Titel:
Besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse
Normenketten:
AufenthG §§ 53 ff.
ARB 1/80 Art. 7
EMRK Art. 8
Leitsatz:
Ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse kann vorliegen, wenn ein Ausländer gravierende Straftaten im Zustand der Schuldunfähigkeit begeht. (Rn. 47)
Schlagworte:
Ausweisung, Türkischer Staatsangehöriger, Paranoide Schizophrenie, Langer Voraufenthalt (über 50 Jahre), Zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot (verneint), Schuldunfähigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 30310
Tenor
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
2. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird abgelehnt.
3. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
4. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung und gegen die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.
2
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste im Jahr 1972 als Sechsjähriger im Wege des Familiennachzugs zu seiner in Deutschland lebenden Mutter in die Bundesrepublik Deutschland ein und hält sich seitdem im Bundesgebiet auf. Er lebte zunächst im mütterlichen Haushalt und dann ab Mitte der 1970er Jahre in einem Kinderheim, bevor er mit 17 Jahren eine eigene Wohnung bezog. In der Folgezeit lebte er im Raum A., bis er im Jahr 2000 nach N. umzog. Der Antragsteller erwarb im Bundesgebiet einen Hauptschulabschluss und absolvierte eine Berufsausbildung zum Kfz-Mechaniker. Bereits seit den 1990er Jahren geht er keiner geregelten Berufstätigkeit mehr nach und lebt von Sozialleistungen. Der Antragsteller ist ledig und kinderlos. Seine Eltern sind inzwischen verstorben. Nach seinen Angaben leben verschiedene Halbgeschwister im Bundesgebiet.
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Der Antragsteller war den weit überwiegenden Teil seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet im Besitz eines legalen Aufenthaltsstatus, sowohl in Form wiederholt verlängerter Aufenthaltserlaubnisse als auch in Form der im Rahmen der sog. Fiktionswirkung als fortbestehend geltender Aufenthaltstitel. Zuletzt erteilte ihm die Stadt N. am 16. Oktober 2011 eine bis 15. Oktober 2016 verlängerte Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage von § 4 Abs. 5 AufenthG a.F. (jetzt: § 4 Abs. 2 AufenthG). Aufgrund eines vom Antragsteller angezeigten Verlustes des Aufenthaltsdokuments stellte die Stadt N. den Aufenthaltstitel am 14. September 2015 nochmals neu, befristet bis zum 15. Oktober 2016, aus. Zu einer weiteren Verlängerung kam es nach diesem Zeitpunkt nicht, da der Antragsteller die von der Ausländerbehörde geforderten Mitwirkungshandlungen nicht vornahm, insbesondere anberaumte Vorsprachetermine nicht wahrnahm.
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Der Antragsteller ist seit den 1980er Jahren in zahlreichen Fällen strafrechtlich in Erscheinung getreten. Bereits seit Ende der 1980er Jahre wurde der Antragsteller in einer Vielzahl von Fällen stationär in psychiatrischen Kliniken behandelt, teils freiwillig, teils auch aufgrund entsprechender behördlicher bzw. gerichtlicher Anordnung. Beim Antragsteller wurde seitdem über Jahre hinweg immer wieder eine paranoide Schizophrenie, teils auch zusammen mit anderen psychiatrischen Krankheitsbildern, diagnostiziert. Ebenfalls bereits seit den 1980er Jahren konsumierte der Antragsteller legale und illegale Drogen, darunter auch sog. „harte“ Drogen wie Heroin, Kokain, LSD und Speed, weshalb psychiatrische Fachgutachten wiederholt zumindest für möglich gehalten haben, dass die psychiatrische Erkrankung auch drogeninduziert sei. Die jüngsten psychiatrischen Gutachten gehen allerdings nicht von einer klassischen Suchtmittelabhängigkeit aus, da der Antragsteller den Suchtmittelkonsum kontrollieren könne. In der Behördenakte enthalten sind die psychiatrischen Fachgutachten des Chefarztes der Klink für Forensische Psychiatrie … …, … vom 8. August 2019 (Bl. 1090 ff. d. Behördenakte) und vom 13. Januar 2020 (Bl. 1033 ff. d. Behördenakte). In der beigezogenen Akte der Staatsanwaltschaft N. (...) ist das Gutachten desselben Sachverständigen vom 18. März 2022 enthalten. Diese Gutachten wurden jeweils auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft N. erstellt.
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Neben den rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilungen wurde gegen den Antragsteller in zahlreichen weiteren Verfahren strafrechtlich ermittelt. Eine größere Zahl von Strafverfahren wurde wegen Schuldunfähigkeit des Antragstellers aufgrund seiner psychiatrischen Erkrankung eingestellt. Mit Schreiben vom 30. November 2016 hatte der Oberbürgermeister der Stadt N. Strafantrag gegen den Antragsteller gestellt, da dieser seit dem Jahr 2014 kontinuierlich Mitarbeiter des Sozialamts, zunächst persönlich, seitdem ihm ein Hausverbot erteilt wurde, dann telefonisch massiv beleidigt hatte. Nach dem polizeilichen Datenbestand der Polizeiinspektion N. war der Antragsteller bis zum Stand Februar 2021 in 235 Fällen polizeilich in Erscheinung getreten. Eine polizeiliche Gefährdungseinschätzung der Polizeiinspektion Z. vom 5. Mai 2021 kam unter Auflistung von insgesamt 231 aktenkundigen Vorgängen der bayerischen Polizei und acht Vorgängen der Bundespolizei zu der Bewertung, dass davon auszugehen sei, dass der Antragsteller in Deutschland weiterhin Straftaten begehen werde und eine nicht unerhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle.
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Der Antragsteller wurde wiederholt, erstmals im Jahr 1992, unter rechtliche Betreuung gestellt, allerdings nicht zeitlich durchgängig, insbesondere auch, weil er sich nach Auffassung der beteiligten Stellen und Betreuer – auch infolge von Drohungen und Beleidigungen gegen die Person des Betreuers – als „unbetreubar“ erwies. Zuletzt ordnete das Amtsgericht B. mit Beschluss vom 24. Mai 2023 (...) im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Betreuung des Antragstellers für in dem Beschluss näher bezeichnete Aufgabenbereiche an.
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Zum Stand 7. Oktober 2022 enthält das Bundeszentralregister zulasten des Antragstellers 20 Eintragungen, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen und im Schwerpunkt Körperverletzung-, Bedrohungs- und Beleidigungsdelikte und Hausfriedensbruch betreffen. Hinsichtlich des vollständigen Inhalts des Bundeszentralregisters wird auf die in der Behördenakte (Bl. 1314 ff.) enthaltene umfangreiche Auskunft verwiesen. Für den Zeitraum der letzten 20 Jahre sind in dem Bundeszentralregister die folgenden Eintragungen erfasst:
Rechtskräftig seit 17.07.2003
Tatbezeichnung: Beleidigung in 4 Fällen, hiervon in 1 Fall in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit Bedrohung in Tatmehrheit mit Sachbeschädigung in Tatmehrheit mit versuchter Körperverletzung in Tatmehrheit mit Erpressung in Tatmehrheit mit Diebstahl in 2 Fällen in Tatmehrheit mit Hausfriedensbruch in 3 Fällen in 1 Fall in Tateinheit mit Beleidigung und mit Bedrohung Datum der (letzten) Tat: 30.07.2002
Angewandte Vorschriften: STGB § 123, § 185, § 194, § 223 ABS. 1, ABS. 2, § 224 ABS NR. 5, § 230, § 241 ABS. 1, § 242, § 248 A, § 253 ABS. 1 UND ABS. 2, § 21, § 22. § 23. § 52, § 53, § 63
2 Jahr(e) 3 Monat(e) Freiheitsstrafe
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Strafrest zur Bewährung ausgesetzt bis 29.09.2013 Ausgesetzt durch: 16.09.2008+StVK 64/2004+D3200+LG A. Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetzt Ausgesetzt durch: 16.09.2008+StVK 64/2004+D3200+LG A. Führungsaufsicht nach Aussetzung oder Erledigung einer Unterbringung bis 29.09.2013 Bewährungshelfer bestellt Dauer der nach § 67b-67d StGB eingetretenen Führungsaufsicht geändert; Fristende 30.12.2013
Strafrest erlassen mit Wirkung vom 07.02.2014
Nach § 67b-67d StGB eingetretene Führungsaufsicht erledigt am 07.02.2014 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erledigt am 07.02.2014 LG N. vom 14.10.2013
Rechtskräftig seit 22.10.2013
Tatbezeichnung: Gefährliche Körperverletzung und versuchte gefährliche Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen und Beleidigung Datum der (letzten) Tat: 06.10.2011 Angewandte Vorschriften: StGB § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2, § 224 Abs. 2. § 185, § 194, § 22, § 23, § 52, § 53, § 20, § 63, § 67 b Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetzt Führungsaufsicht nach Aussetzung oder Erledigung einer Unterbringung bis 21.10.2018 Dauer der nach § 67b-67d StGB eingetretenen Führungsaufsicht geändert; Fristende
Dauer der nach § 67b-67d StGB eingetretenen Führungsaufsicht geändert; unbefristete Anordnung StA N. vom 13.03.2014
Tatbezeichnung: Nachstellung Datum der (letzten) Tat: 18.12.2013 Angewandte Vorschriften: StGB § 238
Verfahren eingestellt wegen Schuldunfähigkeit Mitgeteilte Tat(en) ist/sind ein Vergehen Datum des Gutachtens 10.08.2012 StA N.vom 14.07.2014
Tatbezeichnung: Beleidigung Datum der (letzten) Tat: 09.05.2014 Angewandte Vorschriften: StPO § 170 Abs. 2
Verfahren eingestellt wegen Schuldunfähigkeit Mitgeteilte Tat(en) ist/sind ein Vergehen Datum des Gutachtens 10.08.2012 StA N.vom 10.04.2018
Tatbezeichnung: Beleidigung Datum der (letzten) Tat: 14.12.2016 Angewandte Vorschriften: StGB § 185, § 194
Verfahren eingestellt wegen Schuldunfähigkeit Mitgeteilte Tat(en) ist/sind ein Vergehen Datum des Gutachtens 04.09.2017 StA N.vom 11.09.2019
Tatbezeichnung: Hausfriedensbruch Datum der (letzten) Tat: 08.08.2019 Angewandte Vorschriften: StGB § 123 Abs. 1, § 123 Abs. 2
Verfahren eingestellt wegen Schuldunfähigkeit Mitgeteilte Tat(en) ist/sind ein Vergehen Datum des Gutachtens 04.09.2017 StA N.vom 21.10.2020
Tatbezeichnung: Versuchte gefährliche Körperverletzung, Nötigung, Diebstahl, Sachbeschädigung, versuchte Sachbeschädigung, Bedrohung, Beleidigung, Hausfriedensbruch. Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht.
Datum der (letzten) Tat: 27.07.2018
Angewandte Vorschriften: StGB § 123 Abs. 1, § 123 Abs. 2, § 145 a, § 185, § 194, § 223.
§ 224 Abs. 1 Nr. 2, § 224 Abs. 2, § 241, § 242 Abs. 1, § 303 Abs. 1, § 303 Abs. 3, § 303 c, § 22, § 23
Verfahren eingestellt wegen Schuldunfähigkeit
Mitgeteilte Tat(en) ist/sind ein Vergehen Datum des Gutachtens 31.01.2020
8
Mit Urteil vom 4. August 2020 (...) lehnte das Landgericht N. einen aufgrund mehrerer dem Antragsteller zur Last gelegter Körperverletzungs- bzw. Beleidigungsdelikte in den Jahren 2018/2019 gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung des Antragstellers in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) ab.
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Ab dem 15. Oktober 2021 befand sich der Antragsteller im Zusammenhang mit dem nachfolgend beschriebenen Tatgeschehen aufgrund eines Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts N. vom 13. Oktober 2021 (...) in einstweiliger Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Klinik ...).
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Mit Antragsschrift vom 28. März 2022 (...) im Sicherungsverfahren nach § 413 StPO legte die Staatsanwaltschaft N.dem Antragsteller zur Last, im Zustand der Schuldunfähigkeit im Februar 2021 unter anderem den Tatbestand des versuchten Mordes verwirklicht zu haben. Der Antragsteller sei daher aufgrund von § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen.
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Mit Urteil vom 22. November 2022 (...) ordnete das Landgericht N. die Unterbringung des Antragstellers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die Vollstreckung dieser Unterbringung wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Strafkammer sah es als erwiesen an, dass der Antragsteller am 1. Februar 2021 von außen durch das geschlossene Wohnzimmerfenster seiner Bekannten A.Y., deren ebenfalls in der Wohnung anwesende Freundin E.Z. er in einem vorangegangenen Streitgespräch des Diebstahls persönlicher Gegenstände bezichtigt hatte, einen 4,1 kg schweren Stein, geworfen hat. Der Stein durchschlug die Doppelverglasung des Fensters und verfehlte den Kopf von Frau A.Y. knapp. Nach den Feststellungen des Strafgerichts wusste der Antragsteller, dass sich im Wohnraum Personen in unmittelbarer Nähe des Fensters aufhielten. Er nahm jedenfalls billigend in Kauf, dass er durch den Stein Frau A.Y. oder Frau E.Z. erheblich – bis hin zu tödlichen Folgen – verletzen könnte. In rechtlicher Hinsicht würdigte das Gericht das Tatgeschehen als versuchte gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit Körperverletzung und Sachbeschädigung. Eine Bestrafung des Antragstellers scheide aus, weil er im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt habe. Zur Schuldunfähigkeit führte die Strafkammer aus (S. 14 f. des Urteils):
„Der Beschuldigte litt zum Tatzeitpunkt und leidet bis heute an einer krankhaften seelischen Störung, nämlich einer paranoiden Schizophrenie mit chronischen Verlauf, die sich aktuell in einem ausgeprägten Residualzustand mit deutlichen affektiven Veränderungen befindet (ICD-10 F 20.5). Aufgrund der Erkrankung war bei erhaltener Einsichtsfähigkeit die Fähigkeit des Beschuldigten, nach dieser Einsicht zu handeln, im Tatzeitpunkt sicher erheblich vermindert, jedoch nicht ausschließbar auch vollständig aufgehoben. Daneben besteht ein schädlicher Gebrauch von Stimulanzien (ICD-10 F15.1).
Von dem Beschuldigten sind aufgrund seiner krankhaften seelischen Störung in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche, in ihrer Qualität der Tathandlung des Anlassdelikts (Fall 1) vergleichbare, schwerwiegende fremdaggressive und fremdschädigende Straftaten zu erwarten, die hinsichtlich der Tatfolgen über die des Anlassdelikts hinausgehen und zu weit erheblicheren Verletzungen führen können. Er ist daher für die Allgemeinheit gefährlich.“
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Zu den Voraussetzungen der Unterbringung des Antragstellers in einem psychiatrischen Krankenhaus führte das Strafgericht unter anderem aus (S. 20 f. des Urteils):
„3. Gefährlichkeitsprognose
Die Gefährlichkeitsprognose für den Beschuldigten ist in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Sachverständigen … bei einer Gesamtabwägung aller maßgeblichen Umstände (Anlassdelikt, Vortat, prä- und postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung, sozialer Empfangsraum) negativ. Aufgrund der noch im Zeitpunkt der Hauptverhandlung bestehenden chronifizierten paranoiden Schizophrenie, die sich derzeit in einem ausgeprägten Residualzustand befindet, welcher mit ausgeprägten affektiven Veränderungen, die für seine nicht ausschließbar aufgehobene Steuerungsfähigkeit ursächlich waren, einhergeht, drohen bei dem Beschuldigten ohne Behandlung erhebliche rechtswidrige Taten, die in ihrer Qualität die Anlasstaten auch wesentlich übersteigen und bei fremden Personen zu erheblichen Verletzungen führen können, weshalb der Beschuldigte für die Allgemeinheit gefährlich ist. Nach Einschätzung des Sachverständigen liege unverändert eine überdauernde Erkrankung des Beschuldigten vor. Primär ergebe sich für den Beschuldigten eine ungünstige Kriminalprognose und eine hohe Wahrscheinlichkeit für Delinquenz im Bereich der Körperverletzungsdelikte. Derzeit läge zwar eine gute Stabilisierung des Beschuldigten vor, allerdings sei er auch im Klinikalltag nicht völlig unauffällig. So sei es zu Auseinandersetzungen mit einem Mitpatienten gekommen. Die Labilitätsanteile würden weiterhin bestehen und auch nicht wieder verschwinden. Würde die bestehende Stabilisierung wegfallen, käme es höchstwahrscheinlich zu einer Dekompensation. In diesem Falle bestehe auch eine hohe Wahrscheinlichkeit für neue Straftaten. Insbesondere sei im menschlichen Zusammenleben außerhalb des beschützenden Settings immer wieder Potential für Konflikte gegeben, bei denen der Beschuldigte in einen der Anlasstat vergleichbaren Zustand der Erregung geraten könne. Daneben bestehe außerhalb des geschlossenen Settings ohne regulierende Maßnahmen auch weiterhin die Gefahr des Drogenkonsums, der sich dann in Konfliktlagen wiederum negativ auf die Erkrankung auswirke. Der Beschuldigte sei in den Jahrzehnten seiner psychiatrischen Behandlung niemals symptomfrei gewesen und werde diese wohl auch nie selbstständig erreichen. Aus der Anlasstat und auch aus den Verurteilungen bzw. Sachverhalten in der Vergangenheit sei ersichtlich, dass der Beschuldigte durchaus zu erheblichen Straftaten mit erheblichem Verletzungspotential in der Lage sei. Der Beschuldigte sei deshalb trotz der momentan durch Medikamente weitgehend unter Kontrolle gebrachten Symptome für die Allgemeinheit gefährlich.
Die Kammer schließt sich diesen überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen an. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass es sich bei der Anlasstat, die im Versuch stecken blieb, und dem vollendeten (einfachen) Körperverletzungs- und Sachbeschädigungsdelikt nicht ohne Weiteres bereits aufgrund der Deliktsnatur oder der erhöhten Mindeststrafandrohung um erhebliche Taten i.S.d. § 63 S.1 StGB handelt. Die Tat übersteigt aber das Maß einer bloßen Körperverletzung mit geringer Gewaltanwendung oder geringfügiger Körperverletzungen im Bereich der Kleinkriminalität. Im konkreten Fall handelt es sich um eine massive Gewalteinwirkung, bei der es lediglich als glücklicher Zufall erscheint, dass die Geschädigte nicht deutlich schwerere bis hin zu tödlichen Verletzungen davontrug. Damit birgt aber die Anlasstat – ungeachtet des vorliegend glimpflichen Ausgangs – auch ein ganz erhebliches Gefahrenpotential hinsichtlich schwerer Verletzungen von Personen.“
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Die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus begründete das Landgericht wie folgt (S. 22 ff. des Urteils):
„5. Aussetzung zur Bewährung, § 67b StGB
Die Vollstreckung der Unterbringung kann gemäß § 67b Abs. 1 Satz 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden, weil aufgrund des bisherigen Behandlungsverlaufes und der gegebenen Behandlungseinsicht des Beschuldigten, von der sich die Kammer auch persönlich überzeugen konnte, besondere Umstände vorliegen, die die Erwartung rechtfertigen, dass der Zweck der Maßregel auch so erreicht werden kann. In der Hauptverhandlung zeigte sich der Beschuldigte therapiewillig. Im Rahmen der vorläufigen Unterbringung nahm er die ihm verordneten Medikamente, zuletzt in Depotform, ein und bekräftigte in der Hauptverhandlung, damit auch weiter einverstanden zu sein. Der Beschuldigte verträgt die Medikation und sie schlägt bei ihm an. Zudem zeigt sich der Beschuldigte mit der therapeutisch notwendigen Alkohol- und Drogenkarenz sowie der Anbindung an die Forensische Ambulanz des Klinikums … einverstanden.
Unter Berücksichtigung dieses Gesamteindrucks vom Beschuldigten in der Hauptverhandlung schließt sich die Kammer nach kritischer Würdigung der nachvollziehbaren Einschätzung des Sachverständigen an. Nach dessen Einschätzung ist die Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel bei entsprechender Medikation, therapeutischer Anbindung an eine Forensische Ambulanz, Psychoedukation, psychosozialen Maßnahmen sowie Abstinenzkontrollen vertretbar. Der Beschuldigte müsse behandelt werden und seine Medikamente einnehmen, Alkohol und Drogen dürfe er nicht konsumieren. Dabei müsse eine Behandlung eng gefasst und engmaschig und zeitnah überwacht werden, um die Gefährlichkeit für die Allgemeinheit zu reduzieren.
Mögliche Risiken seien im Rahmen der angedachten, bereits bewilligten Aufnahme in der soziotherapeutischen Einrichtung in … kompensierbar. Es gebe so die Möglichkeit, rechtzeitig zu intervenieren, wenn eine Zustandsverschlechterung eintrete.
Im Rahmen der Gesamtwürdigung hat die Kammer berücksichtigt, dass beim Beschuldigten außerhalb der angedachten soziotherapeutischen Einrichtung kein sozialer Empfangsraum vorhanden ist, der das vorhandene Risiko minimieren könnte. Den Beschuldigten zieht es in Richtung Stadt, er hat dort einfachere Möglichkeiten, an Betäubungsmittel zu gelangen, und keine regulierenden Mechanismen. Insbesondere hat er aufgrund der Probleme mit seinen Betreuern hier keine ausreichenden Ansprechpartner. Insbesondere kann der Betreuungsbedarf nicht im Rahmen der Bewährungshilfe bewerkstelligt werden. Ohne einen beschützenden Rahmen und dauerhaft sichergestellte medikamentöse Behandlung sind von dem Beschuldigten demnach aufgrund seines Zustands auch in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche rechtswidrige Gewalttaten mit erheblichen Fremdschädigungen zu erwarten, die hinsichtlich der Tatfolgen in ihrer Schwere vergleichbar mit den verfahrensgegenständlichen Taten sind oder darüber hinaus gehen.
Trotz der oben genannten Gesichtspunkte, die eine Gefahr für die Allgemeinheit begründen, insbesondere der langjährigen Verfestigung der Erkrankung ohne vollständige Symptomfreiheit, ist die Kammer überzeugt, dass die bei dem Beschuldigten bestehende Gefährlichkeit aufgrund der ihm erteilten umfangreichen Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht, deren Befolgung durch den Beschuldigten nach jetzigem Stand zu erwarten ist, in dem Maße reduziert werden kann, dass der Vollzug der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Maßgeblich hierfür ist insbesondere, dass der therapiebereite Beschuldigte die bisherige Behandlung in ausreichendem Maß akzeptiert hat, bereits ein hinreichend stabiler Krankheitszustand eingetreten ist und, dass der Beschuldigte bereits in den Jahren 2003 und, 2013 eine Bewährung im Rahmen einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfolgreich durchgestanden hat.“
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Mit Beschluss ebenfalls vom 22. November 2022 erteilte das Landgericht N.dem Antragsteller verschiedene Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht. Insbesondere wurde der Antragsteller verpflichtet, seinen Wohnsitz in der sozialtherapeutischen Einrichtung … zu nehmen, keine Suchtmittel zu konsumieren und sich diesbezüglicher Kontrollen zu unterziehen.
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Bereits mit Schreiben vom 28. September 2022 hörte die seinerzeit zuständige Ausländerbehörde der Stadt N. den Antragsteller zur beabsichtigten Ausweisung und Ablehnung seines Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels an. Die Ausweisung des Antragstellers hatten die jeweils zuständigen Ausländerbehörden in den vergangenen Jahrzehnten zuvor wiederholt erwogen, letztlich jedoch nicht verfügt.
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Mit Schreiben vom 20. Oktober 2022 äußerte sich das Klinikum …, Klinik für forensische Psychologie, Frau D. (FH) und Kriminologin (M.A.) …, im Einverständnis mit dem Antragsteller gegenüber der Stadt N. Der Antragsteller beabsichtige, nach Abschluss des Strafverfahrens seinen Wohnsitz in der sozialtherapeutischen Einrichtung H. … in W. (Landkreis B...) zu nehmen. Der Aufenthalt für die Bewohner dort sei unbefristet. Durch die Aufnahme in einer Einrichtung sei ein sozialer Empfangsraum für den Antragsteller gegeben. Aufgrund der zudem gewährleisteten kontinuierlichen medizinischen Versorgung sei das Risiko für erneute Straftaten reduziert. Der Antragsteller halte sich seit seinem fünften Lebensjahr in Deutschland auf. Er habe keinerlei soziale Bezüge in die Türkei und keine Unterkunft dort. Er wäre dort ohne Einkommen und völlig auf sich alleine gestellt. Aufgrund seiner Erkrankung sei zu befürchten, dass er weder für sich selbst noch für eine kontinuierliche medizinische Versorgung sorgen könne und so seine Verelendung drohe.
17
Ab dem 23. November 2022 hielt sich der Antragsteller in der sozialtherapeutischen Einrichtung H. … auf.
18
Mit Bescheid vom 13. März 2023 wies das Landratsamt B. den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus und befristete die „Wirkung der Ausweisung“ auf acht Jahre ab dem Tag der Ausreise (Ziffer 1). Der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wurde abgelehnt (Ziffer 2). Die sofortige Vollziehung von Ziffer 1 des Bescheids wurde angeordnet (Ziffer 3). Der Antragsteller wurde aufgefordert, innerhalb von einem Monat nach Bekanntgabe des Bescheids, im Falle der Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage binnen eines Monats nach Rechtskraft der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung aus der Bundesrepublik Deutschland auszureisen (Ziffer 4). Widrigenfalls wurde ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht (Ziffer 5). Für den Fall der Abschiebung wurde ein zusätzliches Einreise- und Aufenthaltsverbots von drei Jahren erlassen, das nur wirksam werde, falls das in Ziffer 1 ausgesprochene Verbot nicht oder noch nicht wirksam geworden sein sollte (Ziffer 5).
19
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Das Landratsamt B. sei wegen des Wohnsitzwechsels von N. nach … zuständige Ausländerbehörde. Die Ausweisung des Antragstellers sei aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt. Dem Antrag falle aufgrund des im Urteil des Landgerichts N. vom 22. November 2022 festgestellten Tatgeschehens ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG zur Last. Ein schuldhaftes Handeln sei hierfür nicht erforderlich. Auf ein gesetzlich typisiertes Bleibeinteresse i.S.d. § 55 AufenthG könne sich der Antragsteller nicht berufen. Er sei seit dem 15. Oktober 2016 nicht mehr im Besitz eines gültigen Aufenthaltstitels gewesen; ihm seien lediglich Fiktionsbescheinigungen ausgestellt worden. Die erhöhten gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausweisung eines nach dem Assoziationsratsbeschlusses 1/80 zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei (ARB 1/80) lägen vor. Der Antragsteller verfüge über ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 6 und Art. 7 ARB 1/80, sodass er nur unter den Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 AufenthG ausgewiesen werden dürfe. Das Verhalten des Antragstellers stelle gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, konkret für Leben und Gesundheit anderer Menschen, dar. Seine Sozialisation sei vollkommen gescheitert. Die gegen ihn geführten Strafverfahren hätten ihn nicht davon abgehalten, immer wieder Straftaten mit erheblicher Gefahr für die beteiligten Personen zu begehen. Der anfängliche Drogenkonsum sog. „weicher“ Drogen habe schnell zum Konsum auch sog. „harter“ Drogen wie Heroin und Kokain geführt. Auch bis zuletzt sei der Antragsteller durch Drogenkonsum aufgefallen. Polizeibeamte hätten am 10. September 2021 in seiner Wohnung eine Spritze mit einem Heroin-Wasser-Gemisch gefunden. Im letzten Strafverfahren vor dem Landgericht N. habe der psychiatrische Sachverständige dem Antragsteller eine negative Kriminalprognose gestellt. Auch die polizeiliche Gefährdungseinschätzung vom 5. Mai 2021 gehe davon aus, dass der Antragsteller weiterhin durch Straftaten in Deutschland auffallen werde. Insgesamt sei aus Sicht des Landratsamts festzustellen, dass ein sehr hohes Risiko bestehe, dass der Antragsteller in absehbarer Zeit weitere erhebliche Straftaten begehen werde. Die Intensität der von ihm begangenen Straftaten habe sich über die Zeit gesteigert. Er leide seit Jahren an einer massiven psychischen Erkrankung. Ihm gebotene Chancen habe er nicht genutzt. Ziel der Ausweisung des Antragstellers sei die Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge. Ein weiteres Abwarten, ob und inwieweit sich die Gesamtpersönlichkeit des Antragstellers noch festigen werde, sei nicht vertretbar. Seine psychische Erkrankung könne durch Medikamente, solange er diese einnehme, nur eingedämmt und stabilisiert, nicht jedoch geheilt werden. Bei einer Entlassung aus der Unterbringung oder therapeutischen Einrichtung stehe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass der Antragsteller wieder schwerwiegende Straftaten begehen werde. Dieser Gefahr könne auch unter Berücksichtigung seiner fehlenden wirtschaftlichen Perspektive nur durch Beendigung seines Aufenthalts begegnet werden. Deswegen falle die Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse zulasten des Antragstellers aus. Dabei sei zu berücksichtigen, dass sich der Antragsteller seit seinem siebten Lebensjahr in Deutschland aufhalte und hier aufgewachsen sei. Trotz des langen Aufenthalts und aller angebotenen Möglichkeiten zur Eingliederung sei es ihm aber nicht möglich gewesen, sich in die deutschen Lebensverhältnisse einzufügen. Neben dem jahrelangen Drogenkonsum und den zahlreichen strafrechtlichen Auffälligkeiten sei besonders zu berücksichtigen, dass es nur dem Zufall zu verdanken sei, dass der zuletzt dem Antragsteller von der Staatsanwaltschaft N. zur Last gelegte Steinwurf nicht zu schwersten Verletzungen oder gar zum Tode einer Person geführt habe. Die von dem Antragsteller ausgehende Gefährlichkeit sei nicht durch die Unterbringung oder die Aufnahme in einer sozialtherapeutischen Einrichtung entfallen. Die im Ausweisungsverfahren zu treffende Prognose müsse auch den Fall der Beendigung der Unterbringung bzw. der Aufnahme in einer solchen Einrichtung berücksichtigen. Insofern sei auch unerheblich, wie sich der Antragsteller in der Unterbringung bzw. sozialtherapeutischen Einrichtung geführt habe. Zudem hätten die psychiatrischen Behandlungen und Unterbringungen des Antragstellers in den vergangenen Jahren eindrücklich gezeigt, dass diese nicht geeignet seien, den Antragsteller nachhaltig von seinem aggressiven Verhalten abzubringen. Der vom Landratsamt bejahten fortbestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung stehe nicht entgegen, dass das Landgericht N.die Unterbringung des Antragstellers in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetzt habe. Die Ausländerbehörde habe eine eigenständige Gefahrenprognose zu treffen und dabei das gesamte Verhalten des Ausländers in den Blick zu nehmen. Im Rahmen der Interessenabwägung sei zu berücksichtigen, dass der Antragsteller ledig und kinderlos sei. Er gehe keiner Erwerbstätigkeit nach und es sehe auch nicht danach aus, dass er dies jemals wieder tun könne. Eine Eingliederung in die deutschen Lebensverhältnisse müsse verneint werden. Unter Berücksichtigung dessen und der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr stehe das Abwägungsergebnis auch mit Art. 8 EMRK in Einklang.
20
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Hinblick auf die Erkrankung des Antragstellers bestehe nicht. Diesbezüglich habe die Ausländerbehörde das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beteiligt. Abgesehen davon, dass die vorliegenden medizinischen Unterlagen keine konkrete Aussage dazu träfen, welche Gesundheitsgefahren dem Antragsteller bei einer Rückkehr in die Türkei infolge fehlender oder unzureichender Behandlung drohten, sei Schizophrenie in der Türkei behandelbar. In der Türkei gebe es neben dem staatlichen Gesundheitssystem, das eine medizinische Grundversorgung garantiere, private Gesundheitseinrichtungen, die in jeglichen Hinsicht EU-Standards entsprächen. Seit dem 1. Januar 2012 habe die Türkei eine allgemeine obligatorische Krankenversicherung eingeführt, die auch nicht versicherte mittellose Personen berücksichtige. Die Behandlung psychischer Erkrankungen sei gekennzeichnet durch eine Dominanz medikamentöser, krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter Versorgungsangebote. Dauereinrichtungen für psychisch kranke Erwachsene gebe es nur in der Form sog. „Depot-Krankenhäuser“ für chronische Fälle, die keine familiäre Unterstützung hätten oder eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellten (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 14.6.2019). Die Behandlung einer paranoiden Schizophrenie sei in der Türkei möglich (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 2.3.2022 und United Kingdom/Home Office vom 21.4.2021). Auch in der Türkei gebe es das Institut der rechtlichen Betreuung. Darüber hinaus gebe es in der Türkei auch gesetzliche Sozialleistungen für Bedürftige, die gewährleisteten, dass der Antragsteller ein Existenzminimum in seinem Herkunftsland erlangen könne. Die Leistungsgewährung werde von Amts wegen geprüft.
21
Die sofortige Vollziehung der Ausweisung werde im öffentlichen Interesse, welches über das Vollzugsinteresse, das die Ausweisung als solche rechtfertige, hinausgehe, angeordnet. Es sei nämlich zu befürchten, dass der Antragsteller bereits während des anhängigen Klageverfahrens weitere Straftaten begehen werde. Es bestehe eine konkrete Gefahr für Leib und Leben anderer Personen, die sich in Form nicht wiedergutzumachender gesundheitlicher Schäden Dritter realisieren könne. Überdies werde der Sofortvollzug nicht zum Verlust des Arbeitsplatzes oder der wirtschaftlichen Existenz des Antragstellers führen. Die Einschränkung des Rechts aus Art. 19 Abs. 4 GG sei daher zulässig.
22
Der Antrag des Antragstellers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis sei abzulehnen. Sein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 und Art. 7 ARB 1/80 sei im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 durch die Ausweisung erloschen.
23
Das mit der Ausweisung zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot sei nach pflichtgemäßem behördlichen Ermessen unter Anwendung des § 11 Abs. 5 AufenthG auf acht Jahre zu befristen. Mit einer kürzeren Befristung könne der Ausweisungszweck nicht erreicht werden.
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Gegen den Bescheid vom 13. März 2023 ließ der Antragsteller am 6. April 2023 Klage (...) zum Verwaltungsgericht Bayreuth erheben mit den Anträgen, diesen Bescheid aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen bzw. diese zu verlängern. Zugleich ließ er beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
25
Zugleich beantragt er,
ihm Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu bewilligen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller lebe seit dem Jahr 1972 in Deutschland. In der Türkei habe er sich zuletzt im Alter von 14 Jahren für einen Urlaub aufgehalten. Verwandte lebten dort nicht mehr. Der Antragsteller habe auch sonst keinerlei Beziehungen mehr zu Türkei. Er spreche gebrochenes Türkisch, könne diese Sprache aber weder lesen noch schreiben. Der Antragsteller sei bis zu seiner kürzlich erfolgten Entlassung in der sozialtherapeutischen Einrichtung H. … wohnhaft gewesen. Aufgrund einer aktuellen psychischen Krise habe der Aufenthalt dort nicht fortgesetzt werden können. Der Wohnvertrag sei gekündigt worden. Der Antragsteller befinde sich aktuell in (freiwilliger) stationärer Behandlung im Bezirkskrankenhaus … Es sei beabsichtigt, dass der Antragsteller nach Überwindung der aktuellen psychischen Krise in eine neue, dem H. … vergleichbare Einrichtung komme. Er habe zuletzt kein strafrechtlich relevantes Verhalten mehr gezeigt und sei weiterhin therapiewillig. Die Ausweisungsverfügung sei rechtswidrig, da das Bleibeinteresse des Antragstellers das Ausweisungsinteresse überwiege. Das Landratsamt B. habe in seiner Ermessensentscheidung wesentliche Punkte nicht beachtet bzw. falsch beurteilt. In Bezug auf das Ausweisungsinteresse sei zu berücksichtigen, dass sämtliche Verurteilungen und Straftaten vor dem 14. September 2015 außer Betracht bleiben müssten. Denn zu diesem Zeitpunkt habe die Stadt N. dem Antragsteller vorbehaltlos eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, sodass ein zu diesem Zeitpunkt bestehendes Ausweisungsinteresses als verbraucht zu gelten habe. Von den gesetzlich typisierten Ausweisungsinteressen greife nur § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG zulasten des Antragstellers. Insbesondere liege kein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor. In Bezug auf das Bleibeinteresse sei § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zugunsten des Antragstellers heranzuziehen. Denn das Aufenthaltsrecht nach Art. 6 bzw. Art. 7 ARB 1/80 habe den Charakter eines Daueraufenthaltsrechts und stehe einer Aufenthaltserlaubnis gleich. Im Rahmen der Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse habe der Antragsgegner nicht berücksichtigt, dass es sich bei dem Antragsteller um einen „faktischen Inländer“ handele. Es bestehe insofern zwar kein generelles Ausweisungsverbot, der besonderen Härte der Ausweisung für diese Personengruppe müsse jedoch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung angemessen Rechnung getragen werden. Der Antragsteller lebe seit über 50 Jahren in Deutschland. Er beherrsche die deutsche Sprache fließend. Solange es seine Erkrankungen zugelassen hätten, sei er erwerbstätig gewesen. Er habe einen Schulabschluss und eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. In der Bundesrepublik Deutschland lebten noch seine Halbgeschwister. Es sei weder mit der Sprache noch mit der Kultur seines Herkunftslandes grundlegend vertraut. Aufgrund seiner massiven psychischen Erkrankungen sei er auf Hilfe angewiesen. Bei einer Rückkehr in die Türkei müsse zeitnah mit einer Verwahrlosung des Antragstellers gerechnet werden. Auch ein Drogenrückfall sei wahrscheinlich. Der Antragsteller sei nicht dazu in der Lage, eine erforderliche medizinische Behandlung zu erlangen. Er sei in der Türkei nicht krankenversichert. Der Antragsteller werde voraussichtlich die anfänglichen Hürden aufgrund seiner psychischen Erkrankungen ohne Unterstützung nicht meistern können. Hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 11 Abs. 5 AufenthG nicht vorlägen. Eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gehe vom Antragsteller nicht aus. Insofern sei darauf hinzuweisen, dass das Landgericht N.im Urteil vom 22. November 2022 die Vollstreckung der verhängten Maßregel zur Bewährung ausgesetzt habe.
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Der Antragsgegner beantragt,
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Der Gesundheitszustand und die Lebensumstände des Antragstellers seien bei der Entscheidung über den weiteren Aufenthalt vollumfänglich berücksichtigt worden. Es gelte, die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten durch Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers abzuwenden. Eine erforderliche medizinische Anschlussbehandlung sei in der Türkei möglich. Bei der Begründung des Ausweisungsinteresses seien vor dem 14. September 2015 begangene Straftaten nicht herangezogen worden. Diese könnten aber sehr wohl zur Beurteilung der Wiederholungsgefahr mit herangezogen werden. Der Antragsteller könne sich nicht auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse i.S.d. § 55 Abs. 1 AufenthG berufen, da § 55 Abs. 3 AufenthG bestätige, dass eine Fiktionsbescheinigung einer Aufenthaltserlaubnis nicht gleichzustellen sei. Hätte sich der Antragsteller auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse berufen können, so hätte die Ausweisungsverfügung nicht ergehen dürfen, da ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse das schwerwiegende Ausweisungsinteresse überwogen hätte. Der besondere Ausweisungsschutz gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG sei ebenso berücksichtigt worden. In den psychiatrischen Gutachten zum Gesundheitszustand des Antragstellers sei hinreichend dokumentiert, dass von dem Antragsteller die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten ausgehe. Die Ausländerbehörde sei unter Berücksichtigung dessen nicht gehindert gewesen, den Antragsteller trotz der vom Landgericht N. zur Bewährung ausgesetzten Maßregel aus spezialpräventiven Gründen auszuweisen.
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Seit dem 4. April 2023 befindet sich der Antragsteller in stationärer psychiatrischer Behandlung im Bezirkskrankenhaus … Mit Schreiben vom 24. April 2023 kündigte das H. … den mit dem Antragsteller geschlossenen Wohnvertrag. Als Grund hierfür nannte die Einrichtung wiederholte grobe Verstöße des Antragstellers gegen die Hausordnung, insbesondere Gewaltdrohungen und Beleidigen gegenüber Mitarbeitern der Einrichtung.
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Mit Schreiben vom 24. April 2023 beantragte die Staatsanwaltschaft N.beim Landgericht N., die zur Bewährung ausgesetzte Unterbringung des Antragstellers in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67h Abs. 1 StGB für eine Dauer von drei Monaten wieder in Vollzug zu setzen. Über den Antrag wurde bisher nicht entschieden.
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Auf gerichtliche Anforderung hin legten das Bezirkskrankenhaus … und das H. … Berichte vom 1. Juni 2023 bzw. 31. Mai 2023 über Aufenthalt und Behandlung des Antragstellers in der jeweiligen Einrichtung vor.
32
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten einschließlich der vom Gericht beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft N.Bezug genommen.
33
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wird abgelehnt, weil sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt, dass die Rechtsverfolgung keine hinreichende Erfolgsaussicht i.S.d. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat.
34
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wird abgelehnt, weil er zwar zulässig (1.), jedoch unbegründet (2.) ist.
35
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist hinsichtlich Ziffer 1 Satz 1 des Bescheids vom 13. März 2023 als Antrag auf Wiederherstellung und im Übrigen als Antrag auf Anordnung (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 7 AufenthG, Art. 21a VwZVG) der aufschiebenden Wirkung der Klage zulässig.
36
2. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist unbegründet.
37
In Bezug auf die Ausweisungsverfügung in Ziffer 1 Satz 1 des Bescheids vom 13. März 2023 genügt die Anordnung der sofortigen Vollziehung (Ziffer 3 des Bescheids) den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO (2.1.). Die Abwägung von Vollzugs- und Suspensivinteresse fällt zulasten des Antragstellers aus, weil sich die Ausweisung im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig erweisen wird (2.2.) und das besondere öffentliche Vollzugsinteresse für den Sofortvollzug einer Ausweisungsverfügung vorliegt (2.3.). In Bezug auf die weiteren in Ziffern 1, 2, 4 – 6 des Bescheids vom 13. März 2023 getroffenen Regelungen fällt die Abwägung von Vollzugs- und Suspensivinteresse ebenfalls zulasten des Antragsstellers aus, weil sich der Bescheid nach summarischer Prüfung auch insoweit als rechtmäßig erweist (2.4.).
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2.1. Die Begründung des Sofortvollzugs von Ziffer 1 des Bescheids genügt den gesetzlichen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Das Landratsamt hat auf Seite 20/21 der Bescheidsgründe („Anordnung des Sofortvollzugs“) einzelfallbezogen unter Verweis auf die Gefahr weiterer Straftaten gegen Leben und Gesundheit anderer Menschen bereits während des anhängigen Klageverfahrens ausgeführt, warum es die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ausweisungsverfügung im öffentlichen Interesse für geboten erachtet. Die Behörde hat dort auch explizit ausgeführt, dass sie von einem besonderen öffentlichen Interesse an dem Sofortvollzug der Ausweisung ausgeht, das über das (allgemeine) öffentliche Interesse am Vollzug einer spezialpräventiven Ausweisung hinausgeht. Die Begründung lässt daher klar erkennen, dass dem Landratsamt bewusst war, dass die Anordnung des Sofortvollzugs die Ausnahme zur Regel des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO darstellt und dass der Sofortvollzug besonderer behördlicher Rechtfertigung bedarf.
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2.2. Die Ausweisungsverfügung wird sich im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach als rechtmäßig erweisen.
40
Bei der Entscheidung über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat im Rahmen der üblicherweise vorzunehmenden summarischen Prüfung gerade dann, wenn – wie hier – die (sofortige) Vollziehung einer Maßnahme mit einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff verbunden ist, eine – soweit dies unter den Bedingungen eines Eilverfahrens im konkreten Fall möglich ist – vertiefte Prüfung der maßgeblichen Sach- und Rechtsfragen zu erfolgen, um wirksamen Rechtsschutz i.S.d. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu gewährleisten (BayVGH, B.v. 16.3.2023 – 19 CS 23.269 – juris Rn. 6; B.v. 18.3.2022 – 10 CS 21.1570 – juris Rn. 4).
41
Dies zugrunde gelegt, bejaht die Kammer die formelle und materielle Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung.
42
Die Ausweisung ist formell rechtmäßig. Insbesondere bestehen keine rechtlichen Bedenken im Hinblick auf die örtliche Zuständigkeit des Landratsamts B. Maßgeblich sind insoweit die Verhältnisse im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung (BayVGH, B.v. 18.10.2022 – 19 ZB 22.1499 – juris Rn. 9). Zum diesem Zeitpunkt hatte der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Zuständigkeitsverordnung Ausländerrecht – ZustVAuslR) unzweifelhaft im Landkreis B. Der Auszug aus der Therapieeinrichtung in … erfolgte erst nach diesem Zeitpunkt.
43
Die Ausweisung ist auch materiell rechtmäßig.
44
2.2.1. Dem Antragsteller stand bis zu seiner Ausweisung ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 zu. Unerheblich ist insofern, dass der ihm deswegen erteilte Aufenthaltstitel nicht mehr gültig war, weil der gemäß § 4 Abs. 2 AufenthG zu erteilende Aufenthaltstitel lediglich deklaratorisch ist. Der Antragsteller darf daher nur unter den Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 AufenthG ausgewiesen werden.
45
Bei der Feststellung der in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten schwerwiegenden Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (zu diesem Maßstab: EuGH, U.v. 8.12.2011 – Ziebell, C-371/08 – NVwZ 2012, 422/425 Rn. 82 ff.), handelt es sich um eine Prognose, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eigenständig zu treffen haben (z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6/00 – juris Rn. 16). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; z.B. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
46
2.2.2. Es liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor, das die spezialpräventive Ausweisung des Antragstellers unter Berücksichtigung der vorgenannten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG rechtfertigt.
47
Zwar können die von dem Antragsteller begangenen Straftaten nach dem Gesetzeswortlaut des § 54 AufenthG, der typisiert verschiedene Fälle regelt, in denen das Ausweisungsinteresse entweder als besonders schwerwiegend oder schwerwiegend einzustufen ist, nur unter die „Auffangnorm“ des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG subsumiert werden. Dennoch ist hier aus folgenden Gründen von einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse auszugehen: § 54 AufenthG nennt die Umstände, die ein Ausweisungsinteresse begründen können, nicht abschließend. Ein Ausweisungsinteresse wegen Gefährdung i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG kann auch bestehen, wenn keiner der in § 54 AufenthG normierten Tatbestände erfüllt ist (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 21, 24; BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 19 ZB 22.624 – BeckRS 2023, 6112 Rn. 33). Die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG typisierten Interessen können im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände auch weniger oder mehr Gewicht entfalten (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Für die Feststellung eines Ausweisungsinteresses gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG sowie mit Blick auf die in § 54 AufenthG vorgenommene Typisierung und Gewichtung kann dabei von Bedeutung sein, ob das jeweilige Verhalten des Ausländers im Einzelfall einem der Tatbestände des § 54 AufenthG nahekommt (VGH BW, B.v. 21.6.2021 – 11 S 19/21 – juris Rn. 13; Neidhart in HTK-AuslR, zu § 54 Abs. 1 AufenthG (Stand: 3.2.2022), Rn. 10). Maßgeblich zu berücksichtigen ist hier, dass der Antragsteller nach den Feststellungen des Landgerichts N. im Urteil vom 22. November 2022 eine gravierende Straftat in Form der gefährlichen Körperverletzung, bei der nur aufgrund glücklichen Zufalls kein Mensch zu Tode kam, im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat. Hätte der Antragsteller nicht im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt, muss – auch im Hinblick auf die zahlreichen vorangegangenen Straftaten des Antragstellers – davon ausgegangen werden, dass die Straftat eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oberhalb der Schwelle des § 54 Abs. 1 Nr. 1 oder jedenfalls Nr. 1a AufenthG zur Folge gehabt hätte. Die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit kann im Ausweisungsverfahren, das nicht die Sanktionierung persönlicher Schuld, sondern als Instrument des Sicherheitsrechts die Abwehr der vom Aufenthalt eines Ausländers ausgehenden Gefahr bezweckt, indes keine maßgebliche Rolle spielen (vgl. BayVGH, B.v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris Rn. 9; B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 7). Ein Ausweisungsinteresse, das dem Gewicht der in § 54 Abs. 1 AufenthG typisiert geregelten Fälle entspricht, kann daher gegeben sein, wenn der Ausländer schwerwiegende Straftaten im Zustand der Schuldunfähigkeit begeht (VG München, U.v. 17.10.2019 – M 27 K 17.974 – juris Rn. 42; bestätigt durch BayVGH, B.v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris; Bauer/Beichel-Benedetti, NVwZ 2016, 416/418). In der Sache ist das dem Antragsteller zur Last fallende Ausweisungsinteresse daher als besonders schwerwiegend in die gebotene Abwägung einzustellen.
48
Die für die wegen § 53 Abs. 3 AufenthG allein aus spezialpräventiven Gründen zulässige Ausweisung erforderliche Wiederholungsgefahr liegt auch unter Berücksichtigung der erhöhten Voraussetzungen der vorgenannten Norm, die für die Ausweisung eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherung und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, verlangt, vor. Der Antragsteller ist seit Jahrzehnten in einer Vielzahl von Fällen strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er ist durch zahllose massive Bedrohungen (zum Teil Todesdrohungen), Beleidigungen und körperliche Angriffe auf andere Personen aufgefallen. Diese waren nicht beschränkt auf seinen Bekanntenkreis, sondern fanden auch im öffentlichen Raum statt (vgl. exemplarisch die von dem Sachverständigen … im psychiatrischen Fachgutachten vom 8. August 2019 (S. 8 ff., Bl. 1097 ff. d. Behördenakte) ausgewerteten Vorfälle). In vielen Fällen richteten sich die Straftaten auch gegen Amtsträger, insbesondere Mitarbeiter des Sozialamts der Stadt N. und Polizeibeamte. Die Polizeiinspektion Z. kam im Rahmen einer polizeilichen Gefährdungsanalyse vom 5. Mai 2021 (Bl. 1014 ff. d. Behördenakte) unter Auswertung von insgesamt 239 in Bezug auf die Person des Antragstellers polizeilich erfassten Vorfällen zu der Einschätzung, dass von dem Antragsteller die Gefahr weiterer nicht unerheblicher Straftaten ausgehe. Ein Wechsel des soziales (Wohn-) Umfelds, das in der früheren Wohnumgebung des Antragstellers in der … in N. sehr konfliktbeladen war – zahlreiche Anzeigen und Beschwerden der Nachbarschaft, die sich vor dem Antragsteller ängstigten, sind in der Behördenakte dokumentiert –, brachte keine Beruhigung in die Lebenssituation, worauf auch der Sachverständige … in seinem Gutachten vom 13. Januar 2020 (S. 32, Bl. 1064 d. Behördenakte) und vom 18. März 2022 (S. 40 u. 44, beigezogene Strafakte …, Beiheft „medizinische/psychologische Unterlagen“, Bl. 169 u. Bl. 173) hinweist. Der Antragsteller wurde seit Ende der 1980er Jahre in einer Vielzahl von Fällen stationär psychiatrisch behandelt und wiederholt der eingehenden psychiatrischen Begutachtung durch verschiedene Sachverständige unterzogen. Wie psychiatrische Gutachter wiederholt festgestellt haben, ist die Heilung der Erkrankung ihrem Wesen nach nicht möglich bzw. zu erwarten. Sie kann bestenfalls eingedämmt werden, was angesichts der jahrzehntelangen Straffälligkeit trotz zahlreicher Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken offenbar nur unzureichend – über längere Abschnitte hinweg auch aufgrund fehlender Krankheitseinsicht des Antragstellers – gelungen ist. So hat etwa der Sachverständige … in den Gutachten vom 13. Januar 2020 und vom 18. März 2022 ausgeführt, dass es dem Antragsteller „nie gelang, nachhaltige Stabilität in persönlichen oder beruflichen Gegebenheiten zu finden. Vielmehr ist bei dem zu Beurteilenden von einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung auszugehen, die weitreichende Veränderungen dessen Persönlichkeitsstruktur bedingte, die zu wiederholter Delinquenz führte, infolge derer jener als „Bewährungsversager“ einzuordnen ist.“ (S. 54 d. Gutachtens v. 13.1.2020, Bl. 1086 d. Behördenakte; nahezu wortgleich ebenso im Gutachten v. 18.3.2022, S. 55, beigezogene Strafakte …, Beiheft „medizinische/psychologische Unterlagen“, Bl. 184). Weiterhin hat der Sachverständige … im Gutachten vom 13. Januar 2020 darauf hingewiesen, dass es „trotz der bei Herrn … zur Anwendung kommenden Behandlung nicht möglich war, dessen Situation (bei ihm gegebene psychopathologische Auffälligkeiten) so weit zu stabilisieren, dass hier keine überschießenden Reaktionen mehr auftreten. Es kann somit bei Herrn … im Hinblick auf die bei ihm zum Einsatz gekommener Medikation lediglich darauf verwiesen werden, dass eine gewisse Besserung, nicht jedoch eine Symptomfreiheit erreicht werden kann. Weiterhin sei an dieser Stelle (nochmals) darauf verwiesen, dass gerade die Kombination einer schizophrenen Psychose mit Drogenkonsum (wie er von Herrn … betrieben wurde) eine prognostisch ungünstige Kombination darstellt.“ (S. 54 d. Gutachtens, Bl. 1086 d. Behördenakte). Im aktuellsten Gutachten vom 18. März 2022 (S. 48, beigezogene Strafakte …, Beiheft „medizinische/psychologische Unterlagen“, Bl. 177) hat derselbe Sachverständige ausgeführt, dass „sich bei Herrn … immer wieder erfassen ließ, wie dessen Selbst- und Fremdwahrnehmung rasch eine weitgehende Veränderung erfahren kann, dies in dem Sinne, dass einzelne Denkinhalte (mit besonderer affektiver Beteiligung) ganz und gar in den Mittelpunkt des Erlebens geraten und dann kaum mehr einer Beeinflussung von außen zugänglich sind“. In der Vergangenheit wurde gegen den Antragsteller bereits wiederholt die Maßregel nach § 63 StGB (Unterbringung in psychiatrischen Krankenhaus, teils zur Bewährung ausgesetzt) verhängt. Dennoch kam es zu weiteren erheblichen Straftaten, insbesondere derjenigen, die Anlass der hier zu beurteilenden Ausweisung ist.
49
Von dem Ansatz einer positiven Entwicklung kann nach Auffassung der Kammer nicht gesprochen werden. Zwar äußerte der Sachverständige … im Gutachten vom 8. August 2019 (S. 68, Bl. 1157 d. Behördenakte) noch eine vorsichtige Tendenz dahingehend, dass die Schwere der vom Antragsteller in jüngerer Zeit begangenen Straftaten rückläufig sei (im nachfolgenden Gutachten vom 13.1.2020 wohl nicht mehr aufrechterhalten, vgl. dort S. 56/57, Bl. 1088 d. Behördenakte: „Dies könnte als Hinweis auf den Beginn einer Progredienz gewertet werden“). Auch sah das Landgericht N. im Urteil vom 4. August 2020 (., Beiheft zur beigezogenen Strafakte ...), in welchem ein Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung des Antragstellers in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt wurde, „durchaus die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass der Beschuldigte in Zukunft keine erheblichen Taten im Sinn des § 63 StGB begehen wird“ (S. 10 d. Urteils). Dies hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Vielmehr kam es nachfolgend zu der wohl bisher schwersten Tat, die vom Landgericht N.im Urteil vom 22. November 2022 strafrechtlich gewürdigt wurde. Das Strafgericht folgte zwar der Beurteilung der Staatsanwaltschaft N., die das Tatgeschehen als versuchten Mord würdigte, nicht, stellt jedoch im Urteil fest, dass es nur glücklichen Umständen zu verdanken war, dass das Körperverletzungsdelikt nicht zu schweren bis hin zu tödlichen Folgen bei dem Opfer führte. Die Strafkammer führte in dem Urteil aus, dass die Tat nicht bloß ein einfaches Körperverletzungsdelikt aus dem Bereich der Kleinkriminalität, sondern durch massive Gewaltanwendung gekennzeichnet ist. Im Rahmen der nach § 63 StGB zu treffenden Gefährlichkeitsprognose führte das Strafgericht unter ausführlicher Würdigung der psychiatrischen Begutachtung aus, dass der Antragsteller für die Allgemeinheit gefährlich ist und kam insbesondere zu der Feststellung, dass vom Antragsteller ohne Behandlung erhebliche rechtswidrige Taten, die hinsichtlich der Schwere der Tatfolgen die Anlasstaten auch wesentlich übersteigen und bei fremden Personen zu erheblichen Verletzungen führen können, zu erwarten sind.
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Die von dem Sachverständigen … im Gutachten vom 13. Januar 2020 (S. 53, Bl. 1085) geäußerte Einschätzung, dass es sich bei den von dem Antragsteller bisher begangenen Delikten um Geschehnisse handele, die „prinzipiell mit einer erheblichen Wiederholungsgefahr einhergehen“ und es keine Hinweise gebe, dass „ganz besondere Ausnahmesituationen“ den Antragsteller zu den Taten veranlassten (S. 53 f. d. Gutachtens, Bl. 1085 f. d. Behördenakte), hat sich daher durch die nachfolgenden Ereignisse bestätigt. Dementsprechend hat derselbe Sachverständige im jüngsten Gutachten vom 18. März 2022 (S. 56, beigezogene Strafakte …, Beiheft „medizinische/psychologische Unterlagen“, Bl. 185) ausgeführt, dass „bei Herrn … – bei primär chronischer Erkrankung mit erheblich eingeschränkter Belastungsfähigkeit auch bei fortgeführter medikamentöser Behandlung – zumindest bei destabilisierenden äußeren Einflüssen – damit zu rechnen [ist], dass jener erneut durch aggressive Verhaltensweisen vergleichbar den verfahrensgegenständlichen Geschehnissen in Erscheinung tritt.“
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Dieser Gefahrenprognose kann der Antragsteller nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die Geschehnisse vor dem 14. September 2015, als die Stadt N. ihm zuletzt einen Aufenthaltstitel auf der Grundlage des § 4 Abs. 5 AufenthG a.F. (jetzt: § 4 Abs. 2 AufenthG) erteilte, nicht berücksichtigt werden dürften, weil das Ausweisungsinteresse insoweit verbraucht sei. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass Ausweisungsgründe einem Ausländer nur dann und so lange entgegengehalten werden dürfen, als sie noch aktuell und nicht verbraucht sind bzw. die Ausländerbehörde auf ihre Geltendmachung nicht ausdrücklich oder konkludent verzichtet hat (BVerwG, B.v. 21.7.2021 – 1 B 29/21 – juris Rn. 4; U.v. 22.7.2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 39). Anlass für die Ausweisung und maßgeblicher Umstand, auf den das Ausweisungsinteresse gestützt wird, ist hier die im Urteil des Landgerichts N.vom 22. November 2022 gewürdigte Tat. Dieses Ausweisungsinteresse ist ersichtlich noch hinreichend aktuell. Dass im Rahmen der spezialpräventiven Gefahrenprognose auch der bisherige Werdegang des Antragstellers einbezogen wird, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass der dem Ausländer durch Verbrauch bzw. Verzicht vermittelte Vertrauensschutz in Bezug auf ein Ausweisungsinteresse unter dem Vorbehalt steht, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht ändern (BVerwG, B.v. 21.7.2021 – 1 B 29/21 – juris Rn. 4). Unabhängig von der Frage, ob die Erteilung der rein deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG a.F. (§ 4 Abs. 2 AufenthG n.F.) überhaupt geeignet ist, ein schutzwürdiges Vertrauen auf das Unterbleiben einer Ausweisung zu begründen, haben sich die tatsächlichen Umstände infolge der weiteren vom Antragsteller begangenen Straftaten nachfolgend jedenfalls wesentlich verändert. Das Landratsamt hat daher im Rahmen der im Ausweisungsverfahren gebotenen Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Ausländers zu Recht auch die frühere Delinquenz des Antragstellers in die Gefahrenprognose miteinbezogen. Losgelöst davon muss aber auch festgestellt werden, dass allein die Geschehnisse nach dem 14. September 2015 die ausweisungsrechtliche Gefahrenprognose in hinreichend belastbarer Weise stützen können.
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Die von dem Antragsteller ausgehende gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 53 Abs. 3 AufenthG ist auch nicht etwa deshalb zu verneinen, weil das Landgericht N.die Vollstreckung der im Urteil vom 22. November 2022 verhängten Maßregel (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) zur Bewährung ausgesetzt hat. Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug sind bei der anzustellenden Prognose von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19; B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.01.2013 – 1 C 10/12 – juris Rn. 18; BayVGH; B.v. 1.12.2022 – 19 ZB 22.1538 – juris Rn. 30). Wiegt das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so wird sich nach einer Aussetzungsentscheidung des Strafgerichts eine relevante Wiederholungsgefahr allerdings nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen des Strafgerichts getroffen wird oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 24). Das Bundesverfassungsgericht erkennt mithin bei besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen zwei alternative Konstellationen an, in denen trotz einer strafgerichtlichen Aussetzung der Vollstreckung der Strafe bzw. Maßregel zur Bewährung eine spezialpräventive Ausweisung rechtmäßig sein kann: Eine breitere Tatsachengrundlage der Ausländerbehörde bzw. des Verwaltungsgerichts oder in der Vergangenheit begangene Straftaten des Ausländers, die fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (BayVGH, B.v. 9.5.2023 – 19 ZB 22.852 – juris Rn. 14; B.v. 1.12.2022 – 19 ZB 22.1538 – juris Rn. 30; OVG Bremen, B.v. 28.9.2021 – 2 LA 206/21 – juris Rn. 27).
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Dies gilt auch für die Maßregel nach § 63 StGB (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus). Das Ausweisungsrecht stellt nicht darauf ab, ob eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit schuldhaft verursacht wurde, sondern ausschließlich darauf, ob der betroffene Ausländer auch künftig weiter straffällig werden wird. Für die Erfüllung der Ausweisungsvoraussetzungen kommt es nicht darauf an, ob der Betroffene aufgrund der Entscheidung des Strafgerichts verpflichtet ist, sich aktuell einer Maßregel nach § 63 StGB zu unterziehen. Die gesetzlichen Vorschriften stellen allein auf die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ab, nicht aber darauf, ob der Betroffene gemäß § 63 StGB untergebracht werden muss (BayVGH, B.v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris Rn. 9; B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 7). Selbst dann, wenn eine Aussetzung oder Erledigung der Maßregel in Betracht kommt, unterscheidet sich die Prognose bei einer Maßnahme nach § 63 StGB nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen grundsätzlich von der bei einer Ausweisungsentscheidung unter ordnungsrechtlichen Gesichtspunkten zu treffenden Prognose, ob von dem Ausländer eine Wiederholungsgefahr ausgeht. Die der Ausweisung zugrunde liegende Prognoseentscheidung hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über eine etwaige Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Die unter ordnungsrechtlichen Gesichtspunkten zu treffende Prognose hat zudem den Fall der (vorzeitigen) Beendigung der Unterbringung zu berücksichtigen (BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 8). Das Strafrecht unterscheidet demgegenüber nicht zwischen Deutschen und Ausländern und berücksichtigt daher regelmäßig nicht die Möglichkeit, die Sicherheit der Allgemeinheit durch eine Aufenthaltsbeendigung zu gewährleisten (BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 19 ZB 22.624 – BeckRS 2023, 6112 Rn. 17; B.v. 1.12.2022 – 19 ZB 22.1538 – juris Rn. 32).
54
Nach diesen Maßstäben stellt das Verhalten des Antragstellers trotz der strafgerichtlich zur Bewährung ausgesetzten Unterbringung weiterhin eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar.
55
Es ist zunächst festzustellen, dass hier keine „Abweichung“ von der Gefahrenprognose des Strafgerichts im Sinne der in der Rechtsprechung wiederholt diskutierten Fälle, in denen das Strafgericht aufgrund günstiger Sozial-/Legalprognose eine (Rest-)Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzt, vorliegt. Das Landgericht N.selbst geht nach den Ausführungen im Urteil vom 22. November 2022 unzweifelhaft davon aus, dass der Antragsteller für die Allgemeinheit gefährlich ist. Das Strafgericht hatte zu entscheiden, ob die Gefahr so gewichtig ist, dass eine – ggf. auch langfristige – Freiheitsentziehung auf der Grundlage des § 63 StGB gerechtfertigt ist. Darum geht es im Ausweisungsverfahren nicht. Die Ausweisung ist nicht mit einer Freiheitsentziehung verbunden. Im Ausweisungsverfahren geht es auch darum, ob die vom Aufenthalt eines Ausländers ausgehende Gefahr von der Bundesrepublik Deutschland oder von einem anderen Staat, insbesondere demjenigen, dessen Staatsangehöriger der Ausländer ist, zu tragen ist. Demgegenüber sieht das Strafrecht, wie ausgeführt, nicht die Möglichkeit vor, eine Gefahr für die Allgemeinheit durch Aufenthaltsbeendigung abzuwenden.
56
Unabhängig davon liegen die oben referierten Voraussetzungen für die Bejahung der fortbestehenden Gefährlichkeit im Ausweisungsverfahren trotz der strafgerichtlichen Aussetzungsentscheidung – bei Berücksichtigung des dem Antragsteller zuzugestehenden besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses (dazu unten 2.2.3.) – aber auch vor. Das Strafgericht stützt die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung wesentlich auf die Behandlungseinsicht und den ausreichend stabilen Gesundheitszustand des Antragstellers zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung sowie auf die durch die enge Anbindung des Antragstellers an eine forensische Ambulanz und durch Weisungen der Führungsaufsicht zu erwartende Risikoverringerung. Entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen … seien mögliche Risiken durch Aufnahme des Antragstellers in die sozialtherapeutische Einrichtung in …, welche die Möglichkeit der zeitnahen Reaktion auf eine Zustandsverschlechterung gebe, kompensierbar.
57
Die beschließende Kammer verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass das Strafgericht im Hinblick auf die vorgenannten Gesichtspunkte zugunsten des Antragstellers „besondere Umstände“ i.S.d. § 67b Abs. 1 Satz 1 StGB, die die Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung rechtfertigen, angenommen hat. Die Ausführungen des Strafgerichts verdeutlichen jedoch zum einen den gegenüber dem Ausweisungsverfahren engeren Prognosehorizont im strafgerichtlichen Verfahren. Zum anderen ist festzustellen, dass die im hiesigen Verfahren beschließende Kammer die ausländerrechtliche Prognose auf einer breiteren, insbesondere aktuelleren Tatsachengrundlage als das Strafgericht trifft:
58
Denn hat sich gezeigt, dass die Stabilisierung des Antragstellers durch Aufnahme in der Therapieeinrichtung H. … gescheitert ist. Aufgrund erheblichen Fehlverhaltens und massiver Störung des Hausfriedens (auch Gewaltdrohungen gegen Bedienstete) seitens des Antragstellers hat das H. … den Wohnvertrag kündigt. Der Antragsteller befindet sich seitdem in stationärer psychiatrischer Behandlung im Bezirkskrankenhaus … Eine Entlassung ist nach der vom beschließenden Gericht eingeholten Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses vom 1. Juni 2023 (Bl. 102 f. d.A.) „aufgrund der Obdachlosigkeit sowie der weiterhin nicht stabilen psychischen Situation vorläufig nicht angedacht“. Bemühungen, den Antragsteller in einer anderen sozialtherapeutischen Einrichtung unterzubringen, waren bisher offenbar nicht erfolgreich. Eine Einrichtung der Heilsarmee in N., in der sich der Antragsteller früher aufgehalten hatte, verweigerte seine erneute Aufnahme „aufgrund seiner massiven Verhaltens- und Steuerungsprobleme“ (Bericht des Bezirkskrankenhaus … vom 19.4.2023, Bl. 599 d. beigezogenen Strafakte (Vollstreckungsteil) ...). Der soziale Empfangsraum, den auch der Sachverständige … und das Landgericht N. im Urteil vom 22. November 2022 als für die Risikoverringerung wesentlich angesehen haben, besteht nach den derzeitigen Erkenntnissen nicht (mehr). Dementsprechend hat auch das Bezirkskrankenhaus … in seiner Stellungnahme gegenüber der Staatsanwaltschaft N.vom 19. April 2023 (Bl. 600 d. beigezogenen Strafakte (Vollstreckungsteil) ...) ausgeführt: „Eine positive Sozial- und damit Legalprognose kann aufgrund des gekündigten Wohnheimplatzes verbunden mit drohender Obdachlosigkeit und des krisenhaften Verlaufs nicht gestellt werden“. Die Bewährungshilfe bei dem Landgericht B. hat in einer Stellungnahme gegenüber dem Landgericht N.vom 18. April 2023 (Bl. 596 f. d. beigezogenen Strafakte (Vollstreckungsteil) ...) ausgeführt, dass die psychische Verfassung des Antragstellers „dekompensiert“ sei; er sei aktuell „weder lenk- noch führbar und sein Verhalten nicht mehr einschätzbar, was die Gefahr weiterer Straftaten befürchten lässt“. Die Staatsanwaltschaft N. hat unter Bezugnahme auf Empfehlungen des Bezirkskrankenhauses und der Bewährungshilfe am 24. April 2023 gemäß § 67h Abs. 1 StGB beim Landgericht N. beantragt, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für die Dauer von drei Monaten wieder in Vollzug zu setzen (Bl. 603 d. beigezogenen Strafakte (Vollstreckungsteil) ...). Über den Antrag wurde bisher nicht entschieden (das Strafgericht beabsichtigt offenbar, zunächst die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im hiesigen Verfahren abzuwarten, Bl. 609 d. beigezogenen Strafakte (Vollstreckungsteil) ...).
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Das Gericht verkennt nicht, dass dieser „krisenhafte Verlauf“ auch im Zusammenhang mit dem Erlass des streitgegenständlichen Ausweisungsbescheids steht. Unabhängig von der Frage, ob bereits ergangene ausländerbehördliche Entscheidungen bei der – aufgrund der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehenden Sachlage zu treffenden – ausländerrechtlichen Gefahrenprognose „hinweggedacht“ werden können, ist jedenfalls festzustellen, dass die beabsichtigte Stabilisierung des Antragstellers durch Aufnahme in die Einrichtung H. … nicht allein infolge des Zugangs des Ausweisungsbescheids gescheitert ist. Aus dem vom beschließenden Gericht eingeholten Bericht des H. … vom 31. Mai 2023 (Bl. 107 ff. d.A.) geht hervor, dass es dort mit dem Antragsteller bereits vor diesem Zeitpunkt erhebliche Probleme gab. Die Einrichtung führt aus, dass sich der Antragsteller „von Beginn seines Aufenthalts an“ schwer getan habe, sich in die Hausgemeinschaft einzufügen und an die Hausregeln zu halten. Seine Stimmungen seien extrem schwankend gewesen. Bereits am 13. März 2023 – mithin vor Zugang des Ausweisungsbescheids – sei der Antragsteller wegen seines aggressiven Verhaltens und Bedrohungen gegen Mitarbeiter der Einrichtung abgemahnt worden. Dieses Fehlverhalten habe sich nach Zugang des Ausweisungsbescheids verschlimmert. Auch die forensische Ambulanz des Bezirkskrankenhauses …, die den Antragsteller seit dem 1. Januar 2023 betreut, berichtete in einer Stellungnahme gegenüber der Staatsanwaltschaft N. vom 19. April 2023 (Bl. 599 d. beigezogenen Strafvollstreckungsakte ...) von einer „deutlichen Destabilisierung des ohnehin fragilen psychopathologischen Zustandsbildes“ („Aufgrund des insgesamt schwierigen Verlaufs muss unter dem Eindruck der drohenden Abschiebung von einer weiteren Eskalation ausgegangen werden (…) Der Patient zeigt sich zunehmend angespannt und wenig beeinflussbar, so dass die Gefahr erneuter Körperverletzungen aufgrund von Impulsausbrüchen zu befürchten ist“). Zugleich wird auch dort zum „ambulanten Verlauf“ ausgeführt, dass sich der Verlauf „von Anfang an schwierig“ gestaltet habe. Insofern greift es zu kurz, den labilen Zustand des Antragstellers nur auf die behördliche Ausweisungsentscheidung, die im Übrigen auch bereits weit vor dem Zugang des Ausweisungsbescheids des Landratsamts B. im Raum stand (vgl. Anhörungsschreiben der Stadt N. vom 28.7.2021, Bl. 1186 d. Behördenakte und vom 28.9.2022, Bl. 1310 d. Behördenakte) zurückzuführen. Im Übrigen ist der Antragsteller bereits zu früheren Zeitpunkten (vor Erlass der hier zur prüfenden Ausweisungsentscheidung) auch unter geschützten Unterkunftsbedingungen völlig „ausgerastet“, wie etwa die in der Behördenakte (Bl. 1271 ff.) befindlichen polizeilichen Lichtbilder über die Verwüstung der Isolationszelle im Klinikum …, am 18. Dezember 2021 eindrucksvoll zeigen (der Antragsteller hatte dort fest verankertes Mobiliar von den Wänden gerissen, zertrümmert und Löcher in die Zimmerwände geschlagen). Auch der Sachverständige … hat im Gutachten vom 18.3.2022 (S. 24, beigezogene Strafakte …, Beiheft „medizinsche/psychologische Unterlagen“, Bl. 153) bereits in Bezug auf die vorläufige Unterbringung des Antragstellers in der Psychiatrie in den Jahren 2021/2022 ausgeführt, dass „der Verlauf von Herrn … über die ersten Monate des Aufenthaltes erheblich problematisch war – dass wiederholt Isolationsmaßnahmen (getrennte Unterbringung) erforderlich wurden“ (für das Jahr 2022 berichtete der Sachverständige hingegen über eine Stabilisierung des Antragstellers in der Unterbringung). Auch eine stationäre Krisenintervention, wie nun von der Staatsanwaltschaft N.beantragt, gab es bereits in der Vergangenheit (vgl. Urteil d. LG N.v. 22.11.2022, S. 4, Bl. 1349).
60
Es ist auch im Blick zu behalten, dass selbst ein Wohlverhalten innerhalb schützender und regulierender Bedingungen, etwa im Rahmen eines therapeutischen Wohnumfelds, – sowohl das Strafgericht als auch der Sachverständige … haben solchen Bedingungen gewichtige Bedeutung für die Verringerung des Risikos weiterer Straftaten beigemessen – bei der ausländerrechtlichen Gefahrenprognose von nur beschränkter Aussagekraft ist und daher als solches regelmäßig nicht die Gefahr i.S.d. § 53 Abs. 3 AufenthG entfallen lässt (BayVGH, B.v. 21.5.2021 – 19 CS 20.2977 – juris Rn. 29).
61
Schließlich ist festzustellen, dass auch die zweite Fallkonstellation, bei der nach der oben referierten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die ausweisungsrechtliche Gefahrenprognose trotz einer strafgerichtlichen Aussetzungsentscheidung zulasten des Ausländers ausfallen kann, hier gegeben ist. Aufgrund der im vorangegangenen Verhalten, das Anlass der streitgegenständigen Ausweisung war, zum Ausdruck gekommenen und fortbestehenden Gefährlichkeit des Antragstellers besteht die konkrete Gefahr weiterer, gegen höchste Rechtsgüter, insbesondere Leib und Leben Dritter, gerichteter Straftaten.
62
2.2.3. Der Antragsteller kann sich – entgegen der Auffassung des Landratsamts – auf ein Bleibeinteresse berufen, dass hinsichtlich seines Gewichts einem gesetzlich typisierten besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gleichsteht. Zwar verfügte der Antragsteller im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung nicht mehr über eine (nur deklaratorische) Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG. Ihm stand (bis zu seiner Ausweisung) jedoch das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 ARB 1/80 zu. Dieses Recht begründet ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse, das seinem Gewicht nach dem § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entspricht (BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 19 ZB 22.624 – BeckRS 2023, 6112 Rn. 36 m.w.N.).
63
2.2.4. Die Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse fällt zulasten des Antragstellers aus.
64
Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). Im Rahmen der Abwägung ist nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das dem Ausweisungsinteresse zugrunde liegt, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten, da gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedarf (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28/16 – juris Rn. 39).
65
Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation der Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 77 m.w.N.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern und Assoziationsberechtigten entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 27.9.2017 – 10 ZB 16.823 – juris Rn. 20). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) AufenthG durchzuführen.
66
Keiner Entscheidung bedarf in diesem Zusammenhang, ob der Antragsteller ein sog. „faktischer Inländer“ ist. Der Begriff des „faktischen Inländers“ ist nicht einheitlich definiert, sondern wird in der Rechtsprechung unterschiedlich umschrieben (BayVGH, B.v. 10.04.2019 – 19 ZB 17.1535 – juris Rn. 30). Das Bundesverwaltungsgericht bezeichnet faktische Inländer als „im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kinder, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten“ (U.v. 16.7.2002 – 1 C 8/02 – juris Rn. 23). Das Bundesverfassungsgericht umschreibt den Begriff mit „hier geborene bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommene Ausländer“ (B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19). Unabhängig von diesen Begrifflichkeiten muss zugunsten des Antragstellers sein extrem langer Aufenthalt im Bundesgebiet seit dem Jahr 1972 bei der Abwägung und Verhältnismäßigkeitsprüfung in besonderem Maße berücksichtigt werden. Im Übrigen besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch für sog. „faktische Inländer“ kein generelles Ausweisungsverbot (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn.19; B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 24). Vielmehr ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bietet das Recht auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 EMRK bei sog. Zuwanderern der zweiten Generation keinen absoluten Schutz vor einer Aufenthaltsbeendigung (vgl. EGMR (GK), U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – NVwZ 2007, 1279). Der Schutz auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe aller sonstigen familiären, persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, B.v. 21.2.2011 – 2 BvR 1392/10 – juris Rn. 19). Eingriffe in dieses Recht sind zulässig, soweit sie zum Zwecke der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ sowie „des wirtschaftlichen Wohls des Landes“ in einer „demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind, mithin wenn der Eingriff durch ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt ist und zu dem mit ihm verfolgten Zweck in einem angemessenen Verhältnis steht (EGMR, U.v. 22.7.2004 – Radovanovic, Nr. 42703/98 – InfAuslR 2004, 374; U.v. 28.06.2007 – Kaya, Nr. 31753/02 – BeckRS 2008, 06725 Rn. 51). Das Maß der „Verwurzelung“ bzw. die für den Ausländer mit einer „Entwurzelung“ verbundenen Folgen sind mithin unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben sowie der Regelung des Art. 8 EMRK zu ermitteln, zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen.
67
Dies zugrunde gelegt, ist festzustellen, dass von dem Antragsteller die Gefahr weiterer Straftaten für höchste Rechtsgüter, auch gerichtet gegen Leib und Leben anderer Personen, ausgeht. Es besteht die erhebliche Gefahr, dass es zu weiteren Straftaten kommt, die mindestens gleich schwer wiegen wie die der Ausweisung zugrunde liegende Anlasstat. Es spricht nichts dafür, dass diese Gefahr in absehbarer Zeit entfallen oder wesentlich gemindert sein könnte. Auf die ausführlichen gerichtlichen Darlegungen zur bestehenden Wiederholungsgefahr ist an dieser Stelle nochmals zu verweisen.
68
Dem steht der sehr lange Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet seit seiner Kindheit gegenüber. Im Rahmen der Gewichtung der privaten Belange ist in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Als Gesichtspunkte für das Vorhandensein von anerkennenswerten Bindungen können Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung sein, der rechtliche Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer des Aufenthalts und Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Bindungen des Ausländers im Inland sind in Beziehung zu setzen zu den (noch vorhandenen) Bindungen an seinen Heimatstaat. Hierzu gehört die Prüfung, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist (BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 29).
69
Hiervon ausgehend ist festzustellen, dass der Antragsteller seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, hier aufgewachsen ist und den wesentlichen Teil seiner Sozialisation in Deutschland erfahren hat. Er hat die frühe Kindheit zwar in der Türkei verbracht, ist jedoch bereits als Sechsjähriger nach Deutschland gekommen. Er hat hier die Schule besucht und eine Berufsausbildung absolviert. Nach eigenen Angaben hat er sich seit Jahrzehnten nicht mehr in der Türkei aufgehalten. Dennoch muss seine soziale und wirtschaftliche Integration als gescheitert angesehen werden. Der Antragsteller gefährdete zum weit überwiegenden Teil seines Aufenthalts, beginnend in den 1980er Jahren, die öffentliche Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl es ihm gelang, einen Schulabschluss zu erwerben und eine Berufsausbildung abzuschließen, geht der Antragsteller letztlich ebenfalls seit Jahrzehnten keiner geordneten Beschäftigung nach. Er lebt seit Jahren von Sozialleistungen. Trotz der Vielzahl der ihm zuteilgewordenen medizinischen, sozialen und finanziellen Unterstützungsangebote sowie auferlegten Sanktionen und Zwangsmaßnahmen, für die öffentliche Mittel in nicht zu bezifferndem Umfang aufgewendet wurden, konnte eine nachhaltige Stabilisierung seiner Persönlichkeit und Lebensumstände nicht erreicht werden. Der Antragsteller verfügt nicht über besonderes schutzwürdige familiäre Bindungen im Bundesgebiet. Er ist trotz seines fortgeschrittenen Alters ledig und kinderlos. Seine Eltern sind verstorben. Nach eigenen Angaben des Antragstellers leben verschiedene Halbgeschwister im Bundesgebiet. Sonstige soziale Bindungen, die ggf. auch stabilisierend auf ihn einwirken könnten, hat der Antragsteller nicht vorgebracht. Der Sachverständige … hat ihn als „sozial isoliert“ beschrieben (Gutachten vom 13.1.2020, S. 55, Bl. 1087 d. Behördenakte).
70
Die Kammer verkennt nicht, dass der Antragsteller bei Rückkehr in der Türkei unter Berücksichtigung seiner langen Abwesenheit von seinem Herkunftsland und seiner psychiatrischen Erkrankung auf beträchtliche Schwierigkeiten stoßen wird. Diese erreichen nach Überzeugung des Gerichts jedoch nicht ein solches Maß, dass sich die Rückkehr unter Beachtung der verfassungsrechtlichen und konventionsrechtlichen Vorgaben als unzumutbar darstellt. Der Antragsteller ist in der Türkei geboren und hat zumindest einen Teil seiner Kindheit dort verbracht, darunter die für die sprachliche Entwicklung besonders prägende Kleinkind- und Vorschulzeit. Nach den Feststellungen des Landgerichts N. im Urteil vom 22. November 2022 zum Werdegang des Antragstellers (Bl. 1349 d. Behördenakte) wurde er in der Türkei noch eingeschult. In Deutschland lebte er zunächst im mütterlichen Haushalt, so dass davon auszugehen ist, dass er in dieser Zeit weiterhin mit der türkischen Sprache und Kultur in Berührung gekommen ist. Bei Zuwanderern der zweiten Generation ist regelmäßig anzunehmen, dass sie die Heimatsprache zumindest in Grundzügen beherrschen (OVG RhPf, U.v. 25.2.2021 - 7 A 10826/20 – juris Rn. 82 unter Verweis auf EGMR, E.v. 4.10.2001 – Adam/Deutschland, Nr. 43359/98 – NJW 2003, 2595). Im Falle des Antragstellers gilt nichts anderes. Der Antragsteller hat im hiesigen Verfahren vorgetragen, dass er „gebrochenes“ Türkisch spreche. Gegenüber der vormals zuständigen Ausländerbehörde der Stadt N. hat er angeben, er könne türkisch sprechen (Aktenvermerk v. 11.8.2021, Bl. 1203 d. Behördenakte). Aus dem vorgenannten Urteil des Landgerichts N.geht im Übrigen hervor, dass sich der Antragsteller in N. zuletzt offenbar in einem sozialem Umfeld bewegte, in dem auch türkisch gesprochen wurde (vgl. S. 13 d. Urteils, Bl. 1359 d. Behördenakte: „forderte den Beschuldigten letztlich mit den türkischen Worten für „hau ab!“ auf, zu gehen“). Es muss daher insgesamt davon ausgegangen werden, dass er sich in seinem Herkunftsland ausreichend verständigen kann. Der Umstand, dass der Antragsteller (nach seinem Vortrag) in der Türkei nicht mehr über verwandtschaftliche Beziehungen verfügt, ist bei Volljährigen kein Umstand, der die Unzumutbarkeit der Rückkehr begründet (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2023 – 19 CS 23.123 – juris Rn. 54).
71
Es muss demgegenüber auch festgestellt werden, dass die weiteren Perspektiven der Lebensgestaltung des Antragstellers bei Verbleib im Bundesgebiet ebenfalls ungewiss wären. Er hat kein ihn stützendes soziales Umfeld und ist aktuell von Obdachlosigkeit bedroht. Sein Lebensunterhalt könnte weiterhin und voraussichtlich auf Dauer nur mit öffentlichen Mitteln gesichert werden.
72
Letztlich muss im vorliegenden Ausweisungsverfahren die Frage beantwortet werden, ob die vom Antragsteller ausgehende Gefahr weiterer erheblicher Straftaten von der deutschen Gesellschaft oder der türkischen Gesellschaft zu tragen ist. Unter Einbeziehung aller vorgenannten Aspekte ist diese Gefahr nach Auffassung des Gerichts von der Republik Türkei, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt, zu tragen. Das Ausweisungsinteresse überwiegt daher das Bleibeinteresse des Antragstellers unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falls in dem Maße, dass sich seine Ausweisung als unerlässlich i.S.d. § 53 Abs. 3 AufenthG darstellt.
73
2.3. Das besondere öffentliche Interesse für den Sofortvollzug einer Ausweisungsverfügung ist gegeben.
74
Da die Ausweisung eine schwerwiegende und mit ggf. schwer zu behebenden Folgen für den Ausländer verbundene Maßnahme darstellt, deren Gewicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung noch erheblich verschärft wird, setzt das Interesse an der sofortigen Vollziehung des Weiteren die aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls zu treffende Feststellung voraus, dass der Sofortvollzug schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens als Präventivmaßnahme zur Abwehr der mit der Ausweisungsverfügung zu bekämpfenden Gefahren erforderlich ist. Bei der im Übrigen vorzunehmenden Folgenabwägung sind die konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter bei einem Aufschub des Vollzugs, wenn sich die Ausweisung nachträglich als rechtmäßig erweist, den konkreten Folgen des Sofortvollzugs für den Ausländer, wenn sich die Ausweisungsverfügung nachträglich als rechtswidrig erweisen sollte, gegenüberzustellen (BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 11; B.v. 2.8.2021 – 19 CS 21.330 – juris Rn. 2; B.v. 21.5.2021 – 19 CS 20.2977 – juris Rn. 7; jeweils m.w.N.).
75
Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht dazu dient, nach Art eines strafvollstreckungsrechtlichen Bewährungsbeschlusses dem Betreffenden die Möglichkeit einer nachträglichen Verbesserung seiner rechtlichen Situation einzuräumen und ihm hierzu Handlungsempfehlungen aufzugeben, sondern zu prüfen ist, ob zum maßgeblichen Zeitpunkt eine Vollziehung der streitgegenständlichen Maßnahme rechtmäßig ist (BayVGH, B.v. 16.3.2023 – 19 CS 23.269 – juris Rn. 6; B.v. 18.3.2022 – 10 CS 21.1570 – juris Rn. 4).
76
Der sehr lange Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet steht dem Sofortvollzug der Ausweisung nicht etwa von vorneherein entgegen. Auch bei sehr langem Voraufenthalt und selbst bei im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Ausländern kann die sofortige Vollziehung einer Ausweisungsverfügung rechtmäßig sein (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2023 – 19 CS 23.123; B.v. 16.3.2023 – 19 CS 23.269; B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755; B.v. 2.8.2021 – 19 CS 21.330; B.v. 21.5.2021 – 19 CS 20.2977 – alle juris). Auch der erhöhte Ausweisungsschutz gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG steht als solcher der Anordnung des Sofortvollzugs nicht entgegen (vgl. BayVGH, B.v. 21.5.2021 – 19 CS 20.2977 – juris Rn. 8).
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Die oben ausführliche dargestellte Gefahr weiterer Straftaten besteht hier gerade schon während der Dauer des Hauptsacheverfahrens. Die vom Antragsteller ausgehende Gefahr kann sich – gerade auch unter Berücksichtigung der Entwicklungen seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung – auch kurzfristig realisieren. Ein ausreichend stabiler Zustand des Antragstellers besteht nicht. Die bei einem Aufschub des Vollzugs drohenden Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter überwiegen dabei die den Antragsteller treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung. Die Kammer verkennt nicht, dass die sofortige Vollziehung der Ausweisung durch die Aufenthaltsbeendigung eine einschneidende Maßnahme ist, die erheblich in die Lebensgestaltung eingreift. Dem stehen jedoch aufgrund drohender weiterer Straftaten irreparable Schäden für hochrangige Rechtsgüter gegenüber. Demgegenüber stehen für den Fall, dass sich die Ausweisung im Hauptsacheverfahren nach erfolgter Aufenthaltsbeendigung (entgegen der dargestellten gewichtigen Faktenlage) nicht als rechtmäßig erweisen sollte, weitgehend reparable Nachteile (zeitweise Erschwerung der ohnehin nur sehr begrenzt vorhandenen sozialen Kontakte im Bundesgebiet, Unterbrechung der medizinischen Behandlung und des Sozialleistungsbezugs nach deutschem Standard) für den Antragsteller gegenüber. Zu berücksichtigen auch, dass die Kammer im vorliegenden Eilrechtsschutzverfahren bereits eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage vorgenommen hat. Dass sich wesentliche, hiervon abweichende Erkenntnisse ergeben, die im Hauptsacheverfahren eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, hält die Kammer für sehr unwahrscheinlich. Insbesondere ist aufgrund der umfangreichen Aktenlage und der wiederholt erfolgten ausführlichen psychiatrischen Begutachtungen des Antragstellers nicht zu erwarten, dass eine Beweiserhebung in Form der erneuten psychiatrischen Begutachtung im Hauptsacheverfahren angezeigt ist bzw. zu neuen verfahrensrelevanten Erkenntnisse führen würde.
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2.4. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist auch unbegründet, soweit er sich gegen die weiteren in Ziffern 1, 2, 4 – 6 des Bescheids vom 13. März 2023 getroffenen Regelungen richtet.
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2.4.1. Das in Ziffer 1 Satz 2 des Bescheids vom 13. März 2023 angeordnete, auf acht Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot – als solches ist die vom Landratsamt ausgesprochene „Befristung der Wirkung der Ausweisung“ unzweifelhaft auszulegen – ist rechtmäßig. Gerichtlich überprüfbare Ermessensfehler i.S.d. § 114 Satz 1 VwGO liegen nicht vor. Im Falle der Ausweisung infolge einer strafrechtlichen Verurteilung oder einer vom Ausländer ausgehenden schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit lässt § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG die Überschreitung des Fristrahmens des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bis zu einer (grundsätzlichen) Höchstfrist von zehn Jahren zu. Innerhalb des gesetzlich eröffneten Fristrahmens muss die Ausländerbehörde bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GrC und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27/16 – juris Rn. 23; U.v. 16.2.2022 – 1 C 6/21 – juris Rn. 58).
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Nach diesen Maßstäben ist die behördliche Befristungsentscheidung nicht zu beanstanden. Unter Berücksichtigung der oben bereits ausführlich gewürdigten vielfachen Straffälligkeit, der fortbestehenden Gefährlichkeit und des Umstands, dass er Antragsteller über keine stabilen sozialen Beziehungen verfügt, erweist sich die Frist von acht Jahren trotz des langen Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet als verhältnismäßig.
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2.4.2. Der gegen die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Ziffer 2 des Bescheids vom 13.3.2023) gerichtete Antrag ist ebenfalls unbegründet. Keiner Entscheidung bedarf, ob der Antrag insoweit gegen den richtigen Antragsgegner gerichtet ist, weil der Antragsteller inzwischen nicht mehr im Landkreis B. wohnhaft ist. Das Verpflichtungsbegehren muss der Antragsteller im Hauptsacheverfahren gegen den Rechtsträger der aktuell zuständigen Ausländerbehörde geltend machen, da nur dieser hierfür passivlegimitiert ist (vgl. BayVGH, B.v. 20.8.2021 – 10 C 21.1649 – juris Rn. 29). Ob dieser Umstand sich im Rahmen eines Antrags gegen die Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 80 Abs. 5 VwGO, 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG auswirkt – jedenfalls im Zeitpunkt der Ablehnungsentscheidung war das Landratsamt B. unzweifelhaft örtlich zuständige Ausländerbehörde – bedarf hier keiner Entscheidung. Denn aufgrund der Titelerteilungssperre infolge des mit der Ausweisung erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 AufenthG) ist die Ablehnungsentscheidung rechtmäßig und der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.
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2.4.3. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheids vom 13. März 2023 ist rechtmäßig. Der Antragsgegner war nicht gemäß § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG verpflichtet, ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot für die Türkische Republik festzustellen. Der Ausländerbehörde steht die entsprechende Prüfungskompetenz zu (BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 19 ZB 22.624 – BeckRS 2023, 6112 Rn. 43), es besteht jedoch kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG besteht ein solches nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG).
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Aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen ergibt sich – worauf auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seiner Stellungnahme vom 6. April 2022 (Bl. 1281 ff. d. Behördenakte) gegenüber der Ausländerbehörde hingewiesen hat – bereits nicht hinreichend substantiiert, dass sich die nicht heilbare, sondern allenfalls eindämmbare psychiatrische Erkrankung des Antragstellers im Falle der Rückkehr des Antragstellers in die Türkei (alsbald) wesentlich bzw. lebensbedrohlich verschlechtern würde. Dabei haben bei der Bewertung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots Verschlechterungen des Gesundheitszustandes, die unmittelbar mit dem Abschiebevorgang in Zusammenhang stehen (Reisefähigkeit im engeren und weiteren Sinne, vgl. dazu z.B. BayVGH, B.v. 20.1.2022 – 19 CE 21.2437 – juris Rn. 19 f.) außer Betracht zu bleiben. Zur Reisefähigkeit im weiteren Sinne – und damit nicht im vorliegenden Verfahren zu erörtern – gehört auch die eventuell nötige Organisation einer ggf. erforderlichen unmittelbaren Anschlussbehandlung, sofern der Ausländer nicht selbst in der Lage sein sollte, bei Ankunft im Zielstaat insoweit für sich selbst zu sorgen (vgl. BayVGH, B.v. 20.1.2022 – 19 CE 21.2437 – juris Rn. 20). Festzustellen ist vielmehr, dass der Antragsteller, der bereits ab Ende der 1980er Jahre vielfach stationär in die Psychiatrie aufgenommen wurde, auch bei dem hohen in der Bundesrepublik Deutschland gewährleisteten medizinischen Standard nicht in dem Maße behandelt werden konnte, dass er nachhaltig symptomfrei wäre und ein Leben innerhalb der Rechtsordnung leben könnte. Dies ist über Jahrzehnte hinweg nicht nachhaltig gelungen. Die Erkrankung wurde allenfalls phasenweise eingedämmt.
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Unabhängig davon hat der Antragsgegner unter Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG zu Recht festgestellt, dass die psychiatrische Erkrankung des Antragstellers in der Türkei behandelbar ist. Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 (Stand: Juni 2022) aus, dass sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert hat – vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite – vor allem in ländlichen Provinzen – bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern und im Einzelfall Lieferverzögerungen bei Medikamenten vorkommen können, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten einschließlich psychiatrischer Erkrankungen grundsätzlich gewährleistet. Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind aber auch zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen (S. 21 f. des Lageberichts vom 28.7.2022). Zum 1.1.2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei (S. 22 des Lageberichts vom 28.7.2022). Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen (weniger als € 150/Monat) Einkommens (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation – Türkei, Version 6 vom 22.9.2022, S. 204). Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu – SGK) anmelden. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Versicherung steht auch Rückkehrer aus dem Ausland offen; diese werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O., S. 206; dasselbe, „Türkei – Zugang zum Gesundheitssystem nach der Rückkehr“ vom 27.1.2023, Ziff. 1).
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Auch eine paranoide Schizophrenie ist in der Türkei behandelbar (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 2.3.2020, „Türkei – Behandlung von paranoider Schizophrenie“, Ziffer 1, unter Verweis auf Recherchen von IOM). Der Antragsteller erhält das Medikament Xeplion (Wirkstoff: Paliperidon). Paliperidon wird auch in der Türkei zur Behandlung von paranoider Schizophrenie eingesetzt (vgl. United Kingdom, Home Office, Country Policy and Information Note Turkey: Medical and healthcare provision, Version 1.0, April 2021, Ziffer 14.2.4).
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Dass bei der Behandlung psychischer Erkrankungen im türkischen Gesundheitssystem weiterhin Defizite bestehen und diese insbesondere gekennzeichnet ist durch eine Dominanz krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter (Tageskliniken und/oder -stätten) und komplementärer (z.B. Beratungsstellen, Kontaktbüros, betreutes Wohnen etc.) Versorgungsangebote (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14. Juni 2019, S. 33), begründet kein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen. Denn der Antragsteller hat, wie ausgeführt, keinen Anspruch auf eine Behandlung auf demselben medizinischen Niveau wie in der Bundesrepublik Deutschland.
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Den Ausführungen der Antragstellerbevollmächtigten im Schriftsatz vom 11. Mai 2023 (S. 7), dass dem Antragsteller bei Rückkehr in die Türkei zeitnah die Verwahrlosung drohe, weil er eine erforderliche medizinische Behandlung aufgrund tatsächlicher und finanzieller Hürden nicht in Anspruch nehmen können werde, folgt das Gericht vor dem Hintergrund der vorgenannten Erkenntnisse nicht. Festzustellen ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Antragsteller langjährig eine eigene Wohnung bewohnt hat, ohne dabei zu verwahrlosen oder seine eigene Gesundheit erheblich zu gefährden. Die psychiatrische Erkrankung des Antragstellers zeigt sich in besonderem Maße durch die Gefährdung anderer Personen. Psychiatrische Gutachten thematisierten primär eine von der Erkrankung ausgehende Fremdgefährdung, nicht aber eine Eigengefährdung des Antragstellers (vgl. etwa die Wiedergabe/Auseinandersetzung mit dem im Betreuungsverfahren erstatteten Gutachten des Sachverständigen … im Gutachten des … vom 13.1.2020, S. 17 des Gutachtens, Bl. 1049 d. Behördenakte). Darüber hinaus hat der Antragsgegner im angegriffenen Bescheid zutreffend ausgeführt, dass das Institut der rechtlichen Betreuung auch in der Türkei besteht (vgl. dazu Auskunft der Deutschen Botschaft Ankara an das VG Minden vom 22.9.2011, Gz. RK 516 AA/SE).
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Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot aufgrund der paranoid-schizophrenen Erkrankung besteht daher nicht (vgl. auch bereits NdsOVG, U.v. 18.5.2010 – 11 LB 186/08 – juris; VG München, U.v. 17.10.2019 – M 27 K 17.974 – juris Rn. 44; ferner BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 19 ZB 22.624 – BeckRS 2023, 6112 Rn. 54).
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Hinsichtlich der Frage, ob der Antragsteller in der Türkei in wirtschaftlicher Hinsicht das Existenzminimum erlangen kann, nimmt das Gericht entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid vom 13. März 2023 (S. 19 f.) zu den für Bedürftige gewährten Sozialleistungen Bezug und folgt den dortigen Ausführungen.
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3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 39 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 8.1, 8.2, 1.1.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs.