Titel:
Verbot des Inverkehrbringens, Kennzeichnungsmängel, Health-Claims-Verordnung, Nährwertbezogene Angabe („leicht“), Unzureichende Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung, Erfolgreicher Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4
VwGO § 80 Abs. 3
VO (EG) Nr. 1924/2006 Art. 2 Abs. 2 Nr. 4
VO (EG) Nr. 1924/2006 Art. 8 Abs. 1
VO (EG) Nr. 1924/2006 Art. 4 Abs. 3
VO (EU) Nr. 1169/2011 Art. 22
VO (EU) 2017/625 Art. 138 Abs. 1
VO (EU) 2017/625 Art. 138 Abs. 2 Buchst. d)
Leitsatz:
In den Fällen des § 80 II 1 Nr. 4 VwGO hat die Behörde die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80 III 1 VwGO besonders zu begründen. Dabei rechtfertigt allein das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes regelmäßig nicht die Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 II 1 Nr. 4 VwGO. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verbot des Inverkehrbringens, Kennzeichnungsmängel, Health-Claims-Verordnung, Nährwertbezogene Angabe („leicht“), Unzureichende Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung, Erfolgreicher Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, Sofortvollzug
Fundstellen:
BeckRS 2023, 303
LMuR 2023, 317
LSK 2023, 303
Tenor
I. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Ziffer II des Bescheides des Antragsgegners vom 15. November 2022 (Az.: …) wird aufgehoben.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 60.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Streitgegenständlich ist das durch den Antragsgegner für sofort vollziehbar erklärte Verbot vom … November 2022, das Produkt „A. …“ der Antragstellerin aufgrund von Kennzeichnungsmängeln in den Verkehr zu bringen.
2
Dieses Produkt wurde nach einer Probenahme am … März 2022 in … W. … vom Niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit mit Gutachten vom … Mai 2022 aufgrund von Kennzeichnungsmängeln beanstandet. Bei der Angabe „lecker leichte Erdbeerverführung“ in der Etikettierung handele es sich um eine nährwertbezogene Angabe nach Art. 2 Abs. 2 Nr. 4 der VO (EG) Nr. 1924/2006 (Health-Claims-Verordnung). Nährwertbezogene Angaben dürften nach Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung nur gemacht werden, wenn sie im Anhang aufgeführt seien und den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen entsprächen. Bei Getränken mit einem Alkoholgehalt von mehr als 1,2 Volumenprozent seien gemäß Art. 4 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 1924/2006 nur nährwertbezogene Angaben (hier die Angabe „leicht“) zulässig, die sich auf einen geringen Alkoholgehalt oder eine Reduzierung des Alkoholgehalts oder eine Reduzierung des Brennwerts beziehen würden. Die Angabe, der Gehalt an einem oder mehreren Nährstoffen sei reduziert worden, sowie jegliche Angabe, die für den Verbraucher voraussichtlich dieselbe Bedeutung habe, sei nur zulässig, wenn die Reduzierung des Anteils mindestens 30% gegenüber einem vergleichbaren Produkt ausmache, was auf das beanstandete Produkt nicht zutreffe. Da in der Etikettierung durch die Angabe „super fruchtige Erdbeeren […] und Sahne […]“ sowie die Abbildung einer in Milch/Sahne fallenden Erdbeere die Zutaten Erdbeeren und Sahne in Wort und Bild hervorgehoben würden, sei zudem nach Art. 22 der VO (EU) Nr. 1169/2011 bei dem zusammengesetzten Lebensmittel (A. ...) die Angabe der Menge einer bei der Herstellung verwendeten Zutat oder Zutatenklasse erforderlich, die ebenfalls auf der Etikettierung fehle.
3
Nachdem dieser Prüfbericht vom … Mai 2022 dem Antragsgegner mit Schreiben des Fachdienstes Verbraucherschutz und Veterinärwesen der Region H. … vom … Juni 2022 mit der Bitte um weitere Veranlassung in eigener Zuständigkeit übersandt worden war, leitete der Antragsgegner mit als „Belehrung wegen einer Beanstandung von „A. ...“ bezeichnetem Schreiben vom … Juli 2022 diesen Prüfbericht an die Antragstellerin weiter mit der Bitte, die in dem Gutachten genannten Beanstandungen, sofern noch nicht geschehen, unverzüglich zu beheben und zukünftig die einschlägigen Vorschriften für Lebensmittel zu beachten. Zugleich wurde die Möglichkeit gegeben, sich bis zum 5. August 2022 zu den festgestellten Verstößen zu äußern, und darauf hingewiesen, dass dann, wenn die in dem Gutachten aufgeführten Mängel künftig wieder festgestellt werden würden, ein Auflagenbescheid mit Zwangsgeldandrohung ergehen könne, um den Zweck der Einhaltung der lebensmittelrechtlichen Vorschriften sicherzustellen.
4
Mit E-Mail vom … August 2022 sicherte die Qualitätsmanagerin der S. ... AG, Frau S., zu dessen Konzernverbund die Antragstellerin gehört, dem Antragsgegner gegenüber zu, bei der nächsten Etikettenneuauflage den Begriff „leichte“ nicht mehr zu verwenden und den Anteil an Erdbeersaft zukünftig auszuloben. Im Hinblick auf die mengenmäßige Angabe des Sahneanteils wurde keine Notwendigkeit für eine Auslobung gesehen, da der Verbraucher seine Entscheidung für die Wahl eines Sahnelikörs nicht anhand des Sahneanteils treffe.
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Der Antragsgegner erklärte sich mit E-Mail vom 8. August 2022 mit der geplanten Änderung einverstanden, verbunden mit der Bitte, die Änderung des Etiketts alsbald als möglich durchzuführen, damit der Vertrieb zügig auf die neuen Etiketten umgestellt werden könne.
6
Hierauf teilte Frau S. mit E-Mail vom … August 2022 mit, dass momentan bei der Erstellung von Etiketten mit einem Lieferzeitraum von mindestens 12 Wochen zu rechnen sei. Damit die Lieferfähigkeit garantiert werden könne und um eine „out-of-stock“ Situation zu verhindern, sei die nächste Abfüllung für September geplant. Zurzeit befänden sich 160.000 Rückenetiketten auf Lager. Diese würden bereits einen QR-Code tragen, über den auf die sogenannte U-Label-Datenbank zugegriffen werden könne. Dort sei bereits das Zutatenverzeichnis hinterlegt, in dem die QUID-Angabe für den Erdbeeranteil ergänzt worden sei. Aufgrund des materiellen Werts der Rückenetiketten werde gebeten, diese aufbrauchen zu dürfen.
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Mit E-Mail vom … August 2022 übersandte Frau S. dem Antragsgegner den Entwurf des angepassten Rückenetiketts, das dieser nach interner Rücksprache und Überprüfung mit E-Mail vom 16. August 2022 freigab, da es den rechtlichen Anforderungen entspreche.
8
Mit E-Mail vom … August 2022 teilte Frau S. dem Antragsgegner mit, dass die nächste Abfüllung für den September geplant sei. Damit die Antragstellerin nicht „out-of-stock“ käme, müssten für eine Gesamtmenge von 60.000 Flaschen noch die aktuellen Etiketten zum Einsatz kommen. Von den 60.000 Flaschen würden 10.000 in die USA exportiert werden und 50.000 in andere Länder, geschätzt 25.000 für Deutschland und 25.000 für Export-Märkte, je nach Auftragslage. Nach dieser Abfüllung würden die aktuellen Etiketten nicht mehr für den deutschen Markt zum Einsatz kommen. Voraussichtlich Januar/Februar 2023 werde die nächste Abfüllung stattfinden. Zu dieser Abfüllung würden dann fristgerecht die neuen Etiketten bestellt werden. Aus Nachhaltigkeits- und Kostengründen solle gebündelt bestellt werden; mit einer Lieferdauer von drei Monaten sei zu rechnen.
9
Daraufhin äußerte sich der Antragsgegner mit E-Mail vom 5. September 2022 dahingehend, dass das Gesetz bezüglich der Etiketten im Hinblick auf gesundheitsbezogene Angaben keine Ausnahmen (für die Verwendung des Restbestandes an Etiketten) zulasse. Einer Verwendung des Restbestandes der Etiketten für weitere Abfüllungen könne somit leider nicht zugestimmt werden.
10
Mit weiterer E-Mail vom … September 2022 führte Frau S. aus, dass ein sofortiger Verkaufsstopp, der keine Möglichkeit eines Abverkaufs einräume, unverhältnismäßig sei. Mit Schreiben vom … Juli 2022 sei lediglich eine Belehrung wegen einer Beanstandung ausgesprochen worden. Auch in diesem Schreiben sei die Behörde nicht davon ausgegangen, durch den angeblichen Verstoß gegen die Health-Claims-Verordnung zwingend zu einem sofortigen Verkehrsverbot der Ware gezwungen zu sein. In Anbetracht dessen und vor dem Hintergrund, dass das Verbraucherwohl durch die geringfügigen Kennzeichnungsmängel nicht bedroht sei und keine Schäden für die Verbraucher drohen würden, werde nochmals gebeten, die ersuchte Aufbrauch- und Umstellungsfrist zu gewähren. Zugleich werde dem Vorwurf des Verstoßes gegen die Health-Claims-Verordnung dem Grund nach widersprochen. Bei einer Auslobung „leicht“ handele es sich um keine gesundheitsbezogene, sondern allenfalls um eine nährwertbezogene Angabe. Eine solche müsse eine positive Nährwerteigenschaft hervorheben, um als nährwertbezogene Angabe qualifiziert werden zu können. Zudem müsse sich die Angabe auf eine Nährwerteigenschaft beziehen und dürfe nicht allein auf den Geschmack des Erzeugnisses gerichtet sein. Die zitierte Auslobung beziehe sich allein auf den lecker leichten Erdbeergeschmack des Erzeugnisses, ohne eine Nährwerteigenschaft des Erzeugnisses in Bezug zu nehmen. Es werde gerade nicht eine fett- oder zuckerreduzierte Variante des Erzeugnisses ausgelobt, sondern das Attribut „leicht“ werde im Rahmen einer werblichen Geschmacksanpreisung verwendet. Ungeachtet dessen werde - wie bereits angekündigt - die Etikettierung des Produkts entsprechend geändert und künftig auf das Attribut „leicht“ verzichtet.
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Mit E-Mail vom 19. September 2022 teilte der Antragsgegner mit, dass als geeignete Maßnahme zur Abhilfe des im Gutachten vom … Mai 2022 festgestellten Verstoßes nach Art. 138 Abs. 1 Buchst. b) i.V.m. Abs. 2 der VO (EU) 2017/625 die bereits erfolgte Aufforderung zur Änderung der Kennzeichnung diene oder zusätzlich eine Beschränkung oder ein Verbot des Inverkehrbringens unter diesem Etikett. Ebenfalls als mildere Maßnahme zum Verbot des Inverkehrbringens wäre aus Sicht der Behörde auch eine Unkenntlichmachung der nährwertbezogenen Angabe „leichte“ vertretbar. Somit könnten die restlichen, aber überarbeiteten Etiketten verwendet und ein „out-of-stock-Laufen“ verhindert werden. Nicht möglich sei jedoch, bei der nächsten Abfüllung weiterhin die beanstandeten Etiketten zu verwenden, da damit weiterhin der Vorschrift des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 der VO (EG) Nr. 1924/2006 zuwidergehandelt werden würde.
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Daraufhin zeigten mit Schreiben vom … Oktober 2022 die Bevollmächtigten der Antragstellerin dem Antragsgegner gegenüber deren Vertretung an und nahmen zur erteilten Belehrung vom … Juli 2022 und der daraufhin geführten E-Mail-Korrespondenz mit Frau S. Stellung. Bei der streitgegenständlichen Auslobung „super-fruchtige Erdbeeren, leckerer Vodka und Sahne verfeinert sich zu einer lecker-leichten Erdbeer-Verführung“ handele es sich weder um eine gesundheitsbezogene noch um eine nährwertbezogene Angabe. Eine nährwertbezogene Angabe müsse eine positive Nährwerteigenschaft hervorheben, um als nährwertbezogene Angabe im Sinne der Health-Claims-Verordnung qualifiziert werden zu können. Der Bundesgerichtshof fordere für eine nährwertbezogene Angabe, dass durch die Auslobung für den Durchschnittsverbraucher der Eindruck entstehe, dass das so bezeichnete Getränk wegen einer in ihm enthaltenen Substanz besonders positive Nährwerteigenschaften aufweise. Vorliegend lobe die Antragstellerin aus, dass sich verschiedene Zutaten in dem Getränk „A. ...“ zu einer „lecker-leichten Erdbeer-Verführung“ zusammenfügen. Die Auslobung nehme weder Inhaltsstoffe des streitgegenständlichen Erzeugnisses in Bezug noch würden positive Nährwerteigenschaften ausgelobt. Wie bereits im Rahmen des E-Mail-Verkehrs von der Antragstellerin dargelegt worden sei, seien die beanstandeten Ausführungen lediglich geschmacksbezogen. Ungeachtet dessen habe die Antragstellerin angeboten, die Kennzeichnung des Produkts künftig derart zu überarbeiten, dass das Attribut „leicht“ - ohne Anerkennung einer Rechtspflicht - nicht mehr verwendet werde. Ein sofortiger Verkaufsstopp entbehre nicht nur der erforderlichen rechtlichen Grundlage, sondern hätte auch zur Folge, dass die Antragstellerin „out-of-stock“ laufen würde und die gegenüber ihren Kunden eingegangenen Lieferverpflichtungen nicht länger würde erfüllen können. Die hieraus resultierenden Wirtschaftsschäden wären auch mit Blick auf einen (fiktiven) Verstoß gegen die Health-Claims-Verordnung unverhältnismäßig. In Anbetracht des Vorstehenden werde davon ausgegangen, dass sich der Vorgang erledigt habe. Die Bestellung der neuen Etiketten sei vor wenigen Tagen abgesetzt worden. Altbestände würden bis zur Lieferung der neuen Etiketten verwendet werden, wobei bereits ausgelieferte Bestände mit altem Etikett nicht zurückgerufen würden. Sollte an der vom Antragsgegner bisher vertretenen Rechtsauffassung festgehalten werden, werde um Erlass eines rechtsmittelfähigen Bescheides gebeten, um den Vorgang unverzüglich einer gerichtlichen Klärung zuführen zu können.
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Aufgrund einer weiteren Probenahme am … November 2022 durch den Antragsgegner kam das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit mit Gutachten vom … November 2022 zu dem Ergebnis, dass die Hervorhebung der Zutaten „Erdbeere“ und „Sahne“ durch Worte und Bilder in der Etikettierung des Erzeugnisses eine Verpflichtung zur mengenmäßigen Kennzeichnung dieser Zutaten gemäß Art. 22 Abs. 1 der VO (EU) Nr. 1169/2011 auslöse; aufgrund der fehlenden Mengenkennzeichnung der Zutaten „Erdbeere“ und „Sahne“ entspreche die eingesandte Probe nicht den Vorschriften des Art. 22 Abs. 1 der VO (EU) Nr. 1169/2011. Auch bezüglich der Einstufung der Angabe „lecker-leichte Erdbeerverführung“ als eine bei Spirituosen unzulässige nährwertbezogene Angabe nach Art. 4 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 1924/2006 wurde mit dem Prüfbericht des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit vom … Mai 2022 übereingestimmt.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 15. November 2022, den Bevollmächtigten der Antragstellerin zugestellt am 22. November 2022, untersagte der Antragsgegner das Inverkehrbringen des „A. ...“ mit dem beanstandeten Rückenetikett des Gutachtens des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit vom …05.2022 für den europäischen Raum (Ziffer I), ordnete die sofortige Vollziehung der Ziffer I des Bescheides an (Ziffer II) und drohte für den Fall, dass der in Ziffer I geforderten Unterlassungspflicht nicht sofort nach Zustellung des Bescheides nachgekommen wird, ein Zwangsgeld in Höhe von 10.000,00 EUR an (Ziffer III). Die festgestellten Kennzeichnungsmängel (betreffend die Auslobung „lecker-leichte Erdbeerverführung“) und die fehlende Mengenangabe in Bezug auf die Zutat Erdbeeren würden ein Einschreiten des Antragsgegners nach Art. 138 Abs. 1 der VO (EU) 2017/625 zwingend erforderlich machen. Das Verbot des Inverkehrbringens stütze sich auf Art. 138 Abs. 2 Buchst. d) der VO (EU) 2017/625 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 4 der Lebensmittelinformations-Durchführungsverordnung (LMIDV) und sei geeignet und erforderlich. Von einer Anhörung im Sinne des Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG) sei abgesehen worden, da eine sofortige Entscheidung im öffentlichen Interesse notwendig erscheine. Die Produkte befänden sich den Versanddaten zu Folge momentan in H. ... und stünden dort unmittelbar vor einer Auslieferung in den Einzel- bzw. Großhandel. Zudem sei der Antragstellerin im Rahmen der Belehrung vom … Juli 2022 die Möglichkeit eröffnet worden, sich zu den festgestellten Kennzeichnungsmängeln zu äußern. Der Sofortvollzug sei gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens angeordnet worden, da eine Abwägung der in diesem Zusammenhang zu berücksichtigenden öffentlichen und privaten Interessen ergeben habe, dass ein besonderes öffentliches Interesse an einer sofortigen Vollziehung dieses Bescheides vorliege. Der effektive Verbraucherschutz im Sinne des Lebensmittelrechts umfasse auch eine ordnungsgemäße Kennzeichnung der lebensmittelrechtlichen Produkte. Es sei dem Verbraucher nicht zuzumuten, ein Inverkehrbringen des Produkts mit dem beanstandeten Rückenetikett bis zum Eintritt der Bestands- bzw. Rechtskraft dieses Bescheides weiter zu ermöglichen, zumal sich die fehlerhaft etikettierte Ware momentan in H. ... befinde und dort unmittelbar vor einer Auslieferung in den Einzel- bzw. Großhandel stehe. Bis zu einer gerichtlichen Entscheidung könnten ohne Anordnung des Sofortvollzugs ein Inverkehrbringen der nicht ordnungsgemäß gekennzeichneten Ware nicht verhindert werden. Die wirtschaftlichen oder privaten Interessen der Antragstellerin müssten demgegenüber zurückstehen. Die der Antragstellerin auferlegten Verpflichtungen hätten für den Fall, dass der Bescheid in einem möglichen gerichtlichen Verfahren als rechtswidrig beurteilt werden sollte, auch keine nicht rückgängig zu machenden Folgen.
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Mit Schriftsatz vom … November 2022 informierten die Bevollmächtigten den Antraggegner, dass die überarbeiteten Etiketten für das Produkt „A. ...“ Ende Oktober bei der Antragstellerin eingetroffen seien und bei der geplanten nächsten Abfüllung des Produkts im Dezember 2022 eingesetzt werden würden.
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Mit weiterem Schriftsatz vom … November 2022 nahmen die Bevollmächtigten der Antragstellerin auf den streitgegenständlichen, am 22. November 2022 zugestellten Bescheid vom 15. November 2022 Bezug und teilten mit, dass davon ausgegangen werde, dass Lieferungen außerhalb des europäischen Raums, wie beispielsweise in die Türkei oder Afrika von dem ausgesprochenen Verbot nicht erfasst seien. Die Antragstellerin sei vertraglich verpflichtet, bereits bezahlte Ware an Kunden in Afrika (1.200 Stück) und an Kunden in die Türkei (1.800 Stück) am 25. November 2022 zu liefern. Entsprechende Transportorganisationen seien bereits getroffen und die entsprechenden Container bestellt worden. Über eine entsprechende Klarstellung wäre man dankbar. Darüber hinaus werde um Klarstellung gebeten, was mit der Formulierung „europäischer Raum“ gemeint sei (mithin, ob dies den europäischen Kontinent, die Europäische Union oder den Europäischen Wirtschaftsraum betreffe bzw. ob Großbritannien oder die Schweiz dazugehören würden).
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Daraufhin teilte der Antragsgegner den Bevollmächtigten der Antragstellerin mit E-Mail vom 23. November 2022 mit, dass sich das Inverkehrbringungsverbot des Bescheids vom 15. November 2022 auf § 39 Abs. 1 LFGB sowie Art. 137 und Art. 138 Abs. 1 der VO (EU) Nr. 2017/625 und § 5 Abs. 1 Nr. 4 LMIDV stütze, so dass sich der Begriff des „europäischen Raums“ daher nur auf den Anwendungsbereich der Verordnungen (EU) 2017/625, VO (EG) Nr. 1924/2006 sowie der VO (EU) Nr. 1169/2011 erstrecken könne. Vom Anwendungsbereich seien sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union umfasst, was sich eindeutig aus den oben genannten Verordnungen ergebe. Andere Auffassungen widersprächen somit den gesetzlichen Regelungen. Demzufolge greife das Inverkehrbringungsverbot für Afrika und die Türkei, wie vom Bevollmächtigten der Antragstellerin im Fax vom … November 2022 aufgeführt, nicht.
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Mit Schreiben vom 24. November 2022 wandte sich der Antragsgegner im Wege eines Amtshilfeersuchens an die Stadtverwaltung H. … und bat um Unterstützung bei der Kontrolle der Firma F. ... GmbH in H. … Das Amtshilfeersuchen erstrecke sich auf die Ermittlung, ob ein Inverkehrbringen bzw. weiterer Vertrieb des Produkts mit den beanstandeten Etiketten im Raum der Europäischen Union nach Zustellung des Bescheides am … November 2022 erfolgt sei. Wenn dies der Fall gewesen sein sollte, wurde um Mitteilung der Menge der in Vertrieb gebrachten Produkte gebeten.
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Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 25. November 2022 erhob die Antragstellerin gegen den Bescheid vom 15. November 2022 Anfechtungsklage (M 26a K 22.5853) und beantragte zugleich wegen der besonderen Dringlichkeit,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung wurden die im Verwaltungsverfahren bereits vorgebrachten Argumente umfangreich wiederholt und vertieft. Das Inverkehrbringungsverbot „für den europäischen Raum“ genüge nicht den Bestimmtheitserfordernissen des § 37 Abs. 1 Satz 1 VwVfG. Auch liege in der Formulierung „lecker-leichte Erdbeer-Verführung“ kein Verstoß gegen die Health-Claims-Verordnung vor. Die Zutaten „Sahne“ und „Erdbeere“ würden der Geschmacksgebung dienen, so dass insoweit auch keine fehlerhafte mengenmäßige Kennzeichnung des Produktes gegeben sei. Es liege ein fehlerhafter Ermessensnichtgebrauch bzw. Ermessensausfall vor, da § 39 Abs. 1 LFGB sowie Art. 137 und Art. 138 Abs. 1 der VO (EU) 2017/625 es in das Ermessen der Überwachungsbehörde stellen würden, verhältnismäßige Maßnahmen zu finden, um einen festgestellten Verstoß abzustellen. Im Übrigen sei der angegriffene Bescheid und das damit ausgesprochene Inverkehrbringungsverbot weder erforderlich noch angemessen. Die besondere Dringlichkeit ergebe sich daraus, dass die Antragstellerin derzeit einen Bestand von ca. 12.000 Flaschen auf Lager habe. Sie habe vertragliche Lieferverpflichtungen zu erfüllen, die ein unmittelbares Inverkehrbringen der Ware erforderlich machen würde. Da von den Waren, unabhängig davon, ob die Kennzeichnung rechtmäßig oder rechtswidrig ist, keine Gesundheitsgefahren ausgehen würden, bestehe keine Notwendigkeit für ein sofortiges Verbot des Inverkehrbringens.
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Der Antragsgegner sicherte dem Gericht am 25. November 2022 telefonisch zu, vor einer Entscheidung des Gerichts über den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nicht zu vollstrecken. In der Eingangsmitteilung bzw. Erstzustellung vom 25. November 2022 wies das Gericht zudem - ohne Kenntnis vom Inhalt und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheides vom 15. November 2022 zu haben, der der Antragsschrift vom 25. November 2022 nicht beigefügt war - auf die gesetzliche Wertung in § 39 Abs. 7 Nr. 1 LFGB hin, wonach die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage nur bei Anordnungen entfällt, die der Durchführung von Verboten nach Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 dienen, wenn also davon auszugehen ist, dass das streitgegenständliche Lebensmittel gesundheitsschädlich ist. Zugleich wurde auf eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 18.07.2022 - 20 CS 22.1069 - juris Rn. 6) hingewiesen.
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Mit Schreiben vom 15. Dezember 2022 legte der Antragsgegner am 16. Dezember 2022 die elektronische Behördenakte (Bl. 1-96) vor und beantragte,
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den Antrag abzulehnen.
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Von Vollstreckungsmaßnahmen aus der gegenständlichen Anordnung sei nach Vereinbarung mit dem Verwaltungsgericht bis dato abgesehen worden. Die Antragstellerin liefere auch nach Erhalt des streitgegenständlichen Bescheides vom 15. November 2022 weiterhin unverändert aus, so dass der Firma derzeit kein finanzieller Schaden entstanden sei. Zum Zeitpunkt der Kontrolle der amtlichen Veterinär- und Lebensmittelüberwachung der Stadt H. … am … November 2022 hätten sich von den rund 50.000 abgefüllten Flaschen nur noch 5 Paletten mit gesamt 2.352 Flaschen im Lager befunden. Der Bescheid vom 15. November 2022 sei rechtmäßig und verletzte die Antragstellerin nicht in ihren Rechten. Das Landratsamt sei als deutsche Behörde dazu befugt, das Inverkehrbringungsverbot auf den gesamten Raum der Europäischen Union festzulegen, da die Rechtsgrundlage (Art. 137 und Art. 138 Abs. 1 der VO (EU) 2017/625) in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union unmittelbar gelte. Vom Anwendungsbereich der vorliegend einschlägigen EU-Verordnungen seien sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union umfasst, was sich eindeutig aus den Verordnungen ergebe, weshalb das Inverkehrbringungsverbot auch inhaltlich hinreichend bestimmt sei. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Inverkehrbringungsverbot lägen aufgrund der unzulässigen Nährwertangabe („leicht“) und der fehlenden Mengenangabe der verwendeten Erdbeeren vor, weshalb ein Einschreiten des Antragsgegners zwingend erforderlich gewesen sei. Ein Entschließungsermessen habe nicht bestanden, lediglich ein Auswahlermessen hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahme. Das Inverkehrbringungsverbot sei geeignet, erforderlich und das mildeste Mittel, das dem Antragsgegner zur Auswahl gestanden und das gleichzeitig auch den höchsten Erfolg zur Beseitigung und Verhinderung weiterer Verstöße gegen die gesetzlichen Vorschriften versprochen habe. Eine Aufbrauchfrist für die alten Etiketten sei von Seiten des Landratsamtes zu keinem Zeitpunkt zugesagt worden. Im Hinblick auf die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO wurde ausgeführt, dass für den Verbraucher durch die Auslobung als „lecker-leichte Erdbeer-Verführung“ fälschlicherweise der Eindruck entstehe, dass das Produkt einen reduzierten Alkoholgehalt bzw. einen reduzierten Brennwert als Eigenschaft aufweise, was ihn dazu verleite, das Produkt übermäßig zu konsumieren, was mittelbar zu einer Schädigung der Gesundheit führen könne. Die mit dem Inverkehrbringungsverbot bezweckte Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit diene dem vorbeugenden Gesundheits- und Verbraucherschutz potentieller Konsumenten/Konsumentinnen und damit hochrangigen Rechtsgütern. Es sei nicht erforderlich, dass konkrete Gesundheitsgefahren bereits nachgewiesen sein müssten, um den Sofortvollzug anordnen zu können. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass aufgrund des vorsätzlichen Verwendens einer nährwertbezogenen Angabe bei der Kennzeichnung eines Lebensmittels zudem Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft L. … erstattet werde.
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Mit Schriftsatz vom … Dezember 2022 nahmen die Bevollmächtigten der Antragstellerin zur Antragserwiderung Stellung. Aufgrund der Mitteilung des Gerichts vom 25. November 2022, dass der Antragsgegner zugesichert habe, bis zur Entscheidung des Gerichts aus dem angefochtenen Bescheid nicht zu vollstrecken, und des gerichtlichen Hinweises auf die gesetzliche Wertung des § 39 Abs. 7 Nr. 1 LFGB habe die Antragstellerin davon ausgehen dürfen, dass der von ihr erhobenen Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung zukomme. Die Antragstellerin müsse ihre Lieferverpflichtungen erfüllen, um die dargelegten drohenden Schäden abzuwenden. Eben dies sei Ziel des Eilantrags gewesen und sei durch die Zusicherung des Antragsgegners gestattet worden. Vor diesem Hintergrund sei die angekündigte Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft L. … mit einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht mehr vereinbar. Zugleich wurden erneut Ausführungen zur Unbestimmtheit des Verwaltungsaktes und zur materiellen Rechtswidrigkeit des Inverkehrbringungsverbots gemacht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten M 26a K 22.5853 und M 26a S 22.5854, insbesondere die umfangreichen Schriftsätze, und die vorgelegte elektronische Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet.
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1. Das Gericht legt den Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, nach §§ 122, 88 VwGO dahingehend aus, dass hinsichtlich des Inverkehrbringungsverbotes in Ziffer I des streitgegenständlichen Bescheides vom 15. November 2022 die aufschiebende Wirkung der Klage wiederhergestellt werden soll, während hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung in Ziffer III des streitgegenständlichen Bescheides vom 15. November 2022 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet werden soll.
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2. Der so verstandene Antrag ist zulässig, insbesondere statthaft, da der Klage der Antragstellerin gegen die Ziffer I des Bescheides vom 15. November 2022 wegen der in Ziffer II enthaltenen Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung zukommt. Hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung in Ziffer III des Bescheides vom 15. November 2022 hat die Klage nach Art. 21a Satz 1 des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG) keine aufschiebende Wirkung, so dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO der statthafte Rechtsbehelf ist.
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3. Der Antrag ist auch begründet.
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3.1. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall der Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) wiederherstellen bzw. im Fall eines gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, ob diejenigen Interessen, die für einen gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts streiten, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen (beispielsweise BVerwG B.v. 25.3.1993 - 1 ER 301/92 - NJW 1993, 3213, juris Rn. 3). Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt voraussichtlich erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt. Im Fall der Anordnung der sofortigen Vollziehung muss diese dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO entsprechen; zudem bedarf es für den Sofortvollzug eines öffentlichen Interesses oder überwiegenden Interesses eines Beteiligten (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO).
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3.2. Die Begründung der sofortigen Vollziehung des Inverkehrbringungsverbots in Ziffer II des streitgegenständlichen Bescheides entspricht nicht den Anforderungen an die Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO und war daher aufzuheben.
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3.2.1. In den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO hat die Behörde die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO besonders zu begründen. Dabei rechtfertigt allein das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes - hier der Anordnung in Ziffer I des streitgegenständlichen Bescheides vom 15. November 2022 - regelmäßig nicht die Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO. Der Eintritt der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nach § 80 Abs. 1 VwGO ist der gesetzliche Regelfall, ungeachtet dessen, dass stets ein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines (rechtmäßigen) Verwaltungsaktes besteht. Da es sich bei der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung nach der Wertung des Gesetzgebers um einen Ausnahmefall handelt, muss neben das ohnehin bestehende öffentliche Interesse an der Umsetzung eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes (Erlassinteresse) ein besonderes Vollzugsinteresse treten, das das Absehen vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung und die Befugnis der Behörde, einen Verwaltungsakt auch schon vor Eintritt der Bestandskraft mit Zwangsmitteln durchzusetzen (vgl. Art. 19 Abs. 1 Nr. 2 und 3 VwZVG, § 6 Abs. 1 VwVG), zu rechtfertigen vermag (zu den materiellen Anforderungen an das Dringlichkeitsinteresse vgl. BayVGH, B.v. 28.8.2020 - 12 CS 20.1750 - juris Rn. 42 ff.). Diesem Erfordernis trägt § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO Rechnung. Die Behörde muss sich der Ausnahmesituation bewusstwerden und das besondere Vollzugsinteresse begründen, wenn sie vom Regelfall abweicht und die sofortige Vollziehung anordnet. Die Norm dient darüber hinaus dem Rechtsschutz des Betroffenen, der ausgehend von der Begründung die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs besser einschätzen können soll (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 54). Zwar kommt es zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht darauf an, ob die gegebene Begründung inhaltlich richtig und sachlich geeignet ist, ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung zu rechtfertigen. Dieser materiell-rechtliche Aspekt fließt in die originäre Ermessensentscheidung des Gerichts im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ein und wird durch sie ersetzt. Nicht ausreichend für das formale Begründungserfordernis ist aber eine formelhafte, nicht auf den konkreten Einzelfall bezogene Begründung, aus der nicht erkenntlich wird, ob und aus welchen Gründen die Behörde vom Vorliegen eines Ausnahmefalls ausgegangen ist, der ein Abweichen vom Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO rechtfertigen kann (vgl. Hoppe in Eyermann, a.a.O., § 80 Rn. 55 und zum Ganzen BayVGH, B.v. 18.7.2022 - 20 CS 22.1069 - juris, Rn. 3).
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Das Begründungserfordernis gemäß § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO verfolgt somit drei Funktionen. Die Behörde selbst wird angehalten, sich den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung klar zu machen. Diese - dem Zitiergebot gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG vergleichbare - Warnfunktion soll zu einer sorgfältigen Prüfung des Interesses an der sofortigen Vollziehung veranlassen. Der Betroffene wird über die Gründe, die für die behördliche Entscheidung maßgebend gewesen sind, unterrichtet; er kann danach die Erfolgsaussichten eines Aussetzungsantrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO abschätzen. Und dem Gericht erlaubt die Kenntnis der verwaltungsbehördlichen Erwägungen für die sofortige Vollziehbarkeit eine ordnungsgemäße Rechtskontrolle (Schoch/ Schneider/Schoch, 42. EL Februar 2022, VwGO § 80 Rn. 245).
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3.2.2. Den dargestellten Anforderungen genügt die Begründung der Ziffer II des angefochtenen Bescheides nicht. Der Antragsgegner hat die Anordnung des Sofortvollzugs maßgeblich darauf gestützt, dass der effektive Verbraucherschutz im Sinne des Lebensmittelrechts auch eine ordnungsgemäße Kennzeichnung der lebensmittelrechtlichen Produkte umfasse. Es sei dem Verbraucher nicht zuzumuten, ein Inverkehrbringen des Produkts mit dem beanstandeten Rückenetikett bis zum Eintritt der Bestands- bzw. Rechtskraft dieses Bescheides weiter zu ermöglichen, zumal sich die fehlerhaft etikettierte Ware momentan in H. ... befinde und dort unmittelbar vor einer Auslieferung in den Einzel- bzw. Großhandel stehe. Bis zu einer gerichtlichen Entscheidung könnten ohne Anordnung des Sofortvollzugs ein Inverkehrbringen der nicht ordnungsgemäß gekennzeichneten Ware nicht verhindert werden. Die wirtschaftlichen oder privaten Interessen der Antragstellerin müssten demgegenüber zurückstehen. Die der Antragstellerin auferlegten Verpflichtungen hätten für den Fall, dass der Bescheid in einem möglichen gerichtlichen Verfahren als rechtswidrig beurteilt werden sollte, auch keine nicht rückgängig zu machenden Folgen.
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Unabhängig davon, ob der Antragsgegner bei der Begründung des Sofortvollzuges die Interessen der Antragstellerin und die ihr entstehenden Folgen durch das für sofort vollziehbar erklärte Inverkehrbringungsverbotes ausreichend gewichtet hat, wird die Begründung nach Auffassung des Gerichts bereits den Anforderungen aus § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht gerecht. Zwar können sich die formalen Anforderungen an die Begründung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, insbesondere hinsichtlich der Darlegung des überwiegenden öffentlichen Interesses, im Einzelfall dann reduzieren, wenn der Gesetzeszweck ohne Anordnung des Sofortvollzugs überhaupt nicht erreichbar ist (zur Fahrerlaubnisentziehung vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 46). Dafür ist in erster Linie der Rang der durch die Anordnung zu schützenden Rechtsgüter maßgeblich: Je höher diese einzustufen und je geringer die anderweitigen Einflussmöglichkeiten auf die Gefahrenquelle sind, desto niedrigere Anforderungen sind an eine Begründung für den konkreten Einzelfall zu stellen.
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Aus dem lebensmittelrechtlichen Normgefüge ergibt sich jedoch gerade nicht für jede Fallkonstellation, dass den betroffenen Rechtsgütern ein so hoher Rang zukäme, dass das besondere Sofortvollzugsinteresse stets mit dem Erlassinteresse identisch wäre (so bereits BayVGH, B.v. 7.3.2022 - 20 CS 22.307 - juris Rn. 3; B.v. 6.9.2021 - 20 CS 20.2344 - juris Rn. 3; B.v. 6.9.2021 - 20 CS 21.1592 - juris Rn. 3). Das Lebensmittelrecht differenziert vielmehr: Eine gesetzliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit lebensmittelrechtlicher Anordnungen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO findet sich in § 39 Abs. 7 LFGB für dort abschließend aufgeführte Maßnahmen zur Durchsetzung von Verboten zum Schutz der Gesundheit (vgl. dazu Rathke in Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand: November 2021, § 39 LFGB Rn. 55 ff.; Boch, LFGB, 8. Online-Aufl. 2019, § 39 Rn. 24). Aus dieser Wertung des Gesetzgebers folgt gleichzeitig, dass der Verweis auf betroffene Verbraucherschutzinteressen nicht im Wege eines Quasi-Automatismus dem Begründungserfordernis für den Einzelfall genügt, wenn die Maßnahme - wie hier - gerade nicht auf konkrete Gefahren für Leben und Gesundheit, sondern lediglich auf Kennzeichnungsmängel gestützt werden. Anderenfalls würde die Entscheidung des Gesetzgebers für den grundsätzlichen Eintritt der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen lebensmittelrechtliche Maßnahmen letztlich von der Exekutive regelhaft korrigiert bzw. umgangen (vgl. auch Hoppe in Eyermann, a.a.O., § 80 Rn. 46 a.E.). Zudem verlöre die gesetzliche Anordnung des Sofortvollzugs in den Fällen des § 39 Abs. 7 LFGB die ihr vom Gesetzgeber zugemessene gesteigerte Bedeutung (vgl. dazu BT-Drs. 15/4244 S. 115: „Bei Verboten zum unmittelbaren Schutz der Gesundheit des Menschen sind in aller Regel wegen des überragenden Schutzgutes ein sofortiges Handeln und ein unverzügliches Durchsetzen der Anordnung geboten.“) und die Beschränkung dieses Tatbestands auf bestimmte einzeln aufgeführte Anordnungen weitgehend ihren Sinn, wenn die Exekutive auch in allen anderen, nicht von § 39 Abs. 7 LFGB erfassten Fällen den Eintritt der aufschiebenden Wirkung in formeller Hinsicht bereits mit einem pauschalen Verweis auf das für lebensmittelrechtliche Anordnungen - denen schon von der gesetzlichen Zielsetzung her (vgl. § 1 LFGB) eine gesundheitsschützende Tendenz regelmäßig zu eigen ist - ohnehin erforderliche Erlassinteresse aufheben könnte (vgl. BayVGH, B.v. 18.7.2022 - 20 CS 22.1069 - juris Rn. 3ff).
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Dass von dem Produkt „A. …“ der Antragstellerin ein gesundheitliches Risiko ausgehen würde, das die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigen könnte, ergibt sich weder aus dem Prüfbericht des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit vom … Mai 2022 noch aus dem Gutachten des Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit mit Gutachten vom … November 2022 und lässt sich auch weder der vorgelegten Behördenakte noch der Begründung des streitgegenständlichen Bescheides entnehmen. Soweit seitens des Antragsgegners in der Antragserwiderung vom 15. Dezember 2022 - wohl im Hinblick auf den richterlichen Hinweis in der Erstzustellung der Antragsschrift vom 25. November 2022 - vorgetragen wurde, dass für den Verbraucher durch die Auslobung als „lecker-leichte Erdbeer-Verführung“ fälschlicherweise der Eindruck entstehe, dass das Produkt einen reduzierten Alkoholgehalt bzw. einen reduzierten Brennwert als Eigenschaft aufweise, was ihn dazu verleite, das Produkt übermäßig zu konsumieren, was mittelbar zu einer Schädigung der Gesundheit führen könne, erachtet das Gericht diese Argumentation - auch vor dem Hintergrund, dass sich der Etikettierung groß und deutlich der Alkoholgehalt (15% vol.) entnehmen lässt - für schlichtweg lebensfremd. Im Übrigen wäre das Nachholen einer formgerechten Begründung im Rechtsbehelfsverfahren durch die Begründung in der Antragserwiderung vom 15. Dezember 2022 nicht möglich. Auch wenn dies gegebenenfalls prozessökonomisch wäre, spricht der Schutzzweck der Begründungspflicht gegen diese Möglichkeit (VGH Mannheim NJW 1977, 165; BayVGH, BayVBl. 1989, 117 (118); Eyermann/Hoppe, 16. Aufl. 2022, VwGO § 80 Rn. 56 m.w.N.). Denn zumindest das Interesse des Betroffenen an einer sachgerechten Einschätzung der Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels lässt sich bei einer Nachholung im gerichtlichen Verfahren nicht mehr verwirklichen.
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Der Antragsgegner hat die Untersagung des Inverkehrbringens des betroffenen Produktes ausschließlich auf Kennzeichnungsmängel in der Etikettierung, mithin auf einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 1924/2006 und gegen Art. 22 Abs. 1 der VO (EU) Nr. 1169/2011 gestützt, aus denen sich das Vorliegen einer Gesundheitsgefahr weder unmittelbar noch mittelbar ergibt. Auch soweit der Antragsgegner in seiner Antragserwiderung vom 15. Dezember 2022 ausgeführt hat, dass für die Anordnung des Sofortvollzugs nicht erforderlich sei, dass konkrete Gesundheitsgefahren bereits nachgewiesen sein müssten, was wohl in Bezug auf die obergerichtlichen Rechtsprechung erfolgte, dass aus der Systematik und der Effektivität des Unionsrechts abgeleitet werde, dass es für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit keiner konkreten Gefährlichkeitsnachweise bedürfe (vgl. nur VGH BW, B.v. 8.2.2021 - 9 S 3951/20 - juris Rn. 32; OVG NW, B.v. 23.1.2020 - 13 B 1423/19 - juris Rn. 24; NdsOVG, B.v. 12.12.2019 - 13 ME 320/19 - juris Rn. 59), führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn vorliegend fehlt in der Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs schon jegliche Geltendmachung einer Gesundheitsgefahr durch die betroffenen Produkte. Insofern handelt es sich hier gerade nicht um die Konstellation einer der Sofortvollzugsanordnung zugrunde gelegten, aber in der Sache strittigen Gesundheitsgefährdung.
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Im Übrigen spricht der unter Gründe I. ausführlich dargelegte Verfahrensablauf dafür, dass auch von Seiten des Antragsgegners in der unverzüglichen Durchsetzung der Einhaltung der Kennzeichnungsvorschriften zumindest zunächst kein überwiegendes öffentliches Interesse gesehen wurde. So wurde gegenüber der Antragstellerin nach Vorlage des Prüfberichts des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit vom … Mai 2022 mit Schreiben vom … Juli 2022 lediglich eine Belehrung erteilt, die mit der Bitte versehen war, die in dem Gutachten genannten Beanstandungen, sofern noch nicht geschehen, unverzüglich zu beheben und zukünftig die einschlägigen Vorschriften für Lebensmittel zu beachten. Auch in der E-Mail vom 8. August 2022, in der sich der Antragsgegner mit der geplanten Änderung der Etiketten einverstanden erklärt hatte, erging lediglich die Bitte, die Änderung des Etiketts alsbald als möglich durchzuführen, damit der Vertrieb zügig auf die neuen Etiketten umgestellt werden könne. Erst knapp fünf Monate nach Erhalt des niedersächsischen Prüfberichts vom … Mai 2022 und trotz der von Seiten der Antragstellerin veranlassten Neufassung der Etiketten wurde vom Antragsgegner am 15. November 2022 das Inverkehrbringen des Produktes mit den alten Etiketten unter Anordnung des Sofortvollzuges untersagt. Auch im gerichtlichen Verfahren ist der Antragsgegner der Aufforderung des Gerichts vom 25. November 2022, zum Antrag „sofort“ Stellung zu nehmen, trotz seiner Zusage, vor einer Entscheidung des Gerichts über den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nicht zu vollstrecken und der damit bestehenden faktischen aufschiebenden Wirkung der Klage, erst am 16. Dezember 2022 nachgekommen.
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3.2.3. Durch die isolierte Aufhebung der Vollziehungsanordnung ist dem Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin Rechnung getragen. Denn die Aufhebung der Vollziehungsanordnung in Ziffer II des Bescheides bewirkt, dass die von der Antragstellerin erhobene (Anfechtungs-)Klage gegen Ziffer I des Bescheids vom 15. November 2022 nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO von Gesetzes wegen (wieder) aufschiebende Wirkung zukommt. Der vom Gericht getroffene Ausspruch bleibt auch nicht hinter der von der Antragstellerin begehrten Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage zurück. Ihr Rechtsschutzziel hat sie hinsichtlich Ziffer I des streitgegenständlichen Bescheids vollumfänglich erreicht. Die (bloße) Aufhebung der Vollziehungsanordnung im Fall eines Verstoßes gegen die formellen Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO bringt lediglich (klarstellend) den - auf die Erfüllung der der Behörde obliegenden Begründungspflicht - begrenzten gerichtlichen Prüfungsumfang und die daher eingeschränkte Bindungswirkung der gerichtlichen Entscheidung zum Ausdruck (VG Würzburg, B.v. 29.07.2022 - W 8 S 22.1151 - juris, Rn. 43, BayVGH, B.v. 9.3.2018 - 11 CS 18.300 - juris Rn. 7). Entsprechendes gilt für die Zwangsgeldandrohung in Ziffer III des Bescheides, da durch die Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehung die Vollstreckungsvoraussetzungen des Art. 19 Abs. 1 VwZVG nicht (mehr) vorliegen.
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3.2.4. Da bereits die formelle Rechtswidrigkeit der Vollziehungsanordnung des Antragsgegners zum Erfolg des hierauf bezogenen Antrags der Antragstellerin nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO führt, kommt es im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr auf die Frage an, ob die in Ziffer I des Bescheides erfolgte Untersagung des Inverkehrbringens des Produktes „A. ...“ mit der beanstandeten Etikettierung für den europäischen Raum (voraussichtlich) rechtmäßig ist (vgl. VG Würzburg, B.v. 29.07.2022 - W 8 S 22.1151 - juris Rn. 44).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO
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5. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Da im Hinblick auf den Verkaufswert der betroffenen Waren keine detaillierten Angaben gemacht wurden, hat das Gericht für den in der Antragsschrift vom 25. November 2022 genannten Bestand von 12.000 Flaschen, die noch mit dem alten Etikett versehen sind, bei einem angenommenen durchschnittlichen Verkaufswert von 10,00 EUR pro Flasche einen Streitwert von 120.000 EUR als den nach Nr. 25.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit maßgeblichen Wert angesetzt und vorliegend für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hiervon den hälftigen Wert festgesetzt.