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Vergabekammer München, Beschluss v. 26.06.2023 – 3194.Z3-3_01-23-9
Titel:

Bayerisches Oberstes Landesgericht, Datenschutzgrundverordnung, Entscheidungen der Vergabekammer, Verhandlungsverfahren, Vergaberechtliches Nachprüfungsverfahren, Effektiver Rechtsschutz, Wettbewerbliches Vergabeverfahren, Nichtigkeitsfeststellung, Sofortige Beschwerde, Kostenvorschuss, Verfahrensbevollmächtigter, Funktionale Leistungsbeschreibung, Laufendes Nachprüfungsverfahren, Öffentlicher Auftraggeber, Verfahren vor der Vergabekammer, Zuschlagsverbot, Verfahrensbeteiligte, Beiladung, Nachprüfungsantrag, Dringlichkeitsvergabe

Normenketten:
VgV § 14 Abs. 4 Nr. 3
RL 2007/66/EG Art. 1 Abs. 1 UA 3 und Art. 2 Abs. 1
Leitsätze:
1. Auch ein Auftraggeber, der Leistungen der Daseinsvorsorge zu erbringen hat, die nicht unterbrochen werden dürfen, darf keine Direktvergabe der Interimsleistungen nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV an einen Wirtschaftsteilnehmer durchführen, wenn er die Dringlichkeit durch den Versuch, während eines laufenden Nachprüfungsverfahrens vollendete Tatsachen zu schaffen, selbst aktiv herbeigeführt hat.
2. Auch ein Auftraggeber, der Leistungen der Daseinsvorsorge zu erbringen hat, die nicht unterbrochen werden dürfen, darf keine Direktvergabe der Interimsleistungen nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV an einen Wirtschaftsteilnehmer durchführen, wenn er die Dringlichkeit durch den Versuch, während eines laufenden Nachprüfungsverfahrens vollendete Tatsachen zu schaffen, selbst aktiv herbeigeführt hat.
3. Eine Direktvergabe von Interimsleistungen darf nicht dazu führen, dass die Rückabwicklungsverpflichtung aus einem bestandskräftigen Beschluss der Vergabekammer nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB, in dem die Nichtigkeit des geschlossenen Vertrags festgestellt wurde, umgangen und der obsiegende Antragsteller faktisch rechtsschutzlos gestellt wird.
Schlagworte:
Interimsauftrag, Vergabeverfahren, Wettbewerb, Nichtigkeit, Nachprüfungsverfahren, Leistungsbeschreibung, Technische Machbarkeit, Daseinsvorsorge, Direktvergabe, Kontinuität der Leistungserbringung, kritische Infrastruktur, Notwendigkeit der Bedarfsdeckung, Verhandlungsverfahren, Ausschreibung, Technische Gründe, Rügeverfahren, Interimsvertrag, Nachprüfungsantrag, Nichtigkeit von Verträgen, Vertragsfreiheit, Vorinformation, Asbestbelastung, Dringlichkeitssituation, Interimsvergabe, Antragsbefugnis, Gesamtauftragswert, Vergaberecht, Kosten des Verfahrens, Anwaltliche Vertretung, Beiladung, Rechtsschutzziel, vertragslose Leistungserbringung, vergaberechtswidriges Vorverhalten, Nichtigkeitsfeststellung, effektiver Rechtsschutz, Wirtschaftsteilnehmer, Dringlichkeitsvergabe, Effektiver Rechtsschutz
Fundstelle:
BeckRS 2023, 30039

Tenor

1. Der Antragsgegnerin wird untersagt, den gegenständlichen Interimsauftrag zur Lieferung einer vollautomatisierten Labor straße, EU-Amtsblatt 2023/S …, im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb direkt an die Beigeladene zu erteilen.
2. Im Falle fortbestehender Beschaffungsabsicht für die Interimsleistungen hat die Antragsgegnerin diese in einem vergaberechtskonformen Verfahren unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu vergeben.
3. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin.
4. Für das Verfahren wird eine Gebühr in Höhe von…,00 EUR festgesetzt. Auslagen sind nicht angefallen.
5. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin war notwendig.

Gründe

I.
1
Die Antragsgegnerin möchte mit dem streitgegenständlichen Interimsvertrag eine Rechtsgrundlage dafür schaffen, dass die in ihren Räumlichkeiten installierte vollautomatisierte Labor straße mit Gerätetechnik für die Bereiche klinische Chemie und Immunchemie inkl. Präanalytik dort verbleiben und betrieben werden kann.
2
Die Antragsgegnerin hatte am 31.01.2019 ein Verfahren zur Neubeschaffung einer Labordiagnostik europaweit bekannt gemacht. Dieses Verfahren wurde jedoch aufgehoben.
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Am 28.12.2021 veröffentlichte die Antragsgegnerin eine freiwillige Ex-ante-Transparenzbekanntmachung. Zur Verfahrensart enthielt die Bekanntmachung in Abschnitt IV.1.) die Erläuterung, dass die Vergabe in einem Verhandlungsverfahren ohne vorherige Bekanntmachung erfolge, da aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden sei. Entgegen der ursprünglichen Pläne, die 2019 zu einer europaweiten Ausschreibung des Auftrags geführt hätten, sei kein Anbau mehr geplant und die Realisierung müsse innerhalb des Bestandbaus stattfinden, wobei aus bautechnischen Gründen jegliche bauliche Anpassung zwingend unterbleiben müsse. Eine sorgfältige Prüfung hätte ergeben, dass die bestehenden Räumlichkeiten lediglich zu einem System eines bestimmten Herstellers passen würden. Die Prüfung in Form einer Markterkundung, in deren Rahmen auch Gespräche mit der Antragstellerin und der Beigeladenen erfolgten, hätte ergeben, dass alle Alternativen zu bedeutsamen Folgeinvestitionen insbesondere baulicher Natur führen würden. Für diese hätte die Antragsgegnerin jedoch keine Finanzmittel zur Verfügung.
4
Am 20.12.2021 erfolgte die Vertragsunterzeichnung durch die Antragsgegnerin und der Versand der Vertragsunterlagen an die Beigeladene.
5
Mit Schreiben vom 03.01.2022 rügte die Antragstellerin den geplanten Vertragsschluss aufgrund eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb, da die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV nicht vorliegen würden.
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Mit Schreiben vom 05.01.2022 wies die Antragsgegnerin die Rüge der Antragstellerin vollumfänglich zurück.
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Nachdem den Rügen der Antragstellerin nicht abgeholfen wurde, stellte die Antragstellerin mit Schreiben vom 07.01.2022 einen Nachprüfungsantrag gem. § 160 Abs. 1 GWB. Die Vergabekammer informierte die Antragsgegnerin am selben Tag über die Einleitung des Nachprüfungsverfahrens.
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Am 10.01.2022 unterzeichnete die Beigeladene ihrerseits den Vertrag.
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Trotz des laufenden Nachprüfungsverfahrens und des geltenden Zuschlagsverbots nach § 169 Abs. 1 GWB beauftragte die Antragsgegnerin die Beigeladene damit, dass Bestandssystem des vorherigen Laborbetreibers Anfang des Jahres 2022 noch während des anhängigen Nachprüfungsverfahrens auszutauschen.
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Am 08.11.2022 entschied die Vergabekammer zur Hauptsache (Gz.: 3194.Z3-3_01-22-2)
1. Der Antragsgegnerin wird bei fortbestehender Beschaffungsabsicht aufgegeben, die streitgegenständliche Leistung unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer in einem vergaberechtskonformen Verfahren auszuschreiben.
2. Die am 10.01.2022 trotz des am 07.01.2022 erteilten Zuschlagsverbots zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen geschlossenen Verträge „Mietvertrag und Reagenzien-Liefervereinbarung“, „Vertrag über AlinlQ/Softwareprodukte und Professionelle Dienstleistungen“ und „Auftragsverarbeitungsvertrag über die Verarbeitung personenbezogener Daten im Auftrag gemäß Artikel 28 EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) inklusive Fernzugriff und/oder Fernwartung von Analysensystemen“ sind von Gesetzes wegen nach § 134 BGB nichtig.
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In den Gründen führte sie aus, dass der Verzicht auf ein wettbewerbliches Verfahren nicht gerechtfertigt gewesen sei. Auf die nicht ordnungsgemäß durchgeführte Markterkundung könne sich die Antragsgegnerin zur Begründung der von ihr gewählten Verfahrensart (Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb) nicht berufen. Die Antragstellerin sei durch diese Vorgehensweise in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB verletzt. Bei Fortbestehen des Beschaffungsbedarfs habe die Antragsgegnerin daher entweder von vornherein ein wettbewerbliches, vergaberechtskonformes Verfahren durchzuführen oder aber unter transparenter Bekanntgabe ihrer Anforderungen eine Markterkundung vorzunehmen, um anhand der Rückläufer beurteilen zu können, ob tatsächlich eine rechtliche und/oder technische Alleinstellung der Beigeladenen besteht. Die am 10.01.2022 zwischen der Beigeladenen und der Antragsgegnerin geschlossenen Verträge seien wegen des zu diesem Zeitpunkt bereits eingegangenen und der Antragsgegnerin mitgeteilten Nachprüfungsantrags der Antragstellerin von Gesetzes wegen nach § 134 BGB nichtig.
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Dieser Beschluss ist mit dem Ablauf der Beschwerdefrist am 25.11.2022 bestandskräftig geworden.
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Trotz des bestandskräftigen Beschlusses der Vergabekammer führen die Antragsgegnerin und die Beigeladene die nichtigen Verträge „Mietvertrag und Reagenzien-Liefervereinbarung“, „Vertrag über AlinlQ/Softwareprodukte und Professionelle Dienstleistungen“ und „Auftragsverarbeitungsvertrag über die Verarbeitung personenbezogener Daten im Auftrag gemäß Artikel 28 EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) inklusive Fernzugriff und/oder Fernwartung von Analysensystemen“ mit im Wesentlichen unveränderten Konditionen bis heute faktisch fort.
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Ein Mitbewerber der Antragstellerin, der gegen die streitgegenständliche Beauftragung der Beigeladenen in einem Parallelverfahren ebenfalls eine bestandskräftige Entscheidung der Vergabekammer erstritten hatte (VK Südbayern, Beschluss vom 08.11.2022 – 3194.Z3-3_01-22-6), beantragte die Androhung eines Zwangsgeldes gegen die Antragsgegnerin für den Fall, dass sie nicht bis zum 28.02.2023 durch Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union ein Vergabeverfahren über die Leistungen, die Gegenstand des Beschlusses der Vergabekammer vom 08.11.2022 waren, einleitet. Dieser Antrag wurde von der Vergabekammer Südbayern mit Beschluss vom 20.12.2022 (Gz.: 3194.Z3-3_01-22-6) zurückgewiesen, die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde wies das Bayerische Oberste Landesgericht mit Beschluss vom 14.03.2023 – Verg 1/23 zurück. Aus Gründen des allgemeinen Vertragsrechts, namentlich der Vertragsfreiheit, könne und dürfe der öffentliche Auftraggeber grundsätzlich nicht dazu gezwungen werden, einen Auftrag an einen geeigneten Bieter zu erteilen. Es liege nicht in der Kompetenz der Vergabekammer, zur Beseitigung einer Rechtsverletzung eine Maßnahme zu treffen, die einen rechtlichen oder tatsächlichen Kontrahierungszwang bedeutet.
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Am 20.01.2023 veröffentlichte die Antragsgegnerin eine Vorinformation im Amtsblatt der EU unter Nr. 2023/S. 015-035790. Diese enthielt u. A. folgende Angaben:
II.1.4) Kurze Beschreibung: „Lieferung einer vollautomatisierten Labor straße als diagnostische Ausstattung mit Gerätetechnik für die Bereiche klinische Chemie und Immunchemie inkl. Präanalytik. Gegenstand der Ausschreibung ist ein Laborvollautomationssystem inklusive Backup-System der kombinierten Analyseautomaten (als erforderliches Sicherheitskonzept bei Ausfall eines kombinierten Automaten) mit Einzug in die Bestandsräumlichkeiten, bestehend aus einer automatisierten Präanalytik zur Probenverteilung, Aliquotierung, Zentrifugation (2 Zentrifugen, d.h. Zentrifuge u. Backup Zentrifuge), Decapping und Recapping sowie Analysegeräte zur Durchführung immunologischer, infektionsserologischer und klinisch-chemischer Bestimmungen (d.h. kombinierter Automat plus kombinierter Backup Automat). Die angebotene Lösung muss in den vorgegebenen Bestandsräumlichkeiten (inkl. Medien-, Wasser-,Abwasserversorgung) eingerichtet und betrieben werden; bauliche Veränderungen aufgrund Asbestbelastung nicht möglich und nicht vorgesehen.“
II.2.14) Zusätzliche Angaben: „Der Auftraggeber verzichtet auf die Erstellung einer Auftragsbekanntmachung nach § 37 Abs. 1 VgV, da die Lieferleistung, die Gegenstand des zu vergebenden Auftrags sein wird, in der Vorinformation benannt wird. Wir bitten Sie, Ihr Interesse bei der angegebenen Kontaktstelle innerhalb der angegebenen Frist (siehe IV.2.2) zu bekunden.
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Am 06.02.2023 veröffentlichte die Antragsgegnerin eine freiwillige Ex-ante-Transparenzbekanntmachung unter Nr. 2023/S. 026-076861 mit (auszugsweise) folgenden Inhalt:
II.1.4) Kurze Beschreibung: „Interimsauftrag für Lieferung einer vollautomatisierten Labor straße als diagnostische Ausstattung mit Gerätetechnik für die Bereiche klinische Chemie und Immunchemie inkl. Präanalytik. Gegenstand der Ausschreibung ist ein Laborvollautomationssystem inklusive Backup-System der kombinierten Analyseautomaten mit Einzug in die Bestandsräumlichkeiten, bestehend aus einer automatisierten Präanalytik zur Probenverteilung, Aliquotierung, Zentrifugation (2 Zentrifugen, d.h. Zentrifuge u. Backup Zentrifuge), Decapping und Recapping sowie Analysegeräte zur Durchführung immunologischer, infektionsserologischer und klinisch-chemischer Bestimmungen (d.h. kombinierter Automat plus kombinierter Backup Automat). Die angebotene Lösung muss in den vorgegebenen Bestandsräumlichkeiten (inkl. Medien-, Wasser-, Abwasserversorgung) eingerichtet und betrieben werden; bauliche Veränderungen aufgrund Asbestbelastung nicht möglich und nicht vorgesehen.“
II.2.11) Angaben zu Optionen: Optionen: ja; Beschreibung der Optionen: „Verlängerung des Vertrages durch den Auftraggeber um je einen Monat bis Leistungsbeginn nach Zuschlag in EUweitem Vergabeverfahren“- IV.1.1) Verfahrensart: Verhandlungsverfahren ohne vorherige Bekanntmachung; Die Bauleistungen/Lieferungen/Dienstleistungen können aus folgenden Gründen nur von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer ausgeführt werden: nicht vorhandener Wettbewerb aus technischen Gründen; Erläuterung: „Gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b) i. V. m. Abs. 6 VgV kann ein Auftrag ohne vorherigen Wettbewerb vergeben werden, wenn aus techn. Gründen kein Wettbewerb vorhanden ist, es keine vernünftige Alternative oder Ersatzlösung gibt und der mangelnde Wettbewerb nicht das Ergebnis einer künstlichen Einschränkung der Auftragsvergabeparameter ist. Dies ist hier der Fall:
- Der Auftraggeber hat ein förmliches Interessenbekundungsverfahren eingeleitet, um nach Abschluss der Vorbereitung den Auftrag Labor straße in einem Verhandlungsverfahren (VhVf) mit Teilnahmewettbewerb (Interessensbestätigung) zu vergeben. Das Verfahren soll zügig durchgeführt werden.
- Der bisherige Auftrag wurde von der zuständigen Vergabekammer für nichtig erklärt. Zur Überbrückung bis zu dem Zeitpunkt, in dem nach Abschluss des wettbewerbl. VhVf die dort vergebene Leistung bereitsteht, ist ein Interimsauftrag erforderlich. Dieser wird auf einen kurzen Zeitraum begrenzt, bei Verzögerung der Zuschlagserteilung in dem VhVf erfolgt lediglich eine monatsweise Verlängerung.
- Für den Interimszeitraum wird lediglich der aktuelle Zustand verlängert (vgl. z. B. VK Münster, Beschluss vom 18.9.2020 – VK 1-28/20). Für den Interimsauftrag stehen nur die Bestandsräumlichkeiten zur Verfügung. Da bisher keine vollständige Leistungsbeschreibung (LB) vorliegt und ein etwaiger Umbau unter der zwingend erforderlichen Aufrechterhaltung der Leistung zu beschreiben und zu konkretisieren wäre, kann kurzfristig kein neuer Auftrag im Wettbewerb vergeben werden. Eine vernünftige Alternative oder Ersatzlösung ist nicht möglich. Ohne abschließende LB besteht eine erhebliche Gefahr für einen gestörten Projektablauf und eine gestörte Versorgung, was in einer Klinik der Versorgungsstufe II (Schwerpunktversorgung), deren Labor sowohl interne als auch externe Proben in weiten Teilen für die gesamte Gesundheitsregion 10 analysiert, zu einer nicht hinnehmbaren Gefährdung der Patientensicherheit führen würde. Durch die Analyse von PCR-Tests und erhebliche krankheitsbedingte Personalausfälle aufgrund der Covid-19-Pandemie sowie anderer Atemwegserkrankungen ist das Labor zusätzlich stark belastet, so dass etwaige Störungen im Ablauf nicht kompensiert werden können. Der Interimsauftrag wird nur für die Dauer des Verfahrens vergeben. Die sachgerechte Vorbereitung und Durchführung eines Umbaus für diesen Zeitraum ist daher technisch nicht möglich.“
V.2.1) Tag der Zuschlagsentscheidung: 01/02/2023
V.2.4) Angaben zum Wert des Auftrags/Loses/der Konzession (ohne MwSt.): Gesamtwert […]: 1.00 EUR
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Mit Schreiben vom 15.02.2023 rügte die Antragstellerin die beabsichtigte Direktvergabe des vorgenannten Interimsauftrags zur Lieferung einer vollautomatisierten Labor straße an die Beigeladende als vergaberechtswidrig. Die Voraussetzungen einer zulässigen Direktvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b i.V.m. Abs. 6 VgV lägen nicht vor, da die Antragsgegnerin keinen hinreichenden Beweis geführt habe, dass der Interimsauftrag aus technischen, objektiven Gründen ausschließlich durch die Beigeladene erbracht werden könne.
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Mit Schreiben vom 16.02.2023 wies die Antragsgegnerin die Rüge zurück mit dem Argument, dass es objektiv keinem anderen Anbieter als der Beigeladenen möglich sei, den Interimsauftrag kurzfristig zu erbringen.
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Ebenfalls am 16.02.2023 stellte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag mit den Anträgen
1. der Antragsgegnerin zu untersagen, den gegenständlichen Interimsauftrag zur Lieferung einer vollautomatisierten Labor straße, EU-Amtsblatt 2023/S …, im Wege des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b) i.V.m. Abs. 6 VgV an die Beizuladende zu erteilen;
2. der Antragsgegnerin bei fortbestehender Beschaffungsabsicht aufzugeben, den gegenständlichen Interimsauftrag zur Lieferung einer vollautomatisierten Labor straße unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer in einem vergaberechtskonformen Verfahren zu vergeben;
3. hilfsweise: andere geeignete Maßnahmen zur Verhinderung einer Rechtsverletzung der Antragstellerin vorzunehmen;
4. der Antragstellerin gemäß § 165 GWB Einsicht in die Vergabeakte zu gewähren;
5. der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der Rechtsverfolgungskosten der Antragstellerin aufzuerlegen;
6. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin gemäß § 182 Abs. 4 Satz 1 GWB für notwendig zu erklären.
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Die beabsichtigte Direktvergabe des Interimsauftrags zur Lieferung einer vollautomatisierten Labor straße an die Beigeladene sei vergaberechtswidrig, da die Voraussetzungen nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b und Abs. 6 VgV vorliegend nicht gegeben seien. Gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b VgV sei ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zulässig, wenn der Auftrag nur von einem bestimmten Unternehmen erbracht werden kann, weil aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden sei.
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Als Ausnahmetatbestand sei § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b VgV eng auszulegen und anzuwenden. Der Auftraggeber müsse den Nachweis führen, dass das betreffende Unternehmen gleichsam Monopolist der nachgefragten Leistung ist. In dem Fall, dass es generell auch noch andere Unternehmen gibt, welche die Leistung grundsätzlich anbieten, fehle es an dieser Voraussetzung. Zweckmäßigkeitsüberlegungen oder rein wirtschaftliche Vorteile im Falle der Leistungserbringung durch ein bestimmtes Unternehmen reichten nicht aus.
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Vor diesem Hintergrund sei ein Verzicht auf ein wettbewerbliches Verfahren hier nicht gerechtfertigt. Die Antragsgegnerin habe keinen hinreichenden Beweis geführt, dass der Interimsauftrag zur Lieferung einer vollautomatisierten Labor straße aus objektiven Gründen gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b und Abs. 6 VgV einzig an die Beigeladene vergeben werden könne.
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Sofern die Antragsgegnerin den streitgegenständlichen Interimsauftrag damit zu rechtfertigen versuche, dass gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b und Abs. 6 VgV einzig und allein das Laborsystem der Beigeladenden in die vorhandenen Räumlichkeiten passen sollte, sei dieses Argument von vornherein zurückzuweisen. Die VK Südbayern habe entschieden, dass zu ihrer Überzeugung gerade nicht feststehe, dass ausschließlich die Labor straße der Beigeladenden in die vorhandenen Räume eingebracht werden könne.
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Auch das Argument, dass gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b und Abs. 6 VgV aus objektiven Gründen ein Wechsel des Laborbetreibers im laufenden Krankenhausbetrieb unmöglich sei, ohne dass es zu Unterbrechungen der Versorgung käme, sei als unzutreffend abzulehnen. Selbstverständlich sei es der Antragstellerin, wie auch jedem ihrer Wettbewerber, technisch möglich, das Laborsystem auszutauschen, ohne dass es zu einer Unterbrechung der Versorgung komme. Hierfür unterhalte die Antragstellerin, wie jeder andere Wettbewerber auch, eine eigene Abteilung, die die Migration des Bestandssystems auf das eigene System vorbereite und durchführe. Grundsätzlich seien dabei immer mehrere Szenarien für die Umstellung denkbar. Diese reichten von der Errichtung einer kompletten Nachbildung des vorhandenen Systems bis hin zu einer sukzessiven Ablösung der einzelnen Geräte. Ebenfalls sei es darstellbar, die Übergangsysteme in Ausweichräumen oder – sofern keine ausreichenden Kapazitäten vorhanden seien – beispielsweise in Containern zu errichten.
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Dass ein Betreiberwechsel im laufenden Betrieb technisch möglich sei, ohne dass die Versorgung gestört wird, habe die Antragsgegnerin ihrerseits in der mündlichen Verhandlung am 25.11.2022 bestätigt. Die Antragsgegnerin habe ausgeführt, dass Backup-Geräte in einem parallelen Raum bereitstanden, während die Bestandsgeräte durch die Geräte der Beigeladenen ausgetauscht wurden. Offensichtlich sei der Wechsel des Laborbetreibers im laufenden Betrieb daher objektiv möglich.
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Es sei nicht gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b und Abs. 6 VgV objektiv unmöglich, für die Dauer des Interimsauftrags den interimistischen Laborbetrieb im Wettbewerb zu vergeben. Dies begründe bereits kein technisches Alleinstellungsmerkmal, sondern erfordere allenfalls einen Planungsaufwand, der durch § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b VgV aber gerade nicht geschützt werde.
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Der Einwand der Antragsgegnerin, dass für den Interimsauftrag keine Leistungsbeschreibung vorliege, sei als unzutreffend zurückzuweisen. Die Beigeladene erbringe seit Anfang des Jahres 2022 ihre Laborleistungen, die unverändert Gegenstand des beabsichtigten Interimsauftrags sind, auf der Grundlage der Leistungsbeschreibung vom 08.03.2021. Ausweislich des Vortrags der Antragsgegnerin im Verfahren zum Aktenzeichen 3194.Z3-3_01-22-2 basiere diese Leistungsbeschreibung auf denselben Leistungsanforderungen des Vergabeverfahrens aus dem Jahr 2019. Dass sich die zu prüfenden Parameter seit dem Jahr 2019 (mit Ausnahme der Hinzunahme von einem einzigen Parameter) nicht geändert haben, habe ein Vertreter der Antragsgegnerin in der mündlichen Verhandlung vor der Vergabekammer Südbayern am 25.10.2022 bestätigt. Dieselbe fertige Leistungsbeschreibung, nebst vollständiger Parameterliste, könnte daher ohne nennenswerten Änderungsbedarf für die Verhandlung des Interimsauftrags verwendet werden.
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Die Vorinformation mit Aufruf zum Wettbewerb für ein Vergabeverfahren zur Lieferung einer vollautomatisierten Labor straße sei erst Mitte Januar 2023 veröffentlicht worden. Für das sich hieran anschließende Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb sei realistisch mit einer Verfahrensdauer von sechs bis neun Monaten zu rechnen. Dies beinhalte keine Verzögerungen, die im Falle etwaiger Nachprüfungsverfahren entstünden. Es sei daher festzuhalten, dass zwischen der Entscheidung der Vergabekammer Südbayern, dass der Vertrag mit der Beigeladenen nichtig ist, und der voraussichtlichen Beendigung des wettbewerblichen Verfahrens bis zu ein Jahr vergehen kann. Im Falle eines Nachprüfungsverfahrens könne der Interimsauftrag sogar noch wesentlich länger andauern. Der Wechsel des Laborbetreibers sowie der abgeschlossene Umbau der Labor straße sei in wenigen Monaten möglich. Dieser Zeitraum werde benötigt, um die Migrationsleistungen zur Bereitstellung der im wettbewerblichen Verfahren bestellten Systeme zu erbringen und die Mitarbeitenden des Klinikums zu schulen.
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Erheblich weniger Zeit sei jedoch erforderlich, um die hier streitgegenständliche Interimslösung zur Nutzung durch die Antragsgegnerin bereitzustellen. Die Planung, Lieferung und Inbetriebnahme einer Interimslösung sei damit in deutlich weniger als drei Monaten möglich.
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Die Antragsgegnerin habe die Umstände, die zur Vergabe des streitgegenständlichen Interimsauftrags führten, selbst zu vertreten. Sie habe die mit der Beigeladenen geschlossenen Verträge in Kenntnis ihrer Nichtigkeit nach § 134 BGB dahingehend umgesetzt, dass sie die Beigeladene damit beauftragt habe, das Bestandssystem noch während des anhängigen Nachprüfungsverfahrens auszutauschen. Es sei der Antragsgegnerin daher zuzurechnen, dass der streitgegenständliche Interimsauftrag überhaupt erforderlich wurde. Hätte die Antragsgegnerin sich gesetzesmäßig verhalten und die Beigeladene über das Zuschlagsverbot informiert bzw. jedenfalls während des anhängigen Nachprüfungsverfahrens nicht das Bestandssystem ausgetauscht, wäre es heute nicht erforderlich, die bereits seit über einem Jahr bestehende, vergaberechtswidrige Interimsbeauftragung der Beigeladenen durch diese nachgeschobene ex-ante Bekanntmachung zu legitimieren.
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Mit Schreiben vom 02.03.2023 erwiderten die Bevollmächtigten der Antragsgegnerin auf den Nachprüfungsantrag und beantragten
1. Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragsgegnerin wird für notwendig erklärt.
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Die Antragsgegnerin wies zunächst darauf hin, dass seit dem Beschluss der Vergabekammer kein Vertrag zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen vorliege.
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Die Antragsgegnerin stellte dar, dass sie seit Ende November 2022 an den Unterlagen für die Durchführung eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens arbeite, dies aber umfangreich und aufwendig sei und sie hierzu mittlerweile externe Fachberater beauftragt habe, die sie bei der Erstellung der fachlichen Unterlagen unterstützen sollen.
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Um den ernstlichen Willen der Antragsgegnerin, die Beschaffung einer neuen Labor straße unter Beachtung der Vorgaben der Vergabekammer Südbayern möglichst rasch umzusetzen, nach außen transparent zu machen, habe die Antragsgegnerin ein Interessenbekundungsverfahren eingeleitet und hierfür mit Bekanntmachung vom 20.01.2023 eine Vorinformation mit Aufruf zum Wettbewerb nach § 38 Abs. 5 VgV im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.
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Der Betrieb des Labors, welches derzeit mit Geräten der Beigeladenen ausgestattet sei, könne nicht ohne die Gefährdung der Patientenversorgung und -sicherheit ausgesetzt oder unterbrochen werden. In dem Labor würden nicht nur alle Patientenproben für die Klinik der Antragsgegnerin analysiert, sondern in weiten Teilen auch für die gesamte Gesundheitsregion 10. Der kontinuierliche und unterbrechungsfreie Laborbetrieb sei daher als wesentlicher Teil des Klinikbetriebs und damit als Teil der Daseinsvorsorge unverzichtbar. Dabei könne der Laborbetrieb, wie in der freiwilligen ex-ante Bekanntmachung vom 06.02.2023 aufgeführt, nur in den Bestandsräumlichkeiten durchgeführt werden. Eine Auslagerung der Laboranalysen an ein externes Labor sei interimistisch nicht möglich. In eiligen Fällen, insbesondere im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung von Operationen, in der Intensivmedizin, bei Notfällen, bei stationär untergebrachten Patienten, in der Notaufnahme sowie im regulären Klinikbetrieb müssten Analysen sehr kurzfristig innerhalb von deutlich weniger als einer Stunde vorliegen, was bei allen Witterungs- und Verkehrsverhältnissen gelte. Eine Sammlung von Proben sowie deren Transport und Bearbeitung innerhalb eines Tages oder jedenfalls innerhalb mehrerer Stunden, wie dies bei der Probenahme bei niedergelassenen Ärzten mit anschließender Analyse in einem externen Labor üblich sei, sei daher nicht möglich.
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Um den vergaberechtswidrigen Zustand im Hinblick auf den Vollzug des nichtigen Vertrags umgehend zu beseitigen, beabsichtige die Antragsgegnerin für den Zeitraum bis zur Erteilung des Zuschlags einen Interimsauftrag an die Beigeladene zu vergeben und habe hierzu mit dieser kurzfristig Vertragsverhandlungen geführt. Da hinsichtlich der auszuschreibenden Leistung derzeit noch nicht alle Informationen, Rahmenbedingungen und Leistungsteile feststehen würden und die Leistung sofort und ohne Unterbrechung zur Verfügung stehen müsse, sei nur die Beigeladene in der Lage, in den vorgegebenen Räumlichkeiten die Leistung unmittelbar aufzunehmen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass derzeit kein Vertrag vorliege und damit auch keine Verpflichtung der Beigeladenen, Leistungen zu erbringen. Der vertragslose Zustand sei daher für die Antragsgegnerin mit einem ganz erheblichen Risiko verbunden.
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Bis zur Inbetriebnahme der auszuschreibenden Leistung im Hauptauftrag könne die Antragsgegnerin nicht auf ihren Laborbetrieb verzichten. Mit der in Rede stehenden Laborausstattung werde der gesamte Laborbetrieb bestritten. Die Einstellung des Laborbetriebs würde den Klinikbetrieb als Teil der kritischen Infrastruktur und Daseinsvorsorge in erheblichem Maß stören, was in einer Phase, die von hohen Belegungszahlen geprägt sei, zu einer nicht hinnehmbaren Gefährdung der Patientensicherheit führen würde.
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Aus diesem Grund sei ein Interimsauftrag zur vorübergehenden Bedarfsdeckung und begrenzt auf den erforderlichen Überbrückungszeitraum zulässig. Dies gelte vorliegend unabhängig von der Frage, ob die Antragsgegnerin die Umstände, die zu der Vergabe des streitgegenständlichen Interimsauftrags führten, selbst zu vertreten habe.
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Die Direktvergabe des Interimsauftrags an die Beigeladene sei zulässig, da für den Interimsauftrag lediglich eine Fortführung der aktuell erbrachten Leistung in Betracht komme und daher kein Wettbewerb bestehe, in welchem ein Interimsauftrag vergeben werden könnte.
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Im Rahmen des Interimsauftrags als „Überbrückungsvergabe“ sei die Leistung dringlich, da die Antragsgegnerin ihren Pflichten im Rahmen der Daseinsvorsorge nachkommen müsse. Nach Einschätzung der Antragsgegnerin sei kein anderer Anbieter in der Lage, eine voll funktionsfähige Leistung nach den Anforderungen des Auftraggebers unverzüglich zur Verfügung zu stellen. In einem solchen Fall sei die Fortführung des aktuellen Zustands zulässig.
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Selbst wenn die Auftragsgegnerin die Umstände, die zu dem Bedürfnis eines Interimsauftrags führten, zu vertreten hätte, sei von der Rechtsprechung anerkannt, dass im Bereich der Daseinsvorsorge bei für die Allgemeinheit unverzichtbaren Leistungen eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zulässig sei, weil der Aspekt der Zurechenbarkeit hinter der Notwendigkeit der Kontinuität der Leistungserbringung zurücktrete (vgl. z. B. OLG Frankfurt, Beschluss vom 24.11.2022 – 11 Verg 5/22; VK Lüneburg, Beschluss vom 03.02.2012 – VgK-01/2012).
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Es liege keine Leistung vor, bei der ein Interimsauftrag im Wettbewerb vergeben werden könne. Die in Rede stehende Leistung eines Laborvollautomationssystems bestehe nicht aus einfachen Anlagen, die fertig konzipiert beschafft werden könnten. Vielmehr seien solche Systeme in jedem Einzelfall für die verfügbaren Räumlichkeiten zusammenzustellen und zu konzipieren. Die Wahl der Komponenten, ihre Zusammenstellung, die Anpassung, Anordnung und Verbindung der Komponenten seien sehr individuell und bedürften einer Festlegung und Abstimmung mit dem Anbieter.
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Daher lägen hier besondere Umstände vor, die eine Direktvergabe im Einzelfall rechtfertigen, da die Einbeziehung mehrerer an der Leistung interessierter Bieter nicht ohne einen großen Zeitverlust möglich sei (vgl. z. B. OLG Frankfurt, Beschluss vom 24.11.2022 – 11 Verg 5/22; BayObLG, Beschluss vom 31.10.2022 – Verg 13/22 V). Wie die Antragstellerin selbst bestätigt habe, sei für die Leistungserbringung neben dem Wettbewerb eine mehrmonatige Phase der Planung, Installation und Migration eines neuen Systems im laufenden Betrieb anzusetzen, was ein gewisses Maß an Aufwand erfordere. Dieser Aufwand werde im Rahmen des förmlichen Vergabeverfahrens in dem Hauptauftrag berücksichtigt. Die Antragsgegnerin sei jedoch bereits jetzt auf die kontinuierliche Leistungsbringung angewiesen, um den Laborbetrieb des Krankenhauses aufrechtzuerhalten.
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Hinzu komme der Umstand, dass die Vorbereitung eines wettbewerblichen Verfahrens noch in Gang sei, so dass bisher keine vollständigen abgeschlossenen Vergabeunterlagen vorliegen, die die Leistung und die Rahmenbedingungen für die Leistungserbringung vollumfänglich beschreiben würden. Anders als die Antragstellerin behaupte, könne die Antragsgegnerin hierbei nicht auf eine fertige alte Leistungsbeschreibung aus dem Jahr 2019 zurückgreifen, da diese nicht mehr den Anforderungen des Auftraggebers entspreche und nicht die aktuellen Rahmenbedingungen widerspiegle.
45
Am 07.03.2023 veröffentlichte die Antragsgegnerin eine weitere freiwillige Ex-ante-Transparenzbekanntmachung unter Nr. 2023/S. 047-139828. Diese sollte nach Angaben der Antragsgegnerin der Korrektur der ersten Ex-ante-Transparenzbekanntmachung vom 16.02.2023 dienen und enthielt insbesondere Änderungen in der Beschreibung der Beschaffung (Laufzeit 3 Monate), des Gesamtwerts der Beschaffung (354.000 Euro) und den Erläuterungen zur Verfahrensart.
46
Mit Schreiben vom 09.03.2023 rügte die Antragstellerin die zweite Ex-ante-Transparenzbekanntmachung vom 07.03.2023 als vergaberechtswidrig. Sie machte geltend, dass die fehlerhafte Korrekturbekanntmachung seitens der Antragsgegnerin dazu führe, dass zwei Ex-ante-Transparenzbekanntmachungen nebeneinanderstünden, die sich inhaltlich voneinander unterscheiden. Hiermit entstehe aus dem Empfängerhorizont eines nicht mit den Hintergründen der Verfahrenssituation vertrauten Unternehmens der Eindruck, dass die Antragsgegnerin zwei Interimsaufträge zu vergeben beabsichtige.
47
Ebenfalls mit Schreiben vom 09.03.2023 half der Antragsgegnerin der Rüge ab und versicherte gegenüber der Antragstellerin, dass es sich nicht um zwei Interimsaufträge, sondern lediglich um einen Interimsauftrag handle. Die zweite Ex-ante-Transparenzbekanntmachung vom 07.03.2023 diene lediglich der Korrektur der ersten Ex-ante-Transparenzbekanntmachung vom 06.02.2023.
48
Mit Schreiben vom 20.03.2023 nahm die Antragstellerin nochmals Stellung und wiederholte und vertiefte ihre Argumentation, dass die Voraussetzungen von § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b VgV nicht vorlägen. Die Vergabe des Interimsauftrags lasse sich auch nicht mit Erwägungen der Daseinsvorsorge rechtfertigen. Erwägungen der Daseinsvorsorge seien in der Rechtsprechung bislang ausschließlich im Zusammenhang mit Dringlichkeitsvergaben nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV thematisiert werden. Nach einer von einem Teil der Rechtsprechung vertretenen Ansicht solle eine Dringlichkeitsvergabe im Bereich der Daseinsvorsorge ausnahmsweise auch dann zulässig sein, wenn der Auftraggeber die Dringlichkeit mitverursacht hat. In solchen Fällen solle der Aspekt der Zurechenbarkeit der Dringlichkeit hinter die Notwendigkeit der Kontinuität der Versorgungsleistung zurücktreten (BayObLG, Beschluss vom 31.10.2022 – Verg 13/22; OLG Frankfurt, Beschluss vom 30.1.2014 – 11 Verg 15/13). Auf den hier zur Entscheidung gestellten Sachverhalt sei diese Rechtsprechung schon deshalb nicht übertragbar, weil die Antragsgegnerin die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb nicht mit einer besonderen Dringlichkeit (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV), sondern mit technischen Besonderheiten (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b VgV) zu begründen versuche.
49
Auf die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV komme es vorliegend nicht an. Im Rahmen des § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b VgV stelle sich die Frage, ob der Auftraggeber das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Ausnahmetatbestands zu vertreten hat, überhaupt nicht.
50
Mit Schreiben vom 23.03.2023 erteilte die Vergabekammer der Antragsgegnerin den rechtlichen Hinweis, dass die Absicht der Antragsgegnerin, die Nutzung der in ihren Räumlichkeiten aufgrund der vergaberechtswidrigen Direktvergabe aus dem Jahr 2021 vorhandenen Labor straße zumindest für einen Übergangszeitraum nachträglich durch eine Direktvergabe zu „legalisieren“, auch unter Berücksichtigung dessen, dass die Antragsgegnerin Leistungen der Daseinsvorsorge zu erfüllen habe, bereits im Ansatz fragwürdig sei.
51
Die Antragstellerin habe zurecht darauf hingewiesen, dass ein öffentlicher Auftraggeber nach der Feststellung der Nichtigkeit des von ihm geschlossenen Vertrags, diesen grundsätzlich rückabzuwickeln habe.
52
Auch bei einem öffentlichen Auftraggeber, der Leistungen der Daseinsvorsorge zu erbringen habe, die nicht unterbrochen werden dürfen, begegne es grundsätzlichen Bedenken, wenn dieser versuche, die in einem unzulässigen nicht wettbewerblichen Verfahren beschafften Leistungen nach einer bestandskräftigen Nichtigkeitsfeststellung durch eine ebenfalls nicht wettbewerbliche Interimsvergabe einfach weiter zu nutzen.
53
Es sei zudem durchaus zweifelhaft, ob die durch die Notwendigkeit, die Laborleistungen zur Gewährleistung des Krankenhausbetriebs dauerhaft aufrechtzuerhalten, verursachte Dringlichkeit im Rahmen der Prüfung eines Alleinstellungsmerkmals i.S.d. § 14 Abs. 4 Nr. 2b) VgV berücksichtigt werden könne. Derartige Fragen seien bislang ausschließlich im Rahmen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV diskutiert worden. Sollte sich die Antragsgegnerin hierauf berufen wollen, müsste ggf. die Entscheidung des EuGH auf das Vorabentscheidungsersuchen des OLG Düsseldorf vom 15.02.2023 – Verg 9/22 abgewartet werden, da die Dringlichkeit hier durch das vergaberechtswidrige Vorverhalten der Antragsgegnerin verursacht worden sei.
54
Die Vergabekammer bat vor diesem Hintergrund um Prüfung, ob die Antragsgegnerin eine Erledigung des Nachprüfungsverfahrens herbeiführen könnte, indem sie dem Nachprüfungsantrag dadurch abhelfe, dass sie der Antragstellerin die Möglichkeit eröffne, sich an dem Verfahren über die Vergabe der interimsweisen Leistung mit einem Angebot zu beteiligen.
55
Die Antragsgegnerin könne sich nach der vorläufigen Rechtsauffassung der Vergabekammer auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass eine vergabereife Leistungsbeschreibung als Grundlage für eine Auftragsvergabe im Wettbewerb noch nicht vorliege, da sie jedenfalls imstande sein müsse, die von ihr (aktuell) benötigte Leistung ggf. funktional zu beschreiben.
56
Mit Schreiben vom 03.04.2023 nahm die Antragsgegnerin zum Vortrag der Antragstellerin und zum rechtlichen Hinweis der Vergabekammer Stellung.
57
Sie wies darauf hin, dass ihr trotz intensiver Bearbeitung bisher keine Leistungsbeschreibung vorliege, die den Mindestanforderungen für eine Interimsvergabe genügen würde. Wegen der Bedeutung eines funktionierenden Labors für die Arbeit der Klinik und die Patientenversorgung könnten diese Maßstäbe für eine Leistungsbeschreibung nicht niedrig angesetzt werden. Dies führe dazu, dass eine ausreichende Schilderung der erforderlichen Leistungen, wie sie auch für eine interimistische Auftragsvergabe zwingend erforderlich sei, als Grundlage für eine Interimsvergabe im Wettbewerb derzeit nicht möglich sei. Insbesondere sei nicht möglich, die Leistung für den Interimsauftrag in anderer Form zu beschreiben als für den Hauptauftrag oder bei den Anforderungen an die Leistung in Art und Güte signifikant nach unten abzuweichen, weil sonst die Erfüllung des Versorgungsauftrags des Klinikums der Versorgungsstufe II gefährdet wäre.
58
Die benötigte Leistung könne auch für einen interimistischen Übergangszeitraum nicht funktional beschrieben werden, da es der Antragsgegnerin aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Erfassung des Ist-Zustands nicht möglich sei, die Anforderungen an die komplexe Leistung darzustellen, mittels derer sie die Beschaffung im Erfolgsfall als erfüllt ansehe. Es genüge nicht, im Rahmen einer funktionalen Leistungsbeschreibung beispielsweise nur die zu analysierenden Parameter anzugeben, da eine Labor straße für ihren erfolgreichen und reibungslosen Betrieb individuell auf die Bedürfnisse des Anwenders zugeschnitten, konfiguriert und angepasst werden müsse. Für die Konzeption einer anforderungsgerechten Lösung und die Erstellung und Kalkulation eines Angebots müssten den Unternehmen alle Informationen zu Analysezahlen und dem Workflow, dem IT-Konzept, den örtlichen Gegebenheiten (Standort, Wasseranschlüsse, Elektroanschlüsse etc.) sowie den arbeits- und datenschutzrechtlichen internen und gesetzlichen Vorgaben mitgeteilt werden. Diese Daten lägen derzeit noch nicht oder nicht in einer für ein Vergabeverfahren im Wettbewerb erforderlichen transparenten, anbieterneutralen und vollständigen Form vor.
59
Ein Wettbewerb über den Interimsauftrag könne aufgrund der dringend benötigten Leistungen nicht durchgeführt werden. Die Vorbereitung und Definition der Anforderungen, die Durchführung eines Verfahrens im Wettbewerb, die Besprechung und Verhandlung möglicher Umsetzungen und schließlich die Konzeption, Vorbereitung, Einbringung und Migration der Systeme würden mehrere Monate in Anspruch nehmen. Im Übrigen wäre die Antragsgegnerin während der gesamten Verifizierungsphase neuer Geräte auf die bestehenden Geräte der Beigeladenen angewiesen. Die bestehenden Geräte wären nicht nur für den weiteren Betrieb des Labors erforderlich, sondern müssten auch im Rahmen der Verifizierung der neuen Geräte herangezogen werden. Eine Verifizierung neuer Geräte ohne Einbeziehung der Bestandsgeräte sei nicht möglich.
60
Neben den technischen Gründen, die ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vorliegend rechtfertigten, bestünden auch äußerst dringliche, zwingende Gründe i.S.d. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV. Der weiterhin bestehende vertragslose Zustand sei für die Antragsgegnerin unzumutbar, da sie die Aufrechterhaltung der Leistung und damit des Laborbetriebs ohne einen wirksamen Vertrag nicht sicherstellen könne.
61
Die Durchführung eines regulären Vergabeverfahrens würde selbst unter maximaler Reduzierung der Fristen wenigstens einige Wochen in Anspruch nehmen. Dies sei für die Antragsgegnerin, die die Aufrechterhaltung des notwendigen Laborbetriebs gewährleisten müsse, nicht zumutbar, da der Leistungserbringer ohne eine vertragliche Grundlage nicht zur Aufrechterhaltung seiner Leistung verpflichtet sei und diese jederzeit einstellen könne. Dies stelle ein erhebliches Risiko für die Unterbrechung des Laborbetriebs und damit der Patientensicherheit dar. In der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung sei anerkannt, dass etwaige Verschuldensgesichtspunkte auf Auftraggeberseite für die Dringlichkeitssituation im Rahmen der Bereitstellung von unverzichtbaren Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie im Rahmen der Gefahrenabwehr bei Interimsvergaben unerheblich sind.
62
Am 07.04.2023 veröffentlichte die Antragsgegnerin eine weitere freiwillige Ex-ante-Transparenzbekanntmachung unter Nr. 2023/S. 070-213462. Diese sollte nach Angaben der Antragsgegnerin der Korrektur der beiden vorangegangenen Ex-ante-Transparenzbekanntmachungen dienen und enthielt insbesondere Änderungen in den Erläuterungen zur Verfahrensart.
63
Ziffer IV.1.1) Verfahrensart: Verhandlungsverfahren ohne vorherige Bekanntmachung, lautete auszugsweise wie folgt:
„1. […] Eine vernünftige Alternative oder Ersatzlösung, insb. Analysen durch externes Labor, ist auch interimistisch nicht möglich. Z.B. bei Operationen, Intensivmedizin, Notaufnahme sowie Regularbetrieb müssen Analysen sehr kurzfristig, tw. unter einer Stunde vorliegen, unabhängig von Witterungs- und Verkehrsverhältnissen. Dies kann mit externem Labor nicht gewährleistet werden.
2. Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ebenfalls gegeben:
Äußerst dringliche, zwingende Gründe: Aufgrund vertragslosen Zustands kann AG Aufrechterhaltung des im Allgemeininteresse/Daseinsvorsorge liegenden Laborbetriebs nicht sicherstellen. Zeitliche Verzögerung des vertragslosen Zustands selbst durch einen (verkürzten) Wettbewerb einschl. d erforderl. Migrations-u Testphase ist für den AG wegen Klinikbetrieb unzumutbar. Leistungserbringer könnte Leistung ohne Vertrag jederzeit einstellen, so dass keine Diagnosen mehr möglich wären, was Patientensicherheit erheblich gefährden würde. Voraussehbarkeit/Verschulden des AG muss iRe Abwägung im Einzelfall hinter die Notwendigkeit der Kontinuität der Laborleistung als Teil der Daseinsvorsorge zurücktreten. Die grds. bestehende Rückbauverpflichtung wg. nichtigem Vertrag wird ausnahmsweise durch Anforderungen der dringlichen Daseinsvorsorge überlagert.
64
Mit Schreiben vom 26.05.2023 bestellte sich die Bevollmächtige der Beigeladenen und erklärte, sich bis auf Weiteres nicht aktiv am Nachprüfungsverfahren zu beteiligen und keine Anträge zu stellen. Die Beigeladene bestätige lediglich den Vortrag der Parteien, dass die Installation und Konfiguration einer neuen Laborautomation mehrere Monate umfasst und technisch sehr aufwändig ist. So habe die Installation des bei der Antragsgegnerin im Einsatz befindlichen Systems der Beigeladenen in zwei Phasen und jeweils mehreren Meilensteinen den Zeitraum vom 31.01.2022 bis zum 27.09.2022 umfasst. Der Abschlussbericht mit einer detaillierten Darstellung aller Prozessschritte habe mehr als 30 Seiten umfasst.
65
Am 13.06.2023 fand in den Räumen der Regierung von Oberbayern die mündliche Verhandlung statt. Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Die Verfahrensbeteiligten hatten Gelegenheit zum Vortrag. Auf Nachfrage der Vergabekammer teilte die Antragsgegnerin bzgl. des Standes des Hauptsacheverfahrens mit, dass die Frist für den Eingang der Teilnahmeanträge (als Interessensbestätigungen) auf Anfrage eines Unternehmens bis zum 23.06.2023 verlängert worden sei. Es lägen mittlerweile die Vergabeunterlagen und eine Leistungsbeschreibung vor. Im Idealfall könnten Erstangebote noch vor der Sommerpause eingeholt werden. Weiterhin teilte die Antragsgegnerin auf Nachfrage der Vergabekammer mit, dass der Vertrag zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen nach der Entscheidung der Vergabekammer vom 08.11.2022 ohne wesentliche Änderungen fortgeführt werde.
66
Die Beteiligten wurden durch den Austausch der jeweiligen Schriftsätze informiert. Auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer, die Niederschrift der mündlichen Verhandlung sowie auf die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, wird ergänzend Bezug genommen.
II.
67
Die Vergabekammer Südbayern ist für die Überprüfung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens zuständig.
68
Die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Vergabekammer Südbayern ergibt sich aus §§ 155, 156 Abs. 1, 158 Abs. 2 GWB i. V. m. §§ 1 und 2 BayNpV. Gegenstand der Vergabe ist ein Liefer-/Dienstleistungsauftrag i. S. d. § 103 Abs. 2 und 4 GWB. Die Antragsgegnerinist Auftraggeber gemäß §§ 98, 99 Nr. 2 GWB. Der geschätzte Gesamtauftragswert überschreitet den gemäß § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert.
69
Eine Ausnahmebestimmung der §§ 107 – 109 GWB liegt nicht vor.
70
1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
71
Der in den Ex-ante-Transparenzbekanntmachungen vom 06.02.2023, 07.03.2023 und 07.04.2023 angekündigte Interimsauftrag ist vor Übermittlung des Nachprüfungsantrags an die Antragsgegnerin nach § 169 Abs. 1 GWB am 16.02.2023 nicht abgeschlossen worden.
72
Gemäß § 160 Abs. 2 GWB ist ein Unternehmen antragsbefugt, wenn es sein Interesse am Auftrag, eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB und zumindest einen drohenden Schaden darlegt.
73
Die Antragstellerin hat ihr Interesse am Auftrag zwar nicht durch die Abgabe eines Angebots nachweisen können, weil die Antragsgegnerin keine wettbewerbliche Vergabe durchgeführt hat. Sie hat ihr Interesse am Auftrag aber durch den streitgegenständlichen Nachprüfungsantrag sowie durch die Führung des vorausgehenden Nachprüfungsverfahren mit dem Gz.: 3194.Z3-3_01-22-2 nachgewiesen. Die Antragstellerin ist Anbieterin der von der Antragsgegnerin gesuchten Laboreinrichtungen. Es ist nicht erkennbar, dass sie mit diesem Nachprüfungsantrag einen anderen Zweck verfolgt, als den, den strittigen Auftrag zu erhalten.
74
Die Antragstellerin hat eine Verletzung in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB insbesondere dadurch geltend gemacht, dass die Antragsgegnerin beabsichtigt, den Interimsauftrag über die streitgegenständlichen Leistungen eines Laborvollautomationssystems direkt an die Beigeladene zu vergeben. Die Antragstellerin vertritt die Ansicht, dass die Voraussetzungen für ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b VgV bzw. nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV nicht vorliegen.
75
Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags steht auch keine Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1GWB entgegen, dadie Antragstellerin die Absicht der Antragsgegnerin, die Interimsleistung direkt an die Beigeladenen zu vergeben, nach der Ex-ante-Transparenzbekanntmachungen vom 06.02.2023 am 15.02.2023 und damit innerhalb der 10-Tagesfrist gerügt hat.
76
2. Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet.
77
Es liegen weder die Voraussetzungen für eine Interimsvergabe im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b i.V.m. Abs. 6 VgV noch nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vor.
78
Die Gewährung effektiven Rechtsschutzes für die Antragstellerin erfordert es hier zwingend, der Antragsgegnerin die von ihr beabsichtigte Interimsvergabe zu untersagen, deren Ziel es ist, die Rechtsfolgen aus dem bestandskräftigen Beschluss der Vergabekammer Südbayern vom 08.11.2022 – 3194.Z3-3_01-22-2 für einen (von der Antragsgegnerin beliebig verlängerbaren) Interimszeitraum zu umgehen.
79
2.1 Die Voraussetzungen für eine Direktvergabe der Interimsleistungen an die Beigeladene nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b i.V.m. Abs. 6 VgV liegen nicht vor.
80
Die Vorschrift des § 14 Abs. 4 Nr. 2 VgV, die Art. 32 Abs. 2 lit. b der RL 2014/24/EU umsetzt, ist als Ausnahmetatbestand eng auszulegen und anzuwenden. Angesichts der negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb sollten Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung nur unter sehr außergewöhnlichen Umständen zur Anwendung kommen. Die Ausnahme sollte auf Fälle beschränkt bleiben, in denen von Anfang an klar ist, dass eine Veröffentlichung nicht zu mehr Wettbewerb oder besseren Beschaffungsergebnissen führen würde, nicht zuletzt, weil objektiv nur ein einziger Wirtschaftsteilnehmer in der Lage ist, den Auftrag auszuführen (Erwägungsgrund 50 der RL 2014/24/EU). Der öffentliche Auftraggeber hat dabei das objektive Fehlen von Wettbewerb darzulegen und zu beweisen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.07.2017, VII-Verg 13/17). Hierbei sind stichhaltige Belege beizubringen, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen ergibt (EuGH, Urteil vom 15.10.2009, C-275/08; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18.12.2013, VII-Verg 24/13). Die Gründe für die Wahl des Verfahrens sind ordnungsgemäß und sorgfältig sowie vor allem nachvollziehbar vom öffentlichen Auftraggeber zu dokumentieren (Markpert, in: Heuvels/Höß/Kuß/Wagner, Vergaberecht, § 14 VgV, Rn. 36).
81
Dass generell mehrere Anbieter in der Lage sind, die streitgegenständlichen Leistungen in den Bestandsräumen der Antragsgegnerin zu erbringen, ist mittlerweile zwischen den Beteiligten unstreitig. Die Antragsgegnerin bereitet selbst ein Vergabeverfahren für die wettbewerbliche Vergabe der Leistung vor.
82
Die Tatsache, dass die Leistung nach Ansicht der Antragsgegnerin dringlich ist, weil die Laborleistungen nicht unterbrochen werden dürfen und keine vertragliche Verpflichtung der Beigeladenen zu Leistung besteht, führt nicht zur Zulässigkeit eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb zur Direktbeauftragung der Beigeladenen nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b i.V.m. Abs. 6 VgV.
83
Der zeitliche Aspekt, dass nur die Beigeladene ohne zeitliche Verzögerung und ohne Umbaumaßnahmen sofort die Leistung dadurch erbringen kann, dass die unter Verstoß gegen das Vergaberecht beschaffte Labor straße entgegen der Vorgaben des bestandskräftigen Beschlusses der Vergabekammer Südbayern vom 08.11.2022 – 3194.Z3-3_01-22-2 unverändert weiter benutzt wird, begründet kein technisches Alleinstellungsmerkmal. Die von der Antragsgegnerin angenommene Dringlichkeit kann nur im Rahmen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV eine Rolle spielen, weil sonst die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe, insbesondere die Unvorhersehbarkeit der äußerst dringlichen, zwingenden Gründe und die Voraussetzung, dass die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein dürfen, umgangen würden.
84
Würde man den zeitlichen Aspekt, dass eine bestimmte Leistung nur von einem Unternehmen sofort und bruchlos erbracht werden kann, zur Begründung eines Alleinstellungsmerkmals nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b i.V.m. Abs. 6 VgV zulassen, hätte es der Auftraggeber in der Hand, durch Verzögerung der Beschaffung bis entsprechender Zeitdruck erreicht ist, in entsprechende Direktvergabe erreichen zu können.
85
2.2 Im vorliegenden Fall kann ungeachtet dessen, dass die Antragsgegnerin Leistungen der Daseinsvorsorge zu erbringen hat, die nicht unterbrochen werden dürfen, auch keine Direktvergabe der Interimsleistungen an die Beigeladene nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zugelassen werden.
86
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV liegen offensichtlich nicht vor.
87
Für die Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, der Art. 32 Abs. 2 lit. c der Vergaberichtlinie 2014/24/EU umsetzt, müssen drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein (EuGH, Urteil vom 15.10.2009, Rs. C-275/08). Es müssen ein unvorhersehbares Ereignis, dringliche und zwingende Gründe, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen, und ein Kausalzusammenhang zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den sich daraus ergebenden dringlichen, zwingenden Gründen gegeben sein (EuGH, a.a.O.). Der öffentliche Auftraggeber darf die bestehende Dringlichkeitssituation folglich nicht selbst herbeigeführt haben (BayObLG, Beschluss vom 20.01.2022 – Verg 7/21; OLG Düsseldorf; Beschluss vom 14.12.2022 – Verg 1/22).
88
Im vorliegenden Fall ist bereits die objektive Dringlichkeit der Leistung in Zweifel zu ziehen. Die Antragsgegnerin und die Beigeladene führen die von Anfang an nichtigen Verträge „Mietvertrag und Reagenzien-Liefervereinbarung“, „Vertrag über AlinlQ/Softwareprodukte und Professionelle Dienstleistungen“ und „Auftragsverarbeitungsvertrag über die Verarbeitung personenbezogener Daten im Auftrag gemäß Artikel 28 EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) inklusive Fernzugriff und/oder Fernwartung von Analysensystemen“ seit Anfang Januar 2022 durch. Daran hat sich auch durch den bestandskräftigen Beschluss der Vergabekammer Südbayern vom 08.11.2022 – 3194.Z3-3_01-22-2 nichts geändert, wie die Antragsgegnerin in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat. Die Beigeladene hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie sich verpflichtet sehe, die Leistungen trotz der Nichtigkeit des Vertrags weiterzuführen. Die fortgesetzte Leistungserbringung stellt für die Beigeladene eine Möglichkeit dar, ihren Aufwand zumindest teilweise zu amortisieren.
89
Wenn man dennoch aufgrund der vertragslosen Leistungserbringung, die die Beigeladene – theoretisch – stets einstellen könnte, eine Dringlichkeitssituation sehen würde, wäre diese für die Antragsgegnerin nicht nur vorhersehbar gewesen, sondern wurde von ihr auch verschuldet. Die Antragsgegnerin hat diese Situation durch ihr vergaberechtswidriges Vorverhalten aktiv herbeigeführt und keinerlei Anstalten unternommen, sie zu vermeiden.
90
Die Antragsgegnerin hat im ersten Halbjahr 2022 in Kenntnis der laufenden Nachprüfungsverfahren mit den Gz. 3194.Z3-3_01-22-2 und 3194.Z3-3_01-22-6 auf eigenes Risiko die vorher genutzte Labor straße ausbauen lassen und die arbeits- und zeitaufwendige Migration auf die Labor straße der Beigeladenen durchgeführt. Dabei musste ihr bewusst gewesen sein, dass aufgrund des erheblichen zeitlichen Aufwands für die Einbringung und Migration sowie Verifikation der Systeme eine Feststellung der Nichtigkeit des Vertrags durch die Vergabekammer – mit der die Antragsgegnerin aufgrund ihrer unzureichenden und ungleichbehandelnden Markterkundung von Anfang an ernsthaft rechnen musste – sie vor große Probleme stellen würde. Dennoch hat sich die Antragsgegnerin für die Migration entschlossen und hierdurch vollendete Tatsachen geschaffen.
91
Im gesamten Zeitraum des – aufgrund der Arbeitsüberlastung der Vergabekammer überlangen, ca. 7 Monate dauernden Nachprüfungsverfahren – hat die Antragsgegnerin keinerlei Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass die Vergabekammer die Nichtigkeit des geschlossenen Vertrags feststellen würde.
92
Nach der Nichtigkeitsfeststellung des Vertrags durch die Vergabekammer Südbayern Beschluss vom 08.11.2022 – 3194.Z3-3_01-22-2 hat die Antragsgegnerin zwar begonnen ein Vergabeverfahren zur künftigen Vergabe der Leistungen vorzubereiten, hat sich aber gleichzeitig dazu entschlossen, für den erheblichen Zeitraum bis zur Neuvergabe, den von Anfang an nichtigen Vertrag mit der Beigeladenen weiter durchzuführen. Durch ihr vergaberechtswidriges Vorverhalten und die Entscheidung, den nichtigen Vertrag fortzuführen, hat die Antragsgegnerin, die von ihr nunmehr als dringlichkeitsbegründend angesehene, vertragslose Situation aktiv selbst herbeigeführt.
93
Der vorliegende Sachverhalt ist aufgrund des vergaberechtswidrigen Vorverhaltens der Antragsgegnerin, ihres Bestrebens vollendete Tatsachen zu schaffen und den bestandskräftigen Beschluss der Vergabekammer Südbayern vom 08.11.2022 – 3194.Z3-3_01-22-2 – zumindest für einen in ihrem Belieben stehenden Übergangszeitraum – faktisch zu ignorieren, keinesfalls mit den Fallgestaltungen vergleichbar, in denen einige Vergabesenate die Auffassung vertreten haben, dass eine Dringlichkeitsvergabe für einen bestimmten Zeitraum im Bereich der Daseinsvorsorge ausnahmsweise auch dann zulässig sei, wenn der Auftraggeber die Dringlichkeit mitverursacht hat. In solchen Fällen soll der Aspekt der Zurechenbarkeit der Dringlichkeit hinter die Notwendigkeit der Kontinuität der Versorgungsleistung zurücktreten (BayObLG, Beschluss vom 31.10.2022 – Verg 13/; OLG Frankfurt, Beschlüsse vom 31.10.2022 – Verg 13/22 und vom 30.1.2014 – 11 Verg 15/13; a.A. KG, Beschluss vom 10.05.2022 – Verg 1/22 und OLG Bremen, Beschluss vom 14.12.2021 – 2 Verg 1/21).
94
Auch der Sachverhalt des Vorabentscheidungsersuchens des OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.02.2023 – Verg 9/22 an den EuGH, ob Art. 32 Abs. 2 lit. c der RL 2014/24/EU mit Rücksicht auf Art. 14 AEUV einschränkend dahingehend auszulegen ist, dass die Vergabe eines der Daseinsvorsorge dienenden öffentlichen Auftrags bei äußerster Dringlichkeit auch dann im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung erfolgen kann, wenn das Ereignis für den öffentlichen Auftraggeber voraussehbar und die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit ihm zuzuschreiben sind, ist keinesfalls mit dem vorliegenden Fall vergleichbar.
95
Vorliegend würde die von der Antragsgegnerin geplante Direktvergabe der Interimsleistungen dazu führen, die Rückabwicklungsverpflichtung aus dem bestandskräftigen Beschluss der Vergabekammer vom 08.11.2022 – 3194.Z3-3_01-22-2 zu umgehen und eine Rechtsgrundlage dafür die schaffen, die vergaberechtswidrig beschafften Leistungen für einen, aufgrund der Verlängerungsoptionen im beabsichtigten Interimsauftrag, letztlich im Belieben der Antragsgegnerin stehenden Zeitraum weiter nutzen zu können.
96
Die Antragstellerin hat zurecht darauf hingewiesen, dass ein öffentlicher Auftraggeber verpflichtet ist, sich rechtstreu zu verhalten und die erforderlichen Konsequenzen aus der Nichtigkeit des von ihm geschlossenen Vertrags zu ziehen. Das heißt, er darf die beschafften Lieferungen nicht einfach behalten oder benutzen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12.11.2008 – 15 Verg 4/08).
97
Würde – wie es die Antragsgegnerin behauptet – die Tatsache, dass die Antragsgegnerin Leistungen der Daseinsvorsorge erbringt, die nicht unterbrochen werden dürfen, auch die Rückabwicklungsverpflichtungen aus einer bestandskräftigen Nichtigkeitsfeststellung eines Vertrags durch die Vergabenachprüfungsinstanzen überlagern und außer Kraft setzen, bestünde für die Antragstellerin kein effektiver Rechtsschutz gegen die De-facto-Vergabe der Antragsgegnerin mehr. Der von ihr erstrittene bestandskräftige Beschluss der Vergabekammer vom 08.11.2022 – 3194.Z3-3_01-22-2 wäre praktisch wirkungslos.
98
Eine Ausnahme vom Erfordernis, dass die Dringlichkeit unvorhersehbar war und nicht vom Auftraggeber verschuldet herbeigeführt wurde, ist auch bei Leistungen der Daseinsvorsorge, die nicht unterbrochen werden dürfen, dann nicht zu machen, wenn die Interimsvergabe dazu dienen würde, eine bestandskräftige Entscheidung der Nachprüfungsinstanzen zu umgehen.
99
Es ist vor dem Hintergrund der erforderlichen Gewährung von effektiven Rechtsschutz für Wirtschaftsteilnehmer nach Art. 1 Abs. 1 UA 3 und Art. 2 Abs. 1 der Rechtemittelrichtlinie in der Fassung der RL 2007/66/EG bereits kritisch, dass die Antragstellerin im vorliegenden Fall trotz bestandskräftigen Beschlusses der Vergabekammer nicht verhindern kann, dass die Antragsgegnerin und die Beigeladene den von Anfang an nichtigen Vertrag einfach faktisch bis zur Neuvergabe der Leistung fortführen.
100
Würde man der Antragsgegnerin hier, in einer mit dem Wortlaut und Sinn und Zweck des Art. 32 Abs. 2 lit. c der RL 2014/24/EU nicht zu vereinbarenden einschränkenden Auslegung, die Erteilung des von der Antragsgegnerin erstrebten Interimsauftrags ohne Wettbewerb an die Beigeladene gestatten, könnte sie entgegen der bestandskräftigen Entscheidung der Vergabekammer den Vertrag aufgrund der Verlängerungsoptionen praktisch unbegrenzt fortsetzen, ihren Bedarf dadurch bis auf Weiteres decken und im Extremfall sogar das von ihr derzeit betriebene wettwerbliche Verfahren einstellen oder aufheben.
101
Dies ist auch keine rein theoretische Befürchtung. Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass es für die Antragsgegnerin derzeit aus rein technischer bzw. medizinischer Sicht keinen Grund gibt, eine neue Labor straße zu beschaffen und mit erheblichen Aufwand zu implementieren, nachdem sie erst im Jahr 2022 die vergaberechtswidrig beschaffte Labor straße der Beigeladenen mit erheblichen zeitlichen Aufwand für die Einbringung und Migration sowie Verifikation der Systeme in Betrieb genommen hat. Ein erneuter aufwendiger Austausch der Systeme aus rein vergaberechtlichen Gründen, ist dem Personal der Antragsgegnerin sicherlich nicht ohne Weiteres vermittelbar.
102
Da Vergabekammer gegenüber der Antragsgegnerin zur Beseitigung einer Rechtsverletzung keine Maßnahme treffen darf, die einen rechtlichen oder tatsächlichen Kontrahierungszwang bedeutet, könnte sie gegenüber der Antragsgegnerin nicht anordnen, dass diese das wettbewerbliche Verfahren weiterführt und zu einem bestimmten Zeitpunkt den Zuschlag erteilt (BayObLG, Beschluss vom 14.03.2023 – Verg 1/23).
103
Die Untersagung der nichtwettbewerblichen Vergabe des Interimsauftrags an die Beigeladene ist damit das einzige effektive Mittel, die Antragsgegnerin zur Fortsetzung und dem zügigen Abschluss des von ihr begonnenen wettbewerblichen Verfahrens und zur Beendigung des faktischen Vollzugs des von Anfang an nichtigen Vertrags zu motivieren und die einzige Möglichkeit der Antragstellerin effektiven Rechtsschutz aus dem bestandskräftigen Beschluss der Vergabekammer vom 08.11.2022 – 3194.Z3-3_01-22-2 zu gewähren. Die Untersagung rechtswidriger Interims-Direktvergaben hat auch das OLG Düsseldorf in einer Konstellation mit einem vergabeunwilligen Auftraggeber als zulässige Maßnahme der Vergabekammer angesehen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.03.2014 – Verg 11/14).
104
2.3 Die Vergabekammer hat nicht über die unter den Beteiligten streitig erörterte Frage zu entscheiden, ob angesichts der erst jetzt vorliegenden Leistungsbeschreibung, des begonnenen Hauptsachevergabeverfahrens und des erheblichen zeitlichen Aufwands für die Einbringung und Migration sowie Verifikation der Systeme eine Interimsvergabe der Leistungen noch möglich und sinnvoll wäre.
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Da die Vergabekammer gegenüber der Antragsgegnerin ohnehin nicht anordnen kann, dass diese zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Vergabeverfahren über die Interimsleistungen einleitet (BayObLG, Beschluss vom 14.03.2023 – Verg 1/23; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.03.2014 – Verg 11/14), ist die Entscheidung über die Durchführung einer Interimsvergabe allein Sache der Antragsgegnerin. Diese muss entscheiden, ob eine solche nunmehr machbar ist und zeitlich noch Sinn macht. Die Verpflichtung zur Durchführung eines vergaberechtskonformen Verfahrens für eine Interimsvergabe steht daher im Tenor ausdrücklich unter dem Vorbehalt der fortbestehenden Beschaffungsabsicht der Antragsgegnerin. Allein diese kann entscheiden, ob sie ein Interimsverfahren sinnvoll durchführen kann und will, für das die Voraussetzungen der § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b i.V.m. Abs. 6 VgV und § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV nicht gegeben sind, oder ob sie den vertragslosen Zustand bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens hinnimmt.
3. Kosten des Verfahrens
106
Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer hat gemäß § 182 Abs. 3 S. 1 GWB derjenige zu tragen, der im Verfahren vor der Vergabekammer unterlegen ist. Dies ist vorliegend die Antragsgegnerin.
107
Die Gebührenfestsetzung beruht auf § 182 Abs. 2 GWB. Diese Vorschrift bestimmt einen Gebührenrahmen zwischen 2.500 Euro und 50.000 Euro, der aus Gründen der Billigkeit auf ein Zehntel der Gebühr ermäßigt und, wenn der Aufwand oder die wirtschaftliche Bedeutung außergewöhnlich hoch sind, bis zu einem Betrag vom 100.000 Euro erhöht werden kann.
108
Die Höhe der Gebühr richtet sich nach dem personellen und sachlichen Aufwand der Vergabekammer unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Bedeutung des Gegenstands des Nachprüfungsverfahrens. Für das Verfahren wird eine Gebühr in Höhe von2690,00 EUR festgesetzt.
109
Von der Antragstellerin wurde bei Einleitung des Verfahrens ein Kostenvorschuss in Höhe von 2.500 Euro erhoben. Dieser Kostenvorschuss wird nach Bestandskrafterstattet.
110
Die Entscheidung über die Tragung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin beruht auf § 182 Abs. 4 S. 1 GWB.
111
Die Zuziehung eines anwaltlichen Vertreters wird als notwendig i. S. v. § 182 Abs. 4 S. 4 GWB i. V. m. Art. 80 Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 2 BayVwVfG angesehen. Die anwaltliche Vertretung war erforderlich, da die Antragsgegnerin da die zweckentsprechende Führung eines vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens die rechtlichen Kenntnisse Bieterunternehmens regelmäßig überschreitet. Für Bieter ist im Vergabenachprüfungsverfahren die Zuziehung eines anwaltlichen Vertreters regelmäßig erforderlich. Die Antragstellerin ist zwar ein größeres Unternehmen, das sicherlich über eine eigene Rechtsabteilung verfügt. Das vorliegende Nachprüfungsverfahren gegen eine Interimsvergabe eines Auftraggebers, der versucht, sich damit seinen Verpflichtungen aus einer bestandskräftigen Entscheidung der Nachprüfungsinstanzen zu entziehen, ist allerdings besonders komplex und wohl als einzigartig zu bezeichnen. In einem solchen außergewöhnlichen Fall ist die anwaltliche Vertretung zweifellos als erforderlich anzusehen, gerade auch wenn die Gegenseite ebenfalls anwaltlich vertreten ist.
112
Auch wenn die Beigeladene keine Anträge gestellt hat, muss die Vergabekammer von Amts wegen über die Aufwendungen der Beigeladenen entscheiden.
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Die Entscheidung über die Tragung der zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beigeladenen beruht auf § 182 Abs. 4 S. 3, S. 2 GWB. Danach sind Aufwendungen der Beigeladenen nur erstattungsfähig, wenn die Vergabekammer sie als billig erachtet. Dabei setzt die Erstattungsfähigkeit jedenfalls voraus, dass die Beigeladene sich mit demselben Rechtsschutzziel wie der obsiegende Verfahrensbeteiligte aktiv am Nachprüfungsverfahren beteiligt hat (OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.02.2010 -Verg W 10/09). Vor diesem Hintergrund hat die bisherige Rechtsprechung der Vergabesenate die Beigeladene kostenrechtlich nur dann wie einen Antragsteller oder einen Antragsgegner behandelt, wenn sie die durch die Beiladung begründete Stellung im Verfahren auch nutzt, indem sie sich an dem Verfahren beteiligt (BGH, Beschluss vom 26.09.2006 – X ZB 14/06). Dafür muss eine den Beitritt eines Streithelfers vergleichbare Unterstützungshandlung erkennbar sein, an Hand derer festzustellen ist, welches (Rechtsschutz-)Ziel eine Beigeladene in der Sache verfolgt (OLG Celle, Beschluss vom 27.08.2008 – 13 Verg 2/08). Ist eine solche nicht ersichtlich, handelt es sich bei den entstandenen Aufwendungen der Beigeladenen nicht um solche zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung (VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.02.2010 – 1 VK 76/10).
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Die Beigeladene hat sich nur durch geringfügigen schriftsätzlichen und mündlichen Vortrag am Verfahren beteiligt und keine Anträge gestellt. Hierdurch hat sie das gegenständliche Verfahren nicht wesentlich gefördert und kein Kostenrisiko auf sich genommen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23.06.2014, VII-Verg 12/03).