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“ vom Ausländer nicht verlangt werden könne. Diese Entscheidung betraf jedoch eine Person mit zuerkanntem Schutzstatus im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit der Passbeschaffung, nicht die Frage der Zumutbarkeit der Unterzeichnung im Zusammengang mit einer straffreien Rückkehr. Wird selbst in diesem Fall eine Unzumutbarkeit jedenfalls gegen den Willen angenommen, spricht einiges dafür, dass eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“, um eine möglicherweise straffreie Rückkehr nach Eritrea zu erreichen vor dem Hintergrund der Willkürlichkeit des Vorgehens des eritreischen Staats nicht verlangt werden kann, unabhängig davon, ob dies von Klägerseite ausdrücklich abgelehnt wurde (abstellend auf eine ausdrückliche Ablehnung wohl OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online; für eine Zumutbarkeit OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG – beck-online). Im Übrigen wurde im angesprochenem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sogar ausdrücklich offen gelassen, ob es einem subsidiär Schutzberechtigten generell schon dann unzumutbar ist, sich bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates um die Erteilung eines nationalen Passes zu bemühen, wenn ihm der subsidiäre Schutzstatus aufgrund einer gezielten Bedrohung durch staatliche Behörden (im Unterschied zu drohender willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder einer Bedrohung durch private Akteure, gegen die der Staat keinen wirksamen Schutz gewährt) zuerkannt worden ist. Auch dies spricht dafür, dass es, wenn es um die Frage einer möglichen Bestrafung durch den Staat oder die Einberufung in den Nationaldienst geht, jedenfalls im Falle eines oft willkürlich agierenden Staates wie Eritrea generell unzumutbar ist, gerade diese Straftat schriftlich anzuerkennen.
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Aber selbst wenn man unterstellt, dass die Möglichkeit des Diasporastatus zur Verfügung steht und die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ dem Kläger nicht abverlangt würde oder dies zumutbar wäre, bietet der Disapora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes.
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Es ist nach der derzeitigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass permanente Rückkehrer – je nach „Arrangement zwischen dem Rückkehrer und der eritreischen Regierung vor der Rückkehr – jedenfalls nach einer „Probezeit“ von sechs bis zwölf Monaten zum Nationaldienst eingezogen werden können (EASO, Eritrea, September 2019, S. 65, SFH, Eritrea: Rückkehr, 19. September 2019, S. 4 f., DIS, Country Report, Januar 2020, S. 30). Sie können (wieder) in den Nationaldienst einberufen werden und werden unter Umständen für Desertion, Dienstverweigerung oder illegale Ausreise bestraft. Nach anderen Quellen liegt die Schutzwirkung bei einem bis drei Jahren (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33) bzw. bis zu sieben Jahren (DIS, Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 36). Gegen diese zeitliche Begrenztheit einer Schutzwirkung sprechen auch nicht die Aussagen, dass die große Mehrheit der Personen, die ihr Verhältnis zu dem eritreischen Staat durch den Diaspora-Status „bereinigt“ haben, tatsächlich (zunächst) nicht strafrechtlich verfolgt bzw. in den Nationaldienst aufgeboten werden (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22, 34; AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020), da diese Aussage sich ausreichend gesichert nur auf temporäre Rückkehrer bezieht. Denn nur für diese Gruppe gibt es bislang aussagekräftige Erfahrungswerte (s.o.).
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Die zuständige Einzelrichterin geht auch nicht davon aus, dass die Erlangung des genannten Status und der damit einhergehende zeitweise Schutz, nicht in den Nationaldienst einberufen zu werden, dazu führt, dass eine Einberufung nicht mehr im erforderlichen, ausreichenden zeitlichen Zusammenhang mit der Rückkehr zu sehen ist (so auch VG Magdeburg, U.v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online, VG Köln, U.v. 20.4.2023 – 8 K 14995/17.A – beck-online in Bezug auf Einberufungsgefahr; a.A. OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online). Zwar ist bei der erforderlichen Prognose ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Rückkehr und der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erforderlich. Allerdings handelt es sich hier jedenfalls bei sechs und zwölf Monaten nicht um einen unüberschaubaren Zeitraum, der zu einer Unsicherheit bezüglich der Gefahr führt. Im Hinblick auf die lange bestehende Situation in Eritrea erscheint vielmehr eine Änderung der Situation im Nationaldienst und seiner Einberufungspraxis auch in diesem absehbaren Zeitraum derzeit als nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch, dass andere Quellen von einem längeren Schutz sprechen (s.o.) führt vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Willkür, die in Eritrea herrscht, nicht zu einer anderen Einschätzung, sondern spricht vielmehr gegen einen Verlässlichkeit des Schutzes. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer freiwilligen Rückkehr mit einem „Diaspora-Status“ jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in dem erkannt wird, dass keine Rückkehr ins Ausland erfolgt, der Kläger damit rechnen muss, wie ein normaler Inländer behandelt zu werden, und damit auch einberufen zu werden. Im Hinblick darauf, dass grundsätzlich eine jährliche Ausreise gefordert wird, erscheint damit eine Einberufung jedenfalls nach einem Jahr als beachtlich wahrscheinlich, auch wenn längere „Probezeiten“ möglich sind.
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Zudem bezieht sich der allgemeine – nicht auf Abschiebungsverbote beschränkte Maßstab – der Verschlechterung in absehbarer Zeit vorliegend – anders als bei Fällen, in denen die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Fokus steht – nicht lediglich auf das enge zeitlichen Umfeld nach einer hypothetischen Abschiebung nach Eritrea. Vielmehr sind bei der Ausfüllung des Maßstabs auch sonstige Rückkehrmodalitäten, die bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung feststehen und voraussehbar, mithin nicht erst zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt zu befürchten sind, in den Blick zu nehmen (vgl. VG Magdeburg Urt. v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online). Hierfür spricht auch, dass nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – beck-online) auch im Zusammenhang mit einer Überstellung nach der Dublin-III-VO auch die Zustände für Anerkannte im Überstellungsstaat in den Blick zu nehmen sind. Die Situation scheint bei einem überschaubaren Zeitraum und grundsätzlich einschätzbarer Entwicklung auch für eine Überstellung in den Herkunftsstaat vergleichbar, so dass ein nur zeitlich für 6 bis 12-monatiger Aufschub des Nationaldienstes, der möglicherweise durch einen Diaspora-Status erreicht werden kann, nicht geeignet ist, die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auszuschließen. Es ist damit auch hier bereits die Situation in den Blick zu nehmen, in der Rückkehrer wieder wie ein normaler Inländer betrachtet würde.
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Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Kläger – unabhängig von der Frage, ob ihm eine „Reueerklärung“ abverlangt würde oder ihm diese zumutbar wäre – jedenfalls nicht auf eine freiwillige Ausreise unter dem Diaspora-Status verwiesen werden kann, da er diesen wohl weder gesichert erlangen kann und er ihn jedenfalls nicht vor der beachtlichen Gefahr einer alsbaldigen Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes ausreichend schützen würde.
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Bei einer Einberufung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes droht dem Kläger ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
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Der Kläger hätte bei einer Einberufung mindestens eine sechsmonatige militärische Ausbildung zu durchlaufen. Auch eine weitere Verwendung im Militär ist beim Kläger beachtlich wahrscheinlich (s.o.). Dies gilt auch für den Fall einer freiwilligen Rückkehr.
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Rekruten im militärischen Bereich des Nationaldienstes werden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im oben genannten Sinne. Nach der Erkenntnislage sind die Arbeitsbedingungen jedenfalls im militärischen Bereich des Nationaldienstes extrem hart. Militärische Kommandanten haben fast unbeschränkt Macht über ihre Untergebenen. Es sind keine Regeln oder Richtlinien bekannt, welche die Befugnisse der Kommandanten, die Behandlung der Untergebenen oder Maßnahmen gegen Machtmissbrauch regeln würden. Bestrafungen für fehlende Disziplin, wozu auch gehört, wenn jemand Übungen nicht richtig lernt, sind häufig drakonisch und willkürlich. Berichten zufolge werden die Dienstpflichtigen geschlagen oder für Stunden oder Tage gefesselt. Militäreinheiten haben eigene Gefängnisse, in welchen die Bedingungen prekär sind. Einige Gefängnisse sind unterirdisch oder in Schiffscontainern. Sie sind häufig überfüllt, Hygiene, Medizin und Ernährung sind problematisch (vgl. EASO: Eritrea Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 40 f.). Auch wenn es keine Hinweise darauf gibt, in welchen Ausmaß und wie systematisch solche Härten vorkommen, geht das Gericht auch unter Berücksichtigung des grundsätzlich willkürlichen Verhaltens des eritreischen Staates davon aus, dass es sich nicht nur um unbeachtliche Einzelfälle handelt, sondern eine beachtliche Wahrscheinlichkeit (real risk) anzunehmen ist. Nach dem Bericht der SFH „Eritrea: Nationaldienst“ vom 30.6.2017 werden dienstleistende Personen geschlagen, in Helikopter-Position aufgehängt, der glühenden Sonne oder klirrender Kälte ausgesetzt. Das Gericht geht nach alledem von einer beachtlichen Gefahr für eine erniedrigende Behandlung bei einer zu erwartenden Einberufung des Klägers in den militärischen Bereich des Nationaldienstes aus (vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.8.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online; OVG Bautzen, U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online; VG Magdeburg, U.v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MDE – beck-online; VG Bremen, B.v. 13.12.2021 – 7 K 2745/20 – beck-online), VG Münster, U.v. 12.4.2021 – 9 K 3018/17.A – beck-online; VG Bremen, U.v. 23.2.2021 – 7 K 436/19 – beck-online; VG Bremen, U.v. 23.2.2021 – 7 K 445/19 m.w.N. – beck-online; VG Wiesbaden, GB v. 11.3.2021 – 5 K 1405/17.WI.A – n.v.; VG Düsseldorf, U.v. 7.11.2019 – 6 K 1503/19.A – juris; a.A. VG Schleswig, U.v. 22.10.2018 – 3 A 365/17 – juris; BVerwG Schweiz, U.v. 10.7.2018 – E-5022/2017).
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Nach alledem hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes auf Grund der Einberufungsgefahr in den militärischen Bereich des Nationaldienstes. Es kann daher vorliegend dahinstehen, ob der Kläger zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Inhaftierung wegen Wehrdienstentziehung rechnen muss.
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Nicht entscheidungserheblich war vorliegend auch die Frage, ob dem Kläger ein Anspruch auf subsidiären Schutz – wie von Klägerseite vorgetragen – bereits deshalb zukommt, weil er in Ungarn diesen Status erhalten hat. Dies ist derzeit Gegenstand der Vorlagebeschlüsse des BVerwG vom 7.9.2022 (1 C 26/21) und des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 2.5.2023 (A 7 K 6645/22) zum Europäischem Gerichtshof.
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Auf die Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamts wird im Übrigen Bezug genommen, § 77 AsylG.
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Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b Asyl nicht erhoben.
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Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.