Titel:
Erfolgloser Eilantrag eines neu gewählten Abgeordneten (Teilnahme an der konstituierenden Sitzung des Landtags trotz Haftbefehl)
Normenkette:
VfGHG § 26 Abs. 1
Leitsätze:
Unzulässiger Antrag eines neu gewählten Abgeordneten auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Zusammenhang mit einem gegen ihn bestehenden Haftbefehl (Entscheidung im Hinblick auf die konstituierende Sitzung des neu gewählten Landtags).
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren sind substanziiert darzulegen (Fortführung von BeckRS 2023, 14596). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abgeordneter, Haftbefehl, Landtag, konstituierende Sitzung, einstweilige Anordnung, Organstreitverfahren, Darlegungsanforderungen
Fundstellen:
LSK 2023, 30324
NVwZ 2023, 1909
BeckRS 2023, 30324
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird, soweit er sich auf ein Tätigwerden des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vor und für die Dauer der konstituierenden Sitzung des Bayerischen Landtags am 30. Oktober 2023 bezieht, abgewiesen.
Entscheidungsgründe
1
Der Antragsteller wendet sich als neu gewählter Abgeordneter des Bayerischen Landtags mit seinem Antrag auf einstweilige Anordnung gegen den Bestand und die Vollstreckung eines gegen ihn erlassenen Haftbefehls.
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1. Der am 8. Oktober 2023 neu gewählte Bayerische Landtag wird am Montag, den 30. Oktober 2023, um 15:00 Uhr zu seiner ersten Sitzung der neuen Wahlperiode (konstituierende Sitzung, vgl. § 2 BayLTGeschO) zusammentreten. Bei der Wahl zum Bayerischen Landtag wurde der Antragsteller, der für die Partei Alternative für Deutschland (AfD) angetreten war, neu zum Abgeordneten gewählt.
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2. Nach den mit der Antragsschrift vorgelegten Unterlagen besteht gegen den Antragsteller ein auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gestützter Haftbefehl des Amtsgerichts Würzburg vom 26. Oktober 2023 wegen des Verdachts der Volksverhetzung und anderer Straftaten. Hiergegen hat der Verteidiger des Antragstellers am 27. Oktober 2023 Haftbeschwerde eingelegt, mit der er sich gegen die „unzutreffende rechtliche Würdigung“ im Haftbefehl – der Sache nach gegen die Annahme eines dringenden Tatverdachts – und den Haftgrund wendet.
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3. Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag auf einstweilige Anordnung, die Bayerische Staatsregierung und das Bayerische Staatsministerium der Justiz zu verpflichten, „gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg – A[…] W[…] – von ihrem Weisungsrecht dergestalt Gebrauch zu machen, dass die StA Würzburg angewiesen wird, den Haftbefehl“ gegen den Antragsteller „zurückzuziehen“. Hilfsweise sollen die Bayerische Staatsregierung und das Bayerische Staatsministerium des Justiz verpflichtet werden, „aus dem bestehenden Haftbefehl […] für die Dauer der Wahlperiode des am 07.10.2023 gewählten Landtags oder – hilfsweise – […] für die Dauer der konstituierenden Sitzung am 30.10.2023 sowie der notwendigen An- und Abreise nicht zu vollstrecken“.
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Zur Begründung führt der Antragsteller zusammengefasst aus, die Antragsgegner betrieben gegen ihn ein politisch motiviertes Strafverfahren mit offensichtlich nicht haltbaren Vorwürfen. Es könne dahingestellt bleiben, ob der in Art. 28 BV normierte Immunitätsschutz sachlich und zeitlich „durchgreife“, wobei für eine unbeschränkte zeitliche Geltung Sinn und Zweck der Norm sprächen. Denn ansonsten könne jede Regierung über das Weisungsrecht „aus jedem Anlass und gegenüber jedem neu gewählten Abgeordneten,,quasi auf Bestellung‘ neue Verfahren einleiten und so […] die vollzählige Konstituierung des Landtags vereiteln“. Art. 28 BV sei zudem Ausfluss des freien Abgeordnetenmandats und schütze somit auch den Abgeordneten. Verfassungsrechtlich handle es sich bei der „öffentlich betriebenen“ Strafverfolgung eines gewählten Abgeordneten um einen Eingriff in das freie Mandat eines Vertreters des gesamten Volkes. Der Eingriff in das freie Mandat sei hier besonders eklatant, weil der Haftbefehl offensichtlich rechtswidrig sei. Neben dem fehlenden Tatverdacht sei auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit klar verletzt. Wenn die beantragte Anordnung nicht ergehe, drohten irreparable Schäden im laufenden Parlamentsbetrieb. Der Antragsteller wäre gehindert, an wichtigen Abstimmungen in der konstituierenden Sitzung teilzunehmen, was zur Unwirksamkeit einzelner Wahlen und Ausschussbesetzungen führen würde. Demgegenüber sei der staatliche Strafanspruch zu vernachlässigen.
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Vorliegend sei der Organstreit die statthafte Verfahrensart in der Hauptsache. Sollte der Verfassungsgerichtshof ein hypothetisches Organstreitverfahren in der Hauptsache für unstatthaft erachten, wäre jedenfalls die Verfassungsbeschwerde der in der Hauptsache statthafte Rechtsbehelf. Beide Rechtsbehelfe wären erfolgreich.
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4. Nach Presseberichten und nachträglicher Mitteilung seines Verfahrensbevollmächtigten wurde der Antragsteller aufgrund des vorgenannten Haftbefehls am heutigen Tag festgenommen.
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1. In dringenden Fällen kann der Präsident des Verfassungsgerichtshofs über Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung allein entscheiden (Art. 26 Abs. 3 VfGHG). Ein solcher dringender Fall liegt hier nur insoweit vor, als der Antragsteller mit seinem Antrag ein Tätigwerden des Verfassungsgerichtshofs im Vorfeld und für die Dauer der konstituierenden Sitzung des Bayerischen Landtags am 30. Oktober 2023 begehrt. Eine Beschlussfassung durch die reguläre Spruchgruppe des Verfassungsgerichtshofs ist hier aus zeitlichen Gründen nicht möglich. Im Übrigen liegt eine solche besondere Dringlichkeit nicht vor, sodass die Entscheidung der zuständigen Spruchgruppe vorbehalten ist.
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2. Soweit eine Entscheidung durch den Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs veranlasst ist, wurde wegen der besonderen Dringlichkeit davon abgesehen, den im Verfahren zur Hauptsache Beteiligten oder Äußerungsberechtigten vor der Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Eilantrag zu geben (Art. 26 Abs. 2 Satz 2 VfGHG).
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, soweit hier über ihn zu entscheiden ist, hat keinen Erfolg.
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1. Nach Art. 26 Abs. 1 VfGHG kann der Verfassungsgerichtshof eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund dringend geboten ist. Diese Regelung bezieht sich auf alle Verfahrensarten im Sinn des Art. 2 VfGHG, also auch auf Verfassungsstreitigkeiten gemäß Art. 64 BV, Art. 49 VfGHG (VerfGH vom 30.03.2022 – Vf. 13-IVa-22 – juris Rn. 13; vom 20.6.2023 – Vf. 15-IVa-23 – juris Rn. 38, jeweils m. w. N.). Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann grundsätzlich auch schon gestellt werden, bevor die Hauptsache anhängig ist, sofern die Erhebung einer Hauptsacheklage, die nicht offensichtlich unzulässig ist, bevorsteht (vgl. VerfGH vom 26.8.2021 – Vf. 43-VIII-21 u. a. – juris Rn. 43 m. w. N.). Dabei ist zu beachten, dass im Organstreit, der als kontradiktorische Parteistreitigkeit maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihrer Teile in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht hingegen der Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns dient, der Verfassungsgerichtshof in der Regel lediglich feststellt, ob die beanstandete Maßnahme gegen verfassungsmäßige Rechte verstößt (vgl. VerfGH vom 27.6.1977 VerfGHE 35, 48; vom 6.6.2011 BayVBl 2011, 662; vom 6.5.2021 – Vf. 37-IVa-21 – juris Rn. 16). Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren sind substanziiert darzulegen (vgl. VerfGH vom 20.6.2023 – Vf. 15-IVa-23 – juris Rn. 39 m. w. N.).
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2. Diesen Anforderungen wird der Antrag offensichtlich nicht gerecht, er ist unzulässig.
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Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag vom Verfassungsgerichtshof keine bloße Feststellung, dass eine beanstandete Maßnahme gegen seine verfassungsmäßige Rechte verstößt, sondern darüber hinausgehend verbindliche Anweisungen an die Bayerische Staatsregierung und das Bayerische Staatsministerium der Justiz. Eine solche einstweilige Anordnung würde Rechtsfolgen zum Inhalt haben, die der Antragsteller im Hauptsacheverfahren zulässigerweise nicht erreichen könnte. Dies auch deshalb, weil nach vorrangigem Bundesrecht (Art. 31 GG) die Staatsanwaltschaft – unterstellt, eine entsprechende Weisung des Staatsministeriums der Justiz bzw. des Generalstaatsanwalts wäre überhaupt vom Weisungsrecht nach §§ 146, 147 Nr. 2 GVG gedeckt – einen Haftbefehl nicht „zurückziehen“ kann; sie kann allenfalls beim zuständigen Ermittlungsrichter einen Antrag gemäß § 120 Abs. 3 Satz 1 StPO stellen. Eine Zuständigkeit des Staatsministeriums der Justiz (oder erst recht der Staatsregierung) für die hilfsweise begehrte Verpflichtung, einen gerichtlich erlassenen Haftbefehl nicht zu vollstrecken, besteht ebenfalls offensichtlich nicht. Hier wie sonst ist ein aus der Bayerischen Verfassung abgeleiteter Anspruch auf Verpflichtung der Antragsgegner zu dem mit dem Antrag begehrten Verhalten nicht ansatzweise dargetan. Die konkrete Darstellung von Anträgen und/oder Inhalt eines etwa beabsichtigten Organstreits in der Hauptsache findet im Übrigen nicht statt.
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Darauf, ob der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, soweit hier über ihn zu entscheiden ist, aus weiteren Gründen unzulässig ist, kommt es bei dieser Sachlage nicht an.
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3. Soweit der Antrag hilfsweise im Vorfeld einer Verfassungsbeschwerde gestellt sein soll, ist er ebenfalls unzulässig. Auch hier wäre jedenfalls die substanziierte Darlegung erforderlich, dass eine noch zu erhebende – konkrete – Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache nicht offensichtlich unzulässig wäre. Diesen Begründungsanforderungen wird der Antrag ebenfalls nicht ansatzweise gerecht.
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Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).