Titel:
Geringwertigkeitsschwelle bei Vermögensdelikten
Normenkette:
StGB § 243 Abs. 2, § 248a, § 263 Abs. 4
Leitsatz:
Die Geringwertigkeitsschwelle bei § 263 Abs. 4 iVm § 243 Abs. 2, § 248a StGB ist mit 50 € anzusetzen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Geringwertigkeitsschwelle, Betrug, Vermögensdelikte
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29957
Tenor
I. Die Angeklagte ist schuldig des Betrugs in 681 Fällen.
II. Sie wird deshalb zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt.
III. Die Vollstreckung der erkannten Freiheitsstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt.
IV. Die Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen zu tragen.
Entscheidungsgründe
(abgekürzt gem. § 267 Abs. 4 StPO)
1
Dem Urteil ist eine Verständigung (§ 275c StPO) vorausgegangen.
A. Persönliche Verhältnisse der Angeklagten
2
Die Angeklagte ist Hebamme und war im Tatzeitraum vom 08.01.2014 bis 05.04.2019 als solche mit einer Hebammenpraxis in D selbständig tätig. Zugleich war sie zeitweise Mitgesellschafterin der … GbR in D, die die Hebammenpraxis ... und das Geburtshaus ... betrieb. Die Angeklagte war vertraglich berechtigt, Hebammenleistungen bei den gesetzlichen Krankenkassen abzurechnen und war hierfür an deren Abrechnungssystem angeschlossen.
3
Spätestens ab Januar 2014 beschloss die Angeklagte gegenüber den Krankenkassen auch betrügerisch abzurechnen. Um sie über die Leistungserbringung zu täuschen und Leistungen abzurechnen, die von der Angeklagten nicht erbracht worden waren, machte diese bei ihren Abrechnungen bewusst unwahre Angaben.
I. Abrechnung zeitüberschneidender Leistungen
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Zum einen rechnete die Angeklagte L. ab, bei denen sie zur Zeit der behaupteten Leistungserbringung entweder ortsabwesend war oder die sich zeitlich mit anderen abgerechneten Leistungen überschnitten. Dabei achtete die Angeklagte darauf, dass die Kundinnen, bei denen sie zeitüberschneidende Leistungen abrechnete, nicht bei der gleichen gesetzlichen Krankenkasse versichert waren, sodass die Doppelabrechnung zunächst nicht auffiel.
II. Abrechnung zweite Hebamme (Kennzeichnung „H“ in der folgenden Tabelle)
5
Zweitens rechnete die Angeklagte L. für die Mitwirkung einer zweiten Hebamme ab, obwohl diese jeweils nicht anwesend war. Auch hierbei war der Angeklagten bewusst, dass diese Leistungen mangels Anwesenheit einer zweiten Hebamme nicht abrechenbar waren und sie folglich keinen Anspruch auf die Erstattung der Leistungen hatte.
III. Abrechnung nicht vollendete Geburt (Kennzeichnung „G“ in der folgenden Tabelle)
6
Des Weiteren rechnete die Angeklagte die Leistung „abgebrochene Geburt“ ab, obwohl die Voraussetzungen hierfür – wie die Angeklagte wusste – nicht vorlagen und sie folglich keinen Anspruch auf Erstattung der Leistungen hatte.
IV. Abrechnung Rückbildungsgymnastik (Kennzeichnung „R“ in der folgenden Tabelle)
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Schließlich rechnete die Angeklagte L. der Rückbildungsgymnastik ab, obwohl die Kurse nicht, wie für eine ordnungsgemäße Abrechnung erforderlich, von einer Hebamme, sondern von einer nicht qualifizierten Kraft durchgeführt worden waren.
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Mit der Vorlage der eingereichten Unterlagen und der auf dieser Grundlage erstellten Abrechnungen behauptete die Angeklagte, die jeweils benannten Leistungen wie angegeben erbracht sowie weitere Abrechnungsvoraussetzungen beachtet zu haben, obwohl sie wusste – soweit es die vier genannten Fallgruppen betraf – dass dies tatsächlich nicht der Fall war. Die zuständigen Sachbearbeiter bei den jeweiligen Krankenkassen schenkten diesen Angaben, wie von der Angeklagten beabsichtigt, Glauben und gingen davon aus, dass die Leistungen erbracht wurden und den Anforderungen an die Abrechnung entsprachen. Sie veranlassten demgemäß die Auszahlung der geltend gemachten Rechnungsbeträge. Das hätten sie in Kenntnis der wahren Umstände nicht getan. Hierdurch wurden die Krankenkassen um die zu Unrecht ausbezahlten Beträge geschädigt und die Angeklagte entsprechend bereichert. Der Angeklagten war hierbei bewusst, dass sie auf die ausgezahlten Gelder keinen Anspruch hatte.
9
Im Einzelnen handelte es sich um folgend Fälle:
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(Die laufenden Nummern in der Tabelle entsprechen der konkurrenzrechtlichen Bewertung des Anklagesachverhalts durch die Kammer. Fälle ohne besondere Kennzeichnung betreffen die zeitüberschneidenden Leistungen, die Fälle der anderen drei Fallgruppen sind jeweils mit entsprechenden Buchstaben („H“ / „G“ / „R“) gekennzeichnet. Sofern fortlaufende Fallnummern fehlen, wurden die Fälle nach § 154 Abs. 2 StPO ausgeschieden. Die letzte Spalte enthält den Schadensbetrag, wie er sich aus der Addition der Fälle aus der jeweiligen Zeile ergibt.)
Laufende Nummer
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Rechnungs-datum
|
Krankenkasse
|
Fälle (Nummern der Anklage)
|
Gesamtbetrag in €
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1.
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08.01.2014
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AOK ...
|
1
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16,85
|
2.
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28.01.2014
|
AOK ...
|
2
|
60,66
|
3.
|
08.02.2014
|
AOK ...
|
3
|
33,70
|
4.
|
08.02.2014
|
KKH …
|
4
|
16,85
|
5.
|
08.02.2014
|
B.
|
5
|
25,21
|
6.
|
08.02.2014
|
BKK …
|
6, 11
|
75,76
|
7.
|
08.02.2014
|
… BKK
|
[[7]] – 9
|
117,82
|
…
|
…
|
…
|
…
|
…
|
681.
|
05.04.2019
|
AOK …
|
1983 – 1991
|
1.673,41
|
Gesamtbetrag:
|
310.039,09
|
11
Den gesetzlichen Krankenkassen entstand so ein Gesamtschaden in Höhe von 310.039,09 €. Die Angeklagte handelte jeweils in der Absicht, sich durch die wiederholte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang und Dauer zu beschaffen.
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Die Angeklagte hat den Schaden in der Zwischenzeit wiedergutgemacht, indem die geschädigten Krankenkassen von ihr Zahlungen erhalten oder Geld für (tatsächlich erbrachte) Abrechnungsleistungen einbehalten und mit dem Schaden verrechnet haben.
I. Feststellungen zur Person
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Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen beruhen auf den Angaben der Angeklagten in der Hauptverhandlung sowie auf dem verlesenen Bundeszentralregisterauszug vom 13.09.2023, dessen Richtigkeit sie bestätigte.
II. Feststellungen zu den Taten
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Den festgestellten Sachverhalt hat die Angeklagte über ihren Verteidiger, dessen Ausführungen sie als richtig bestätigte, eingestanden. Dabei räumte sie den Anklagesachverhalt in objektiver und subjektiver Hinsicht vollumfänglich ein.
15
Das konnte durch die Beweisaufnahme, auf der auch die Überzeugungsbildung zum weiteren Sachverhalt beruht, bestätigt werden. Hierzu hat die Kammer Urkunden gelesen, aus denen sich insbesondere die Abrechnungsgrundlagen zwischen der Angeklagten und den gesetzlichen Krankenkassen sowie die zu Unrecht geltend gemachten Abrechnungen ergaben. Des Weiteren berichtete der ermittelnde Polizeibeamte, der Zeuge KHK S, über Ablauf und Ertrag der polizeilichen Ermittlungen. Er schilderte, welche Erkenntnisse er hierdurch zu den falschen Abrechnungen gewann, die der Anklage zu Grunde lagen. Zudem berichtete er über die Aufarbeitung und Auswertung der elektronischen Daten, die bei der Angeklagten sichergestellt wurden und wie diese in die Ermittlungsergebnisse einflossen. Darüber hinaus vernahm die Kammer die Zeugin P, die im Abrechnungszentrum Hebammen der AOK ... für den Bereich Fehlverhalten zuständig ist. Dort war sie auch damit betraut, den bei anderen Krankenkassen entstandenen Schaden gegenüber der Angeklagten geltend zu machen. Sie berichtete, über welche Umstände die Angeklagte bei den einzelnen der vier Tatbereiche täuschte und machte auch Angaben zu den Schadensbeträgen.
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Schließlich beruhen die Feststellungen zur Schadenswiedergutmachung auf den Angaben der Angeklagten. Diese hat die Kammer einerseits durch die Zeugin P überprüft. Andererseits wurden Auszüge einer aktuellen Tabelle zum Rückforderungsstand der Krankenkassen sowie ein Schreiben der AOK ... vom 12.07.2023 verlesen, die den Umfang der erfolgten Wiedergutmachung belegten.
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Die Angeklagte hat sich wegen des festgestellten Tatsachverhalts, wie tenoriert, des Betrugs in 681 Fällen schuldig gemacht.
18
Die Kammer entnahm die Strafrahmen für alle Fälle des Betrugs mit einem Schaden von mehr als 50 € dem § 263 Abs. 3 StGB. Die Voraussetzungen des benannten Regelbeispiels lagen jeweils vor, da die Angeklagte stets gewerbsmäßig handelte (§ 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB). Hinreichend gewichtige Umstände, welche die Regelwirkung entkräften könnten, lagen nach Wertung der Kammer nicht vor.
19
Hingegen war bei den Fällen mit einem Schadensbetrag unterhalb von 50 € der Regelstrafrahmen des Betrugs gem. § 263 Abs. 1 StGB heranzuziehen. Denn ein besonders schwerer Fall des Betrugs ist nicht gegeben, wenn sich die Tat auf eine geringwertige Sache – bzw. hier auf einen geringen Betrag – bezieht (§ 263 Abs. 4 i.V.m. § 243 Abs. 2 StGB), wobei die Kammer die Geringwertigkeitsschwelle bei 50 € ansetzt (wie hier MüKoStGB/Hohmann, 4. Aufl., § 248a Rn. 7 m.w.N.; a.A. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 248 Rn. 3a [25 €]).
II. Strafzumessung im engeren Sinne
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Bei der konkreten Strafzumessung in Ausfüllung der genannten Strafrahmen hat sich die Kammer im Wesentlichen von folgenden Umständen leiten lassen:
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Für die Angeklagte sprach, dass sie bereits im Ermittlungsverfahren und am ersten Hauptverhandlungstag umfassend geständig war und dadurch eine langwierige Beweisaufnahme entbehrlich machte. Des Weiteren war sie nicht vorbestraft und hat durch Zahlungen sowie Einbehalte der Krankenkassen den Schaden wieder gutgemacht. Ferner war sie durch die mehrjährige Verfahrensdauer erheblich belastet und hat als Folge der Taten ihre Abrechnungsberechtigung bei den gesetzlichen Krankenkassen verloren.
22
Zu Lasten der Angeklagten wertet die Kammer, dass sie ihr betrügerisches Abrechnungssystem trotz Anfragen der AOK ... zu diesbezüglichen Auffälligkeiten über einen Zeitraum von mehreren Jahren betrieb, was von gesteigerter krimineller Energie zeugt. Dabei war zu berücksichtigen, dass infolge der Betrugstaten ein erheblicher Gesamtschaden von 310.039,09 € eintrat.
23
Unter Abwägung dieser Umstände hielt die Kammer folgende Einzelstrafen für tat- und schuldangemessen, wobei sich die bei der Differenzierung hinsichtlich der Strafhöhe insbesondere von den jeweiligen Schadenssummen leiten ließ:
50,01 € bis 100 €: 6 Monate
100,01 € bis 1.000 €: 7 Monate
1.000,01 € bis 3.000 €: 8 Monate
3.000,01 € bis 5.000 €: 9 Monate
Schadenssumme über 5.000 €: 10 Monate
Schadenssumme von 6.837 € (Fall 648): 11 Monate
24
Bei der gemäß § 53 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, § 54 Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB unter angemessener Erhöhung der höchsten Einsatzfreiheitsstrafe zu bildenden Gesamtstrafe waren die oben genannten Umstände und das Gesamtbild der Taten und der Person der Angeklagten in die Gesamtabwägung einzubringen. Die Kammer hielt danach eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren für tat- und schuldangemessen.
F. Strafaussetzung zur Bewährung
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Die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe konnte gemäß § 56 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden. Nach der Gesamtwürdigung der Tat und der Persönlichkeit der Angeklagten liegen neben einer positiven Sozialprognose auch besondere Umstände vor.
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Sie ist nicht vorbestraft, war geständig und hat den Schaden vollständig ausgeglichen. Sie lebt mit ihrem Ehemann in einer festen Beziehung mit einem stabilen sozialen Umfeld und ist nunmehr in einem Angestelltenverhältnis tätig. So ist es hinreichend wahrscheinlich, dass die Angeklagte in Zukunft ein straffreies Leben führen wird.
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Aufgrund der Gesamtumstände, insbesondere der langen Verfahrensdauer und der bereits erfolgten Schadenswiedergutmachung sowie der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Situation der Angeklagten, hielt die Kammer es nicht für erforderlich, eingriffsintensive oder belastende Bewährungsauflagen zu verhängen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 465 Abs. 1 Satz 1 StPO.