Inhalt

LG Passau, Beschluss v. 23.10.2023 – 1 Qs 137/23
Titel:

Keine Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung bei anwaltlicher Vertretung des Nebenklägers

Normenkette:
StPO § 140 Abs. 1 Nr. 9
Leitsätze:
Die analoge Anwendung des § 140 Abs. Nr. 9 StPO auf die Pflichtverteidigerbestellung für den Angeklagten, wenn dem Nebenkläger kein Rechtsanwalt beigeordnet wurde, kommt nicht in Betracht.
Die anwaltliche Vertretung des Nebenklägers rechtfertigt für sich alleine die Pflichtverteidigerbestellung nicht. Statt einer Analogie ist dieser Gegenschluss aus § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO zu ziehen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nebenklage, Rechtsanwalt, Pflichtverteidiger, Beiordnung
Vorinstanz:
AG Passau, Beschluss vom 26.09.2023 – 11 Cs 36 Js 8290/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 30022

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten N. A. gegen den Beschluss des Amtsgerichts Passau vom 26.09.2023 wird als unbegründet verworfen.
2. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

1
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten N. A. hat in der Sache keinen Erfolg.
2
Die angefochtene Entscheidung entspricht der Sach- und Rechtslage.
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1. Am 18.07.2023 erließ das Amtsgericht Passau gegen den nicht vorbestraften Angeklagten einen Strafbefehl, in dem ihm zur Last gelegt wird, am 18.02.2023 durch einen Schlag mit einer Bierflasche dem Geschädigten eine Kopfplatzwunde zugefügt zu haben. Verhängt wurde eine Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen zu je 80 €.
4
Der Geschädigte hat sich dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen und ist anwaltlich vertreten (Bl. 26, 47 (eigentlich Bl. 47a)).
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Der Verteidiger legte am 20.07.2023 wirksam Einspruch ein (Bl. 47) und beantragte am 12.09.2023 seine Beiordnung als Pflichtverteidiger gem. § 140 II StPO, weil der Verletzte sich dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen habe und sich eines Rechtsanwaltes bediene (Bl. 54). Mit Beschluss vom 26.09.2023 lehnte das Amtsgericht diesen Antrag mit der Begründung ab, dass ein Fall des § 140 I Nr. 9 StPO nicht vorliege und § 140 II StPO die Beiordnung nicht gebiete. Gegen diesen dem Angeklagten am 30.09.2023 und dem Verteidiger am 09.10.2023 zugestellten Beschluss wendet sich der Verteidiger namens seines Mandanten mit der sofortigen Beschwerde vom 10.10.2023, beim Amtsgericht Passau eingegangen am 12.10.2023. Zur Begründung wird unter Bezugnahme auf MüKo StPO-Kämpfer/Travers § 140 Rn. 25a vorgetragen, das Gebot der Waffengleichheit und das Recht auf ein faires Verfahren geböten die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn der Nebenkläger sich anwaltlich vertreten ließe. Zudem gestalte sich die Beweiswürdigung von Tätlichkeiten in alkoholenthemmten Stimmungslagen bei mehreren Beteiligten erfahrungsgemäß als schwierig, so dass auch deshalb eine Beiordnung geboten sei (Bl. 59).
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2. Die sofortige Beschwerde ist zulässig eingelegt, wegen der späteren Zustellung an den Verteidiger (§ 37 II StPO) wahrt sie insbesondere die Wochenfrist des § 311 I StPO.
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In der Sache erweist sie sich nicht als begründet.
8
§ 140 I Nr. 9 StPO ist vorliegend nicht einschlägig. Die direkte Anwendung scheitert daran, dass dem Nebenkläger fehlt kein Rechtsanwalt beigeordnet wurde. Die analoge Anwendung dieser Vorschrift, wie sie Kämpfer/Travers vertreten, setzte eine Regelungslücke voraus, an der es fehlt. § 140 I Nr. 9 StPO regelt nicht den allgemeinen Fall eines anwaltlich vertretenen Nebenklägers, sondern nur den Sonderfall, dass diesem ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Dass dies bewusst erfolgt ist, legt die Formulierung eben nur des Sonderfalles nahe und bestätigt die Gesetzgebungsgeschichte. Durch die Vorschrift ist den Geboten des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit Rechnung getragen. Neben diesen beiden Gesichtspunkten soll die Regelung in § 140 Abs. 1 Nr. 9 aber auch den Schutz des Verletzten verbessern. Schließlich könne für ihn die Auseinandersetzung mit dem unverteidigten Angeklagten belastender sein als der Umgang mit einem (gleichsam dazwischengeschalteten) Pflichtverteidiger(Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 140 Notwendige Verteidigung, Rn. 52). Deshalb dient die Vorschrift nicht allein dem Interesse des Angeklagten, sondern ist zudem ein Element des Opferschutzes. Dieser Aspekt fehlt im vorliegenden Fall, in dem dem Nebenkläger kein Anwalt beigeordnet ist und die Beiordnungsvoraussetzungen des § 397a I StPO nicht vorliegen. Statt einer Analogie ist deshalb der Gegenschluss aus § 140 I Nr. 9 StPO zu ziehen, dass die anwaltliche Vertretung des Nebenklägers für sich alleine die Pflichtverteidigerbestellung nicht rechtfertigt. Dass der Grundsatz der Waffengleichheit eine solche für diesen Fall nicht automatisch gebietet, entspricht der Rechtsauffassung des EGMR (NJW 2019, 2005, 2006).
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Auch § 140 II StPO ermöglicht vorliegend die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht.
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Dass der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen könne, ist nicht ersichtlich. Er ist zwar nicht vorbestraft, was nahe legt, dass er auch nicht gerichtserfahren ist. Indessen ist die Komplexität der Sach- und Rechtslage, bei der es um die Beurteilung eines Schlages mit einer Bierflasche geht, den ausgeführt zu haben der Angeklagte bestritt (Bl. 6), nach Aktenlage ausgesprochen einfach. Zwei der in Betracht kommenden Zeugen wiesen eine AAK von 0,00 Promille auf (Bl. 8), was die Problematik der Wahrnehmungs- und Erinnerungsleistungen alkoholisierter Zeugen entschärft. Auch unter Einschluss der anwaltlichen Vertretung des Nebenklägers liegt deshalb keine Situation vor, in der der Angeklagte nur verteidigt seine Rechte wirksam wahren könnte.
11
Angesichts des Strafmaßes, welches der Strafbefehl festgesetzt hat, wiegen die Rechtsfolgen nicht schwer im Sinne des § 140 II StPO.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO. gez.