Inhalt

OLG München, Beschluss v. 19.10.2023 – 1 Ws 525/23
Titel:

Strafprozessuale Verwertbarkeit von ANOM-Chats

Normenkette:
StPO § 100a, § 100b Abs. 1, § 100e Abs. 6 Nr. 1, § 261 StPO, § 479 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
Die Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM" sind mangels Überprüfbarkeit, was zu einem Beweisverwertungsverbot führt, nicht verwertbar. (Rn. 34)
Die Strafprozessuale Verwertbarkeit von Chats des US-amerikanischen Messenger-Kryptodienstes ANOM als Beweismittel ist zweifelhaft. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
ANOM, Massenger, Kryptodienst, Chat, FBI, Drittstaat, Beweisverwertungsverbot, Encrochat
Vorinstanz:
LG Memmingen, Beschluss vom 04.09.2023 – 1 KLs 401 Js 14034/23
Fundstellen:
BeckRS 2023, 30017
LSK 2023, 30017
StV 2024, 18

Tenor

1. Die (einfache) Beschwerde der Staatsanwaltschaft Memmingen vom 07.09.2023 gegen den Beschluss des Landgerichts Memmingen vom 04.09.2023 wird als unbegründet verworfen.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten A2. H. insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

I.
1
Das gegenständliche Strafverfahren 1 KLs 401 Js 14034/23 gegen den Angeklagten A2. H. ist vor dem Landgericht Memmingen anhängig. Vorangegangen war die von diesem Gericht in der Hauptverhandlung vom 04.07.2023 im Verfahren 1 KLs 401 Js 22809/21 vorgenommene Abtrennung des Verfahrens hinsichtlich der unter Anklageziffern 1 bis einschließlich 6 der Anklageschrift vom 26.09.2022 dem Angeklagten dort zur Last gelegten Taten.
2
Somit sind folgende Tathandlungen, die im Strafverfahren 1 KLs 401 Js 22809/21 vom Landgericht Memmingen durch Eröffnungsbeschluss vom 23.12.2022 zur Hauptverhandlung zugelassen wurden, Gegenstand des hiesigen Strafverfahrens 1 KLs 401 Js 14034/23:
1. Am 03.04.2021 bewahrte der Angeklagte an einem unbekannten Ort mindestens 240 Gramm Kokain auf, wobei er durch den späteren Abverkauf Gewinn erzielen wollte.
2. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt kurze Zeit vor dem 05.04.2021, 0.52 Uhr, kaufte und übernahm der Angeklagte 1 Kilogramm Kokain von den gesondert verfolgten Anom-Chat-Nutzern „nutsill“ und „drivergone“. Dieses Kokain verkaufte und übergab der Angeklagte im Raum Senden an seine Abnehmer. Bis zum 05.05.2021, 0.52 Uhr hatte er jedenfalls 400 Gramm des Kokains an einen „Dalmatiner“ und jedenfalls 100 Gramm des Kokains an einen „Deutschen“ verkauft und übergeben.
3. Am 13.04.2021 kaufte und übernahm der Angeklagte von den gesondert verfolgten Anom-Chat-Nutzern „nutsill“ und „drivergone“ 1 Kilogramm Kokain, das dem Angeklagten zum Anwesen S2.str. 12 in S. zum Preis von 38.000 Euro angeliefert wurde, wobei er durch den späteren Abverkauf Gewinn erzielen wollte. Der Angeklagte, der bereits zuvor 14.000 Euro gezahlt hatte, hatte am 03.05.2021 aus den Betäubungsmittelgeschäften weitere 19.000 Euro erlöst und übergab diese am 03.05.2021 kurze Zeit vor 19.11 Uhr.
4. Am 03.05.2021 organisierte der Angeklagte den Erwerb von mindestens 2 Kilogramm Marihuana erster Güte von den Anom-Chat-Nutzern „nutsill“ und „drivergone“, wobei der Angeklagte bereits vor Erhalt der Ware am 03.05.2021 zwischen 19.39 Uhr und 21.24 Uhr zwei Kilogramm des genannten Marihuanas erster Güte an einen unbekannten Käufer in Gewinnerzielungsabsicht verkaufte.
5. Am 08.05.2021 verkaufte und übergab der Angeklagte in Gewinnerzielungsabsicht in oder am Anwesen S2.str. 12 in S. 38,8 Gramm Kokain an den gesondert verfolgten Demir, wobei zuvor der Verkauf von 40 Gramm Kokain vereinbart war.
6. Am 23.05.2021 kaufte und übernahm der Angeklagte am Anwesen S2.str. 12 in S. 500 Gramm Kokain von den Anom-Chat-Nutzern „nutsill“ und „drivergone“. Dabei plante der Angeklagte, durch einen späteren Verkauf Gewinn zu erzielen. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Zeitraum vom 23.05.2021 bis 24.05.2021 verkaufte und übergab der Angeklagte in Gewinnerzielungsabsicht 88 Gramm Kokain an den gesondert verfolgten Demir.
3
Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen der Anklageschrift vom 26.09.2022 führt die Staatsanwaltschaft Memmingen zu den vorgenannten Tatkomplexen 1 mit 6 aus, dass der hinreichende Tatverdacht jeweils auf der Auswertung des ANOM-Chatverkehrs beruhe.
4
Nach der Abtrennung hinsichtlich der Tatkomplexe 1 mit 6 der Anklageschrift vom 26.09.2022 blieb Gegenstand des Strafverfahrens 1 KLs 401 Js 22809/21 nur noch die unter Anklageziffer 7 geschilderte Tat des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, bezogen auf 33,91 Kilogramm Marihuana.
5
Wegen dieser Tat wurde der Angeklagte H. im Verfahren 1 KLs 401 Js 22809/21 durch Urteil des Landgerichts Memmingen vom 21.07.2023, rechtskräftig seit 29.07.2023, wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren 6 Monaten verurteilt. Daneben wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und der Vorwegvollzug von 9 Monaten der Freiheitsstrafe angeordnet. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Memmingen vom 22.04.2022 wurde dabei (nur) nach Maßgabe dieses Urteils aufrechterhalten.
6
Der Angeklagte H. wurde in dem der Anklageschrift vom 26.09.2022 zugrunde liegenden Ermittlungsverfahren am 21.04.2022 vorläufig festgenommen. Mit Beschluss vom 22.04.2022 erließ das Amtsgericht Memmingen Haftbefehl gegen ihn. Vom 26.04.2022 bis 26.03.2023 befand sich der Angeklagte – in Unterbrechung der Untersuchungshaft – in Strafhaft und ab 27.03.2023 dann wieder in Untersuchungshaft bis zur Rechtskraft des Urteils vom 21.07.2023 (rechtskräftig seit 29.07.2023). Das Amtsgericht Memmingen erließ dabei am 21.09.2022 neuen Haftbefehl gegen den Angeklagten H. wegen der in der Anklage unter Tatkomplexen 1 mit 7 geschilderten Taten. Bei der Eröffnung dieses neuen Haftbefehls am 21.09.2022 wurde der Haftbefehl vom 22.04.2022 bereits durch das Amtsgericht Memmingen aufgehoben.
7
Mit Schreiben vom 25.07.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Memmingen im gegenständlichen Strafverfahren 1 KLs 401 Js 14034/23 den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeklagten betreffend die Anklageziffern 1 mit 6.
8
Mit Schreiben vom 28.08.2023 hielt die Staatsanwaltschaft an ihrem Haftbefehlsantrag vom 25.07.2023 fest und begründete dies vor allem damit, dass gegen eine Verwertbarkeit der ANOM-Daten aus ihrer Sicht keine Bedenken bestünden.
9
Durch Beschluss vom 04.09.2023 lehnte das Landgericht Memmingen den Erlass eines Haftbefehls ab und hob den Haftbefehl des Amtsgerichts Memmingen vom 22.04.2022 auf. Dies sollte die Aufhebung der geltenden Haftbefehle sein, sodass damit auch der Haftbefehl des Amtsgerichts Memmingen vom 21.09.2022 aufgehoben wurde.
10
Seine Entscheidung, den Erlass des beantragten Haftbefehls abzulehnen, hat das Landgericht Memmingen im Wesentlichen damit begründet, dass sich der Angeklagte zu den Tatkomplexen 1 mit 6 nicht eingelassen habe und die Anom-Chatprotokolle nicht verwertbar seien, andere Beweismittel aber nicht vorlägen.
11
Der Angeklagte habe über den ANOM-Messengerdienst unter der Jabber-ID „shouldouter“ offen über die angeklagten Betäubungsmittelgeschäfte kommuniziert. Das einzige Beweismittel zum Nachweis der im Strafverfahren 1 KLs 401 Js 14034/23 verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfe Nr. 1 mit 6 der Anklageschrift stellten die gesicherten Chat-Verläufe des Krypto-Messengerdienstes ANOM dar, diese seien aber nach der Einschätzung der Strafkammer nicht verwertbar. Andere Beweismittel gäbe es nicht.
12
Die Strafkammer führte in der Begründung unter Bezugnahme auf das Hauptverhandlungsprotokoll im Verfahren 1 KLs 401 Js 22809/21 weiter aus, sie habe im Ursprungsverfahren 1 KLs 401 Js 22809/21 vor der Abtrennung der Tatvorwürfe aus Nr. 1 mit 6 der Anklageschrift im Freibeweisverfahren bereits umfangreich Beweis erhoben über den Verfahrensgang zur Erlangung dieser Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes ANOM.
13
Mit – nicht rechtskräftigem – Urteil vom 21.08.2023 habe die Strafkammer auch bereits den vorgenannten anderweitig verfolgten Demir freigesprochen, denn hinsichtlich der Chat-Verläufe des Krypto-Messengerdienstes ANOM läge ein Beweisverwertungsverbot vor.
14
Die Strafkammer gehe auch im Verfahren 1 KLs 401 Js 14034/23 von einem Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der ANOM-Chatverläufe aus. Sonstige Beweismittel seien nicht vorhanden. Es bestehe daher gegen den Angeklagten hinsichtlich der Tatvorwürfe 1 mit 6 kein dringender Tatverdacht.
15
Die Strafkammer hat in diesem Beschluss Ausführungen zu ANOM gemacht und gerügt, dass die Identität des Drittlands bei ANOM (anders bei Encrochat: dort war es bekanntermaßen Frankreich) unbekannt sei. Daher lägen auch keine Gerichtsbeschlüsse aus dem unbekannten Drittland vor. Trotz entsprechenden Ermittlungsbemühungen der Strafkammer seien solche auch nicht vorgelegt worden.
16
Aus den im Verfahren 1 KLs 401 Js 22809/21 vorgelegten dienstlichen Stellungnahmen zweier Beamter der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 06.04.2022 (Bl. 1709/1711) und vom 13.04.2023 (Bl. 1714/1718) gehe hervor, dass das FBI selbst die Plattform ANOM entwickelt und betrieben hat. Auch der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main ist weder das Drittland, bei dem es sich um einen Mitgliedsstaat der EU handeln soll, noch die dort nach der Behauptung des FBI ergangenen Gerichtsbeschlüsse bekannt.
17
Eine Einsichtnahme und Überprüfung der Gerichtsbeschlüsse zur Erhebung der ANOM-Daten sei den Verfahrensbeteiligten und der Strafkammer daher nicht nur derzeit, sondern auch künftig nicht möglich aufgrund der auch für die Zukunft verweigerten Preisgabe weiterer Information durch das FBI. Das Drittland habe um Anonymität gebeten.
18
Beweisverwertungsverbote greifen nur beim Vorliegen schwerer Mängel ein. Es müsse also – so führt die Strafkammer im Ablehnungsbeschluss aus – ein schwerer Mangel vorliegen, der das gegenseitige Vertrauen erschüttere. Nur das könne ein deutsches Gericht feststellen.
19
Im Rahmen von Haftvorlagen bzw. Beschwerdeentscheidungen hätten sich auch Gerichte so positioniert, dass die ANOM-Daten mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. vorläufig als vertretbar angesehen wurden (OLG Saarbrücken, B. vom 30.12.2022 – 4 HE 35/22; OLG Frankfurt a.M., B. vom 14.02.2022 – 1 HEs 509/21; B. vom 22.11.2021 – 1 HEs 427/21; OLG Karlsruhe, B. vom 29.11.2021 – HE 1 Ws 313-315/21; OLG Thüringen, b. vom 17.01.2022 – 3 Ws 476/21; OLG Stuttgart, B. vom 21.12.2021 – H 6 Ws 176-177/21).
20
Die Rechtsprechung zu EncroChat-Fällen, bei denen bekannt sei, dass sich der Server in Frankreich befunden habe und die erforderlichen Beschlüsse durch französische Gerichte erlassen wurden, sei auf die ANOM-Chatverläufe nicht übertragbar.
21
Das FBI und das USamerikanische Justizministerium gäben bei ANOM das den Server beherbergende Drittland nicht preis, sie gäben auch keinerlei Informationen zu etwaigen dort ergangenen gerichtlichen Beschlüssen. Gerichtliche Beschlüsse eines – nicht namentlich genannten – Drittlands seien daher nur „vom Hörensagen“ bekannt. Damit hätten sich die vorgenannten Gerichtsentscheidungen aber gar nicht befasst.
22
Dort könne den Gerichten bei Erlass dieser Entscheidungen auch keinesfalls der im hiesigen Verfahren 1 KLs 401 Js 22809/21 durch die Strafkammer in der bis 21. Juli 2023 andauernde Hauptverhandlung erlangte Kenntnisstand vorgelegen haben.
23
Für den Angeklagten bestünde somit mangels Bekanntgabe gerichtlicher Beschlüsse im Drittland, das auch als solches gerade nicht genannt werde, keine Verteidigungsmöglichkeit gegen die erfolgte Überwachung. Er könne sich gegen – nicht nachvollziehbar belegte – gerichtliche Beschlüsse aus einem nicht bekannt gegebenen Drittland nicht zur Wehr setzen. Es bestehe für den Angeklagten damit eine mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens nicht vereinbare Rechtsschutzlücke.
24
Darüber hinaus könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei dem nicht bekannt gegebenen Drittland um Deutschland handele. Handele es sich um Deutschland, so führe die Nichtbekanntgabe des Drittstaates im Ergebnis dazu, dass ein deutsches Gericht die nach der StPO von einem deutschen Ermittlungsrichter erlassenen Beschlüsse zur Kommunikationserhebung nicht überprüfen könne, obwohl die Ermittlungsmaßnahme in Deutschland erfolgt sei.
25
Damit läge eine bewusste und vorsätzliche Umgehung der maßgeblichen Vorschriften der StPO zur Kommunikationsüberwachung vor, welche die Unverwertbarkeit der Beweise zur Folge hätte. Ein sog. Befugnis-Shopping im Sinne einer planmäßigen Umgehung der eigenen nationalen Vorschriften könne nicht ausgeschlossen werden.
26
Die Strafkammer sei auch nicht davon überzeugt, dass gegen jeden Erwerber bzw. Nutzer eines ANOM-Krypto-Handys ein Anfangsverdacht der Begehung von Straftaten besteht. Die von den Ermittlungsbehörden aufgestellte These, dass jeder Erwerber bzw. Nutzer dem kriminellen Milieu zuzuordnen sei und dass ausschließlich strafbare Inhalte auf Krypto-Handys generiert würden, sei ein pauschalierter Generalverdacht.
27
Im Ergebnis laufe dies auf eine auf einem Generalverdacht beruhende vollumfassende Überwachung aller Aktivitäten der ANOM-Nutzer hinaus, also auf eine anlasslose Massenüberwachung und damit auf eine im Kern geheimdienstliche Maßnahme. So erlangte Informationen könnten nicht zur Verwertung in Strafverfahren umgewidmet werden, da eine solche Maßnahme nach der StPO nicht zulässig sei und auch mit grundgesetzlichen Wertungen nicht in Einklang zu bringen sei (BVerfG, NJW 2002, 2235, 2256). Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 04.09.2023 Bezug genommen.
28
Gegen diesen Beschluss legte die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 07.09.2023, bei Gericht eingegangen am 11.09.2023, Beschwerde ein, der das Landgericht Memmingen mit Beschluss vom 11.09.2023 nicht abgeholfen hat.
29
Mit Schreiben vom 26.09.2023, beim Senat eingegangen am 27.09.2023, legte die Generalstaatsanwaltschaft München dem Senat die Akten vor mit dem Antrag, auf die Beschwerde hin den Beschluss des Landgerichts Memmingen vom 04.09.2023 aufzuheben, Haftbefehl gegen den Angeklagten entsprechend dem Antrag vom 25.07.2023 zu erlassen und Beschränkungen nach §§ 116b, 119 StPO anzuordnen.
II.
30
Die zulässig eingelegte Beschwerde erweist sich als unbegründet.
31
Der Erlass eines auf die Anklageziffern 1 mit 6 bezogenen Haftbefehls wurde im Ergebnis schon deswegen vom Landgericht Memmingen zu Recht abgelehnt, da derzeit keine Fluchtgefahr besteht, § 112 Abs. 1 und Abs. 2 StPO.
32
Denn der Angeklagte befindet sich seit der Rechtskraft des Urteils des Landgerichts Memmingen vom 21.07.2023, mithin seit 29.07.2023 im Verfahren 1 KLs 401 Js 22809/21 in Strafhaft. Der im Urteil angeordnete Vorwegvollzug von 9 Monaten der Freiheitsstrafe wird noch bis 28.04.2024 andauern. Auch danach kommt der Angeklagte nicht in Freiheit, sondern es schließt sich die im Urteil vom 21.07.2023 angeordnete Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt an.
33
Das Vorliegen einer Verdunkelungsgefahr wurde weder behauptet, noch liegen ausreichende Anhaltspunkte dafür vor. Damit fehlt es aber an den gem. § 112 Abs. 1 StPO erforderlichen Haftgründen. Ein Haftgrund der Wiederholungsgefahr § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO liegt derzeit ebenfalls nicht vor. Schon aus diesem Grund war die Beschwerde unbegründet und der Erlass des beantragten Haftbefehls abzulehnen.
34
Zudem besteht nach derzeitigem Verfahrensstand kein dringender Tatverdacht gegen den Angeklagten hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen Taten. Diese können alle nur bei der Bejahung der Verwertbarkeit der den Angeklagten belastenden ANOM-Chats nachgewiesen werden. Nach derzeitigem Aktenstand erscheint im gegenständlichen Verfahren eine Verwertbarkeit der ANOM-Chats als Beweismittel aber zweifelhaft.
35
Auf die Ausführungen des Landgerichts Memmingen in der angefochtenen Entscheidung wird Bezug genommen. Soweit das Landgericht Memmingen ausgeführt hat, dass die bekannt gewordenen gerichtlichen Entscheidungen, die von der Verwertbarkeit der ANOM-Chatverläufe ausgegangen seien, keinesfalls über den Erkenntnisstand der Strafkammer des Landgerichts Memmingen aus der von dieser bis 21.07.2023 andauernden Hauptverhandlung verfügt hätten, ist dem nichts Tragfähiges entgegenzusetzen. Offensichtlich hat die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Memmingen auch ergeben, dass die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main keine Kenntnisse zu einem Drittland, noch zu dort ggf. ergangenen Gerichtsbeschlüssen eruieren konnte.
36
Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine abweichende Sachentscheidung.
37
Zu den von der Beschwerdeführerin genannten gerichtlichen Entscheidungen ist festzustellen, dass jedenfalls der BGH über eine Verwertbarkeit bzw. Unverwertbarkeit von ANOM-Chats noch nicht entschieden hat. Zur Überzeugung auch des 1. Strafsenats nach derzeitiger Aktenlage erscheinen die Ausführungen des BGH zu Encro-Chats als solche nicht übertragbar auf ANOM-Chats, da diese ANOM-Chats auf flächendeckenden Maßnahmen des USamerikanischen Federal Bureau of Investigation (FBI) beruhen, dazu ein Drittland weder vom FBI, noch vom USamerikanischen Justizministerium benannt wird, obwohl dieses den befragten Stellen bekannt sein müsste, und zugleich von den befragten USamerikanischen Stellen nur behauptet wird, dass in einem Drittland gerichtliche Entscheidungen ergangen seien.
38
Hierbei war auch folgendes zu bedenken: Das FBI ist die zentrale Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten. In ihr sind sowohl Strafverfolgungsbehörde als auch Inlandsgeheimdienst der US-Bundesregierung zusammengefasst. Als Nachrichtendienst betreibt das FBI die Vorfeldaufklärung möglicher Bedrohungen unabhängig von konkretem Verdacht. Daneben leistet das FBI auch im Wege der Amtshilfe technische Unterstützung für andere Ermittlungsbehörden.
39
Weder das FBI, noch das USamerikanisches Justizministerium geben das Drittland bekannt. Sie behaupten, in diesem – in Europa liegenden – Drittland seien Gerichtsbeschlüsse ergangen, ohne dass das Landgericht Memmingen hier, mangels Erkenntnissen zum Drittland und zu dort ggf. ergangenen Gerichtsbeschlüssen, irgendeine Art von Ansatzpunkten für eine Überprüfung hat.
40
Dies haben die Gerichte bei ihren vorgenannten Entscheidungen für unschädlich gehalten. Dem steht gegenüber, dass in der Literatur bereits die Verwertbarkeit von Encro-Chats als Beweismittel durchaus umstritten war und ist.
41
Zu Geräten mit EncroChat-Kryptierung wurde bei BeckOK StPO/Graf, 48. Ed. 1.1.2023, StPO § 100a Rn. 99a, 99b ausgeführt:
Die vor allem im Bereich des illegalen Btm-Handels etwa ab 2017 verstärkt verwendeten Krypto-Handys verfügten über folgende Anwendungen: EncroChat (Instant Secure Messaging Client zum Austausch von SMS-Nachrichten); EncroTalk (chiffriert die Sprachkonversation auf IP, VoIP); EncroNotes (Chiffrierung der lokal auf dem Gerät gespeicherten Notizen). Eine solche Kommunikation konnte nur zwischen Kunden von EncroChat erfolgen. Derartige Telefone konnten zudem nicht über offizielle Vertriebskanäle erworben werden, sondern wurden von Verkäufern etwa auf Ebay zum Preis von 1.610 EUR angeboten, wobei dieser Preis eine Nutzerlizenz für die Dauer von sechs Monaten beinhaltete. Weitere Recherchen hatten ergeben, dass keine legal existierende Gesellschaft namens „EncroChat“ feststellbar war und derartige Geräte nur an ausgewählte Personen verkauft wurden, wobei auch die Händler selbst ausgewählt waren. Verantwortliche der Firma EncroChat waren ebenso wenig feststellbar wie ein offizieller Unternehmenssitz. Die von französischen Ermittlungsbehörden erlangten Daten von EncroChat-Nutzern sind auch in deutschen Ermittlungs- und Strafverfahren verwertbar. Die (widerlegbare) Vermutung rechtmäßigen Handelns wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die von den französischen Behörden eingesetzten Mittel teilweise der Geheimhaltung unterliegen (BGH BeckRS 2022, 5306; vgl. auch BGH BeckRS 2022, 22161).
42
Ganz anders wurde bei BeckOK StPO/Graf, 48. Ed. 1.1.2023, StPO § 100a Rn. 99c zum Messenger-Kryptodienst Anom folgendes ausgeführt:
Ob Chatprotokolle, welche mit dem durch das US-Amerikanische FBI gefakten Messenger-Kryptodienst Anom erlangt worden sind, tatsächlich auch in deutschen Strafverfahren verwertbar sind (so LG Darmstadt StV 2022, 280: mit hoher Wahrscheinlichkeit strafprozessual verwertbar; ebenso OLG Frankfurt a. M. NJW 2022, 710), hängt davon ab, wie sich der konkrete Sachverhalt darstellt und inwieweit der Nutzer bei der Installation über die Vertrauenswürdigkeit der App getäuscht wurde; ob die Daten nach ausländischem Recht verwertbar wären, ist nicht entscheidend, wenn diese tatsächlich in Deutschland ausgelesen wurden.
43
Im Münchener Kommentar zur StPO, 2. Auflage 2023, führt Rückert zu § 100e in den Rn. 90-93c zur Frage der Verwertbarkeit der Daten und zur Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Datenerhebung betreffend die EncroChats aus:
Eine Fernwirkung der Verwendung von unverwertbaren Erkenntnissen oder unter Verstoß gegen den Grundsatz des hypothetisch rechtmäßigen Ersatzeingriffs in anderen Strafverfahren beurteilt sich nach den allgemeinen Grundsätzen zur Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten. In den „EncroChat“ Fällen war weder klar, in welches Grundrecht eingegriffen worden war, noch waren hinreichend Informationen über das genaue Vorgehen der französischen Behörden vorhanden, welche eine (hypothetische) Prüfung der Eingriffsgrundlage ermöglicht hätten. Es blieb unklar, „mit welchen technischen Maßnahmen die französischen Behörden genau gearbeitet haben, ob also Telekommunikationsüberwachungen nach § 100a, eine Online-Durchsuchung nach § 100b, eine Kombination beider Maßnahmen oder eine Maßnahme eigener Art“ vorlag. Damit war nicht klar, ob mit der Verwendung der Daten in das Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 Abs. 1 GG oder in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme nach Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG oder in beide eingegriffen wurde. Selbst bei Unterstellung des nach der „potentiell intensivsten“ Eingriffs der Online-Durchsuchung war es auch nicht möglich, die hypothetische Einhaltung der Voraussetzungen des § 100b zu prüfen. Zu diesen gehört nämlich auch – was die Oberlandesgerichte übersehen –, dass das eingesetzte Spähprogramm die Grenzen von § 100b Abs. 4 iVm § 100a Abs. 5 einhält. Zu fragen wäre also gewesen, ob die Daten auch mit einem technischen Mittel hätten erhoben werden können, welches die technischen Anforderungen nach § 100a Abs. 5 erfüllt.
Auch eine Prüfung der Subsidiaritätsklausel und der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sind nur möglich, wenn das genaue technische Vorgehen und damit die konkrete Eingriffsintensität bekannt ist. Sollen also Daten, die durch ausländische Behörden erhoben wurden, auf Grundlage von § 100e Abs. 6 (für § 479 Abs. 2 S. 1 wird im Übrigen dasselbe zu gelten haben) in einem deutschen Strafverfahren verwertet werden, muss sich das Gericht (bzw. vorgängig die Strafverfolgungsbehörden) so exakte Kenntnis vom genauen technischen Vorgehen der ausländischen Strafverfolgungsbehörden verschaffen, dass klar ist, in welches Grundrecht eingegriffen wurde, welche Eingriffsgrundlage nach der deutschen StPO einschlägig wäre und eine hypothetische Prüfung dieser Eingriffsgrundlage vollständig möglich ist. Wurden die Daten von ausländischen Strafverfolgungsbehörden gesammelt, während sich die Zielperson auf deutschem Staatsgebiet befand, sind außerdem die Art. 31 EAA und § 91g Abs. 6 IRG zu beachten. Eine fehlende Unterrichtung der deutschen Behörden kann – wenn die Maßnahme der ausländischen Strafverfolgungsbehörden in einem vergleichbaren inländischen Fall nicht genehmigt worden wäre – zu einem Beweisverwertungsverbot führen.
Schließlich ergibt sich bereits aus den bekannten Informationen über das Vorgehen der französischen Behörden, dass die von ihnen durchgeführten Maßnahmen den Maßstäben des hypothetisch rechtmäßigen Ersatzeingriffs wegen grundsätzlicher Bedenken nicht entsprechen würden. So wurden von den französischen Strafverfolgern im Rahmen eines gegen die „Betreiber“ von EncroChat geführten Strafverfahrens nicht nur deren Server mit der Spähsoftware infiltriert, sondern auch die Geräte von über 30 000 Nutzern von EncroChat gegen die zum Zeitpunkt der Maßnahme jenseits der Nutzung der EncroChat-Geräte – soweit der Sachverhalt bekannt ist – keine weiteren Verdachtsmomente bestanden. Vor diesem Hintergrund scheitert eine hypothetische Rechtmäßigkeitsprüfung an zwei Punkten: Erstens übersteigt die Eingriffsintensität der Maßnahme sogar die Grenzen von § 100b. Neben der heimlichen Infiltration der Geräte und des damit einhergehenden schwerwiegenden Eingriffs in die Integrität der Geräte und die Vertraulichkeit der Datenverarbeitung auf den Geräten, wie sie § 100b grundsätzlich zulässt, weist die Maßnahme eine extrem große Streubreite auf. Es wurden eben nicht nur – wie es § 100b vorsieht – gezielt einzelne Geräte von Tatverdächtigen oder Personen im Sinne von § 100b Abs. 3 infiltriert, sondern alle Mobiltelefone eines bestimmten Modells von EncroChat.
Die Kombination aus Integritätsverletzung, Erhebung großer Datenmengen mit großer Informationsdichte und -vielfalt und die große Streubreite führen zur Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme. Bei einer hypothetischen Prüfung von § 100b müsste also gezeigt werden, dass die betroffenen Personen alle selbst tatverdächtig sind oder die Voraussetzungen von § 100b Abs. 3 vorliegen. Dies führt zum zweiten Punkt: Soweit dem Verfasser der Sachverhalt bekannt ist, fehlte es für die Anordnung an einem individualisierten Tatverdacht gegenüber den betroffenen Nutzern. Die Maßnahme wurde letztlich darauf gestützt, dass diese eine anonyme und verschlüsselte Kommunikationsmöglichkeit nutzten, die bekanntermaßen auch von Kriminellen genutzt wird. Dies allein begründet jedoch keine „bestimmten Tatsachen“, auf die sich ein qualifizierter Tatverdacht iSv § 100b gegen die einzelnen Nutzer stützen lässt. Zwar ist richtigerweise für die hypothetische Rechtmäßigkeitsprüfung auf den Sach- und Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Zweckumwidmung abzustellen. Allerdings dürfen keine Kenntnisse zugrunde gelegt werden, die sich erst aus der Auswertung der Daten ergeben hätten. Denn diese stehen erst nach der Zweckumwidmung zur Verfügung.
Der individualisierte qualifizierte Tatverdacht iSv § 100b Abs. 1 müsste sich also auf andere neue Erkenntnisse stützen lassen, welche über die bloße Nutzung der EncroChat-Mobiltelefone und -Dienstleistungen hinausgeht. Ob solche Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Übermittlung der Daten an die deutsche Strafverfolgung vorlagen, ist eine Frage, die im jeweiligen einzelnen Verfahren zu beantworten ist. Nachdem sich der 6. Strafsenat des BGH lediglich in einem obiter dictum zu einer unzulässigen Verfahrensrüge ohne Begründung für eine Verwertbarkeit der EncroChat-Daten ausgesprochen hatte, hat der 5. Senat nun eine Verwertbarkeit der Daten mit ausführlicher Begründung vollumfänglich bejaht.
Der BGH verneint dabei die Anwendbarkeit des § 100e Abs. 6 Nr. 1 auf den Fallkomplex EncroChat mit der Begründung, die Maßnahmen der französischen Strafverfolgungsbehörden seien gerade keine Maßnahmen nach den §§ 100b, 100c gewesen, was § 100e Abs. 6 Nr. 1 voraussetze. Aufgrund der Besonderheiten des Rechtshilferechts und des europäischen Rechtsrahmens seien die Maßstäbe für die Verwertbarkeit von durch ausländische Ermittlungseingriffe erlangte Beweismittel nicht vollständig identisch mit denjenigen, welche für inländische Ermittlungsmaßnahmen gelten. Allerdings könne zur Gewährleistung des notwendigen Grundrechtsschutzes auf die in den strafprozessualen Verwendungsbeschränkungen „verkörperten Wertungen“ – hier also § 100e Abs. 6 Nr. 1 – zurückgegriffen werden, um eine mangelnde Überprüfung der Eingriffsschwellen des französischen Strafverfahrensrechts auszugleichen. Die Voraussetzungen der in § 100e Abs. 6 Nr. 1 verkörperten Wertungen lägen indes vor, weil für die Bejahung des notwendigen Tatverdachts im Verwertungszeitpunkt auch auf die EncroChat-Daten selbst zurückgegriffen werden dürfe.
Weder bedürfe es allerdings einer über § 261 StPO hinausgehenden Rechtsgrundlage für die Umwidmung der Daten aus den französischen Strafverfahren zur Verwendung in deutschen Strafverfahren noch müsse es im deutschen Strafverfahrensrecht eine vergleichbare Ermittlungsmaßnahme geben. Diese Auffassung verkennt, dass sowohl nach deutschem Verfassungsrecht als auch nach europäischem Datenschutzrecht (Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 RL 2016/680/EU) jede Verarbeitung personenbezogener Daten einer gesetzlichen, normenklaren und spezifischen Rechtsgrundlage bedarf – hierzu zählt insbesondere auch die zweckumwidmende Verwendung von Daten in strafprozessualen Ermittlungsverfahren. § 261 StPO stellt dabei nur eine Rechtsgrundlage für die Beweisverwertung durch die Tatgerichte, nicht aber eine Rechtsgrundlage für die Verwendung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren dar.
Der strafprozessuale Begriff der Verwendung umfasst dabei jede Nutzung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren, wie die Analyse, Auswertung, Speicherung, Übermittlung und das Ziehen von Schlüssen aus den Daten zur Gewinnung eines Tatverdachts für weitere Ermittlungsmaßnahmen oder die Anklageerhebung. Auf die §§ 161, 163 kann angesichts der massiven Grundrechtseingriffe durch die heimliche Infiltration von über 30 000 Mobilfunkgeräten offensichtlich auch nicht zurückgegriffen werden, da diese auf geringfügige Grundrechtseingriffe beschränkt sind.
Verneint der BGH nun die Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 (und damit wohl auch die von § 479 Abs. 2 S. 1 für die „laufenden“ Telekommunikationsdaten), fehlt es an einer notwendigen Rechtsgrundlage für die Verwendung der EncroChat-Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren. Der BGH hätte sich somit auf Grundlage seiner Ablehnung der Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob aus der rechtsgrundlosen Verwendung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren (entspricht der Beweiserhebung) ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot folgt.
Es geht bei der Prüfung der Eingriffsschwere im Rahmen der Beweisverwertung nämlich nicht um eine Überprüfung ausländischer Ermittlungsmaßnahmen an ausländischem Recht, sondern um die Anwendung des § 261 StPO als innerstaatliches Recht auf die Beweisverwertung im deutschen Urteil und damit um einen innerstaatlichen Sachverhalt.
Der begehrte zweckumwidmende Transfer der Daten vom französischen in das deutsche Strafverfahren richtet sich im deutschen Recht nach §§ 100e Abs. 6 Nr. 1 (für auf den infiltrierten Geräten gespeicherte Daten jenseits der Grenze des § 100a Abs. 1 S. 3 StPO) und 479 Abs. 2 S. 1 StPO (für die „laufenden“ Telekommunikationsdaten). Dieser Weg würde somit ebenfalls zur Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 und § 479 Abs. 2 S. 1 führen. Diese Prüfung hätte – wie oben ausgeführt ergeben, dass die Verwendung der Daten nicht zulässig gewesen wäre.
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Die vorgenannten Zweifel an der – vom BGH jedoch bejahten – Verwertbarkeit der EncroChats haben im gegenständlichen Strafverfahren betreffend den Nachweis von Tathandlungen nur durch die ANOM-Chats umso stärkeres Gewicht, als hier bereits ausführliche Aufklärungsarbeit im Strafverfahren durch das Landgericht geleistet wurde, ohne dass ein Drittland benannt oder bekannt wurde und es auch in Zukunft offenbar nicht benannt werden wird. Auch das Vorbringen, es habe im Drittland Gerichtsentscheidungen gegeben, steht ohne Nachweis im Raum, auch dies hat die Hauptverhandlung vor dem Landgericht bereits ergeben. Im gegenständlichen Strafverfahren erscheint daher die Verwertbarkeit der ANOM-Chats mindestens zweifelhaft, weswegen die ANOM-Chats im derzeitigen Aktenstand keinen dringenden Tatverdacht begründen. Hierbei war folgendes zu bedenken:
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Die ANOM-App diente dem FBI zur Abhörung vermeintlich abhörsicherer Handykommunikation.
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Diese App schuf das FBI selbst und vertrieb sie über ein Scheinunternehmen für verschlüsselte Telefone. Einmal installiert konnte auf dem Handy nur noch über ANOM kommuniziert werden. Alle außerhalb der USA versandten Nachrichten waren mittels eines Masterkeys des FBI zu entschlüsseln (OLG Frankfurt NJW 2022, 710), sie wurden automatisch gespiegelt und an einen zentralen Server weitergeleitet. Der Server durfte nicht auf USamerikanischem Boden stehen und das FBI durfte mit dieser Methode keine US-Bürger abhören. Ein erster Server wurde deswegen in Australien gehostet, dessen Gerichte untersagten jedoch die Datenweitergabe an die USA und weitere Staaten.
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Deswegen suchte das FBI nach einem neuen Drittstaat und fand ihn in der EU (BT-Drs. 20/1249, S. 6). Dort hat die Bundesregierung die Frage 10 (Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, auf welche Weise sich das FBI für die „Operation Trojan Shield“ Zugang zu den Daten des Kryptodienstes „ANOM“ verschaffte?) geantwortet: Nach hier vorliegendem Informationsstand erhielt das Federal Bureau of Investigation (FBI) die Daten per Rechtshilfe von einem nicht bekannten Mitgliedstaat in der Europäischen Union, da die Daten zunächst an einen dort befindlichen Server ausgeleitet worden waren. Auf die weitere Frage (a. Wurden nach Kenntnis der Bundesregierung die Daten von dem Kryptodienst direkt auf Server unter Kontrolle des FBI ausgeleitet oder auf Server in einem Drittstaat?) antwortete die Bundesregierung: Nach hier vorliegendem Informationsstand wurden die Daten zunächst an einen Server in einem nicht bekannten Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgeleitet und erst von dort auf Grundlage eines Rechtshilfeersuchens an einen Server des FBI in den Vereinigten Staaten von Amerika weitergeleitet. Auf die weitere Frage (b. Ist dem BKA dieser Drittstaat bekannt, und falls nein, aus welchem Grund bleibt dieser geheim?) antwortete die Bundesregierung: Der Drittstaat ist dem Bundeskriminalamt ebenso wenig bekannt wie der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI. Auf die weitere Frage (c. Erhielten deutsche Behörden bzw. erhielt Europol die Daten aus dem Kryptodienst „ANOM“ aus diesem Drittstaat oder vom FBI selbst?) antwortete die Bundesregierung: Das FBI stellte die Daten dem Bundeskriminalamt und Europol zur Verfügung. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die vorgenannte Bundestagsdrucksache Bezug genommen.
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Der Drittstaat ist somit weder der Bundesregierung noch auch dem Bundeskriminalamt bekannt. Angeblich sollen die Gerichte dieses Drittstaats Beschlüsse erlassen haben, die eine Auswertung und Weitergabe dieser Daten an das FBI gestatteten. Auch dies kann nicht überprüft werden.
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Die bekannt gewordenen gerichtlichen Entscheidungen zu ANOM-Chats gehen offensichtlich davon aus, dass der Verteidigung keine weiteren Erkenntnisse außerhalb der Akten zur Verfügung gestellt werden müssten (vgl. „Strafverfolgung in Deutschland aufgrund US-amerikanischer Daten“ von Staatsanwalt Simon Pschorr und Prof. Dr. Liane Wörner, StV 2023, 274 ff., 279 ff.).
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Durch die Trennung von beweiserhebendem und beweisverwertendem Staat werden bei der Verwertung von ANOM-Chats die Verteidigungsrechte von Angeklagten erheblich beschränkt; es werden aber auch die Aufklärungsmöglichkeiten des befassten Strafgerichts erheblich eingeschränkt, ohne dass bei Beginn der Abörmaßnahmen ein individualisierter Tatverdacht gegen die betroffenen Personen überhaupt vorlag. Im Gegenteil, die ANOM-App wurde vom FBI unbeschränkt verbreitet und die Abhörung unbeschränkt vorgenommen, ob die Nutzer zuvor hinreichend verdächtig waren oder nicht. Aus diesem Grund bestehen erhebliche Zweifel daran, ob für die Datenerhebungen nach USamerikanischem Recht oder nach deutschem Recht eine Ermächtigungsgrundlage besteht. Gleiches gilt für die Weitergabe von Daten an die ermittelnden Behörden.
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Der BGH hat über die Verwertbarkeit von ANOM-Chats bislang nicht entschieden.
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Die EncroChats, die vom BGH für verwertbar gehalten wurden, sind jedoch mit den Problemstellungen bei den ANOM-Chats nur schwerlich vergleichbar. Denn bei ANOM ist weder das vom FBI (nach Australien) als neues Drittland gewonnene Drittland bekannt, noch die von diesem unbekannten Drittland erlassenen gerichtlichen Beschlüsse.
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Zudem ist derzeit beim EuGH unter Az.: C-670/22 aufgrund einer Vorlage durch das Landgericht Berlin ein Verfahren zu EncroChats anhängig. Auch beim Bundesverfassungsgericht sind noch einige Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit EncroChat anhängig.
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Da die Verwertbarkeit der ANOM-Chats im gegenständlichen Strafverfahren nach derzeitigen Verfahrensstand somit fraglich ist, kann sich hierauf kein dringender Tatverdacht stützen.
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Auch dies steht dem Erlass eines Haftbefehls entgegen.