Inhalt

VGH München, Beschluss v. 11.10.2023 – 24 B 23.30525
Titel:

Keine systemischen Schwachstellen für anerkannt Schutzberechtigte bei Rückkehr nach Italien

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, § 60 Abs. 7
Asylverfahrens-RL Art. 33 Abs. 2 lit. a
Leitsatz:
Nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln erwarten eine alleinstehende und arbeitsfähige Frau als anerkannt Schutzberechtigte bei ihrer Rückkehr nach Italien keine Lebensverhältnisse, die sie der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Sekundärmigration (Italien), anerkannt Schutzberechtigte, drohende Obdachlosigkeit, Asyl, Italien, anerkannt schutzberechtigt, systemische Schwachstellen, alleinstehend, Frau, Obdachlosigkeit
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 14.07.2022 – RO 15 K 22.30078
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29898

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 14. Juli 2022 – RO 15 K 22.30078 – wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird gemäß § 78 Abs. 8 AsylG zugelassen.   

Tatbestand

1
Die 1990 geborene Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige und reiste, nachdem sie sich zuvor schon in der Italienischen Republik (im Folgenden: Italien) aufgehalten hatte, auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie stellte dort am 20. September 2021 einen Asylantrag. Die Klägerin hat nach ihren Angaben in Italien internationalen Schutz erhalten und verfügte über eine Aufenthaltserlaubnis („Permesso di Soggiorno“; ausgestellt am 9.5.2016, gültig bis 8.5.2021).
2
Mit Bescheid vom 13. Januar 2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Antrag der Klägerin als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und drohte die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da der Klägerin in Italien internationaler Schutz gewährt worden sei; einer Unzulässigkeitsentscheidung stehe auch insbesondere Art. 4 GRCh nicht entgegen.
3
Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 14. Juli 2022 ab. Der Bescheid des Bundesamts könne auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden, weil die Klägerin internationalen Schutz durch Italien erhalten habe und sie dort keine Lebensumstände erwarten würden, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh gleichkämen. Es sei nicht anzunehmen, dass die Klägerin unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation extremer materieller Not geraten werde, die es ihr nicht erlauben würde, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, und die ihre Gesundheit beeinträchtige oder sie in einen Zustand der Verelendung versetze.
4
Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung macht die Klägerin geltend, als alleinstehende anerkannt Schutzberechtigte sei sie bei einer Rückkehr nach Italien dem „real risk“ einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt. Dies gelte unabhängig davon, dass sie noch immer an den bereits im verwaltungsgerichtlichen Verfahren dargelegten Erkrankungen leide. Denn es sei zu berücksichtigen, dass es ihr – zumindest im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung – in Italien nicht mehr möglich sein werde, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern. Ausweislich der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954) betrage die Dauer der Aufenthaltserlaubnis fünf Jahre und könne maximal bis 2,5 Jahre nach Ablauf noch verlängert werden. Bei der Klägerin laufe diese Frist am 28.11.2013 ab [gemeint ist wohl: 2023] . Darüber hinaus drohe der Klägerin eine Situation extremer materieller Not, weil davon auszugehen sei, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in die Obdachlosigkeit entlassen werde, wenn sie auf sich selbst gestellt nach Italien zurückgeführt würde. Außerdem sei davon auszugehen, dass Italien sie ohnehin faktisch nicht zurücknehme.
5
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg abzuändern und den Bescheid vom 13. Januar 2022 – mit Ausnahme der in Nr. 3 Satz 4 getroffenen Feststellung, dass die Klägerin nicht nach Nigeria abgeschoben werden darf –, aufzuheben oder hilfsweise, unter Abänderung des Urteils die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass nationale Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Hinblick auf Italien vorliegen und den Bescheid aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
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Die Beklagte verteidigt das Urteil und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen
7
Die Beteiligten sind gemäß § 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO zu einer Entscheidung über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung angehört worden. Die Beklagte hat zugestimmt, die Klägerin hat sich nicht geäußert.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und auf die Behördenakten, auch aus dem Berufungszulassungsverfahren, Bezug genommen.

Gründe

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Die zulässige Berufung ist unbegründet.
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A. Der Bescheid der Beklagten vom 13. Januar 2022 erweist sich in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 des Asylgesetzes – AsylG – i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2022 (BGBl I S. 2817), als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Asylantrag der Klägerin ist aufgrund des bereits in Italien zuerkannten internationalen Schutzes zu Recht als unzulässig abgelehnt worden. Abschiebungsverbote hinsichtlich Italien liegen nicht vor. Die erlassene Abschiebungsandrohung nach Italien und das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnen keinen Bedenken.
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I. Die Beklagte hat den Asylantrag in Nummer 1 des Bescheids zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt. Demnach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
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1. Italien ist Mitgliedstaat der Europäischen Union und hat, das ist zwischen den Beteiligten unstreitig, der Klägerin internationalen Schutz erteilt. Ob der gewährte Schutz im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch besteht, ist für § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG jedenfalls dann nicht relevant, wenn die Klägerin – wie hier – Italien freiwillig verlassen hat (vgl. BayVGH, B.v. 20.4.2023 – 24 ZB 23.30078 – Leitsatz 3).
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2. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist im Falle der Klägerin auch nicht aus unionsrechtlichen Gründen ausgeschlossen.
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a) Es ist den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes i.d.F. d. Bek. vom 29. März 2013 (Asylverfahrens-RL, ABl L 180 S. 60) eingeräumten Befugnis – und mithin von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u.a., Hamed u.a. – juris Rn. 35; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. – juris Rn. 88), wenn die Klägerin in Italien der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union i.d.F. d. Bek. vom 12. Dezember 2007 (EU-Grundrechtecharta – GRCh, ABl C 303 S. 1) zu erfahren.
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aa) Art. 4 GRCh entspricht ausweislich der Charta-Erläuterungen dem Recht, das durch Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten i.d.F. d. Bek. v. 22. Oktober 2010 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK, BGBl II S. 1198) garantiert ist (vgl. Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/18; s. a. Art. 52 Abs. 3 GRCh). Im Unterschied zu der Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK sind bei der Prüfung einer unionsrechtlich begründeten Anwendungssperre hinsichtlich des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG allerdings nicht die individuellen Umstände der Klägerin, sondern es ist allein maßgeblich, ob die festgestellten Aufnahmebedingungen in allgemeiner Hinsicht regelhaft derartige Schwachstellen aufweisen, die unabhängig vom Einzelfall die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh für nach Italien zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen.
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bb) Im Zusammenhang mit der Beurteilung einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh kommt dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten grundlegende Bedeutung zu. Er verlangt von jedem Mitgliedstaat grundsätzlich, davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 81; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 84). Folglich gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die widerlegliche Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht.
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Für diese Vermutung ist nur dann kein Raum, wenn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass die betreffende Person im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 85 und 88; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 86f.). Verfügt das Gericht über Angaben, die die jeweilige Klägerin oder der jeweilige Kläger beigebracht haben, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem betreffenden Mitgliedstaat nachzuweisen, so ist es verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18).
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cc) Somit ist eine Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nur dann nicht zulässig, wenn Schwachstellen vorliegen, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Das ist der Fall, wenn eine Gleichgültigkeit der Behörden Italiens bestünde, die zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 f m.w.N.; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 89 f.; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Diese Schwelle ist selbst in einer durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situation nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 93; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18).
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Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRCh liegt nicht schon vor, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Fall einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern kann erst angenommen werden, wenn die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und arbeitsfähige erwachsene Personen (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12).
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dd) Bei der für Art. 4 GRCh maßgeblichen Bewertung der Lebensverhältnisse, die die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr erwarten, sind zunächst ihre Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, zu berücksichtigen. Insoweit ist es der Klägerin gegebenenfalls auch zumutbar, eine wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entspricht und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden kann (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 29). Auch reicht der Umstand, dass die betreffende Person in dem Mitgliedstaat keine existenzsichernden Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, regelmäßig nicht für das Erreichen der Erheblichkeitsschwelle (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 13; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 19).
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Bei der Bewertung sind ferner die staatlichen Unterstützungsleistungen und auch die – alleinigen oder ergänzenden – dauerhaften Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen und Organisationen zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 22). Deshalb kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 14; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 20; VGH BW, B.v. 8.11.2021 – A 4 S 2850/21 – juris Rn. 10; vgl. ferner BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 22).
22
b) Nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln erwarten die alleinstehende und arbeitsfähige Klägerin als anerkannt Schutzberechtigte bei ihrer Rückkehr nach Italien keine Lebensverhältnisse, die sie der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh im vorstehenden Sinne zu erfahren (vgl. BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 20 ff.). Die Klägerin ist hierbei nicht als vulnerabel anzusehen. Im Rahmen des Berufungsverfahrens wurde zwar ein orthopädisches Attest vom 2. Oktober 2023 vorgelegt. In diesem wird der Klägerin ein erworbener Knick-Plattfuß beidseits (gesichert) diagnostiziert (ICD-Code M21.61 G B). Jedoch ist diese Diagnose nicht geeignet, die Klägerin als besonders verletzlich anzusehen. Vulnerable Personen sind Personen, die gegenüber erwachsenen und gesunden Personen einen deutlich anderen bzw. höheren Versorgungsbedarf aufweisen und deshalb mit widrigen Umständen erheblich weniger umgehen können und wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in Situationen extremer Not geraten (vgl. VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 40). Ein Knick-Plattfuß, der grundsätzlich mit Einlagen therapiert werden kann, beeinträchtigt die Klägerin zwar und ist auch mit Schmerzen verbunden. Jedoch ist nicht erkennbar, dass die Klägerin hierdurch – gemessen an im Wesentlichen gesunden Frauen – in einem Ausmaß verletzlich ist, der die Annahme rechtfertigt, sie werde erheblich schneller in einen Zustand der Hilflosigkeit und Not geraten. Hinsichtlich der Bewertung des Gesundheitszustands der Klägerin, soweit zu diesem auf Basis der bereits im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorliegenden Atteste Erkenntnisse vorliegen, verweist der Senat nach § 130b Satz 2 VwGO analog auf die Bewertung des Verwaltungsgerichts (UA S. 22).
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aa) Schutzberechtigte genießen in Italien Niederlassungsfreiheit, können einen Wohnsitz anmelden und haben Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen im selben Ausmaß wie italienische Staatsbürger (Asylum Information Database – AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 192, 208; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 10.3.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 18, 20). Da rückkehrende Personen mit Schutzstatus italienischen Staatsbürgern formell gleichgestellt sind, erhalten sie keine besondere Unterstützung (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 1.7.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 21). Sie erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre, die auf Antrag bei Fortbestand der Voraussetzungen verlängert wird. Auch wenn ihre Aufenthaltserlaubnis zwischenzeitlich abgelaufen ist, ist es der Klägerin möglich, deren Verlängerung zu beantragen. Obwohl an sich nach italienischem Recht eine neue Aufenthaltsbewilligung mindestens 60 Tage vor Ablauf der bisherigen Bewilligung beantragt werden muss, ist eine Verlängerung bis maximal der Hälfte der Gültigkeitsdauer des Status – also 2,5 Jahre – über das Ablaufdatum hinaus möglich (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Anfragebeantwortung für das VG Karlsruhe vom 29.4.2022, S. 2; s.a. für weitere Erkenntnisse zur Verlängerung BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 21). Diese Frist ist vorliegend im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch nicht abgelaufen.
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bb) Hinsichtlich der für Art. 4 GRCh maßgeblichen Bewertung der Unterkunfts- bzw. Unterbringungsmöglichkeiten ist vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel wegen des bestehenden Angebots von Nichtregierungsorganisationen, Freiwilligenorganisationen und Kirchen nicht von einer mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Lage auszugehen (3), obwohl die Klägerin keinen Anspruch auf behördliche Unterbringung mehr haben dürfte (1) und ihr die Anmietung einer Sozialwohnung oder einer Wohnung auf dem freien Markt kaum in absehbarer Zeit gelingen wird (2).
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(1) In Italien bildet das nach der Reform von 2020 entstandene Zweitaufnahmesystem „Sistema Asilo Integrazione“ (SAI) die maßgebliche Unterbringungsmöglichkeit für anerkannt Schutzberechtigte und ersetzt das unter Innenminister Salvini geschaffene SIPROIMI-System (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 10.3.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 18). Die SAI-Projekte werden in der Regel gemeinsam von Kommunen und zivilgesellschaftlichen Akteuren betrieben. In den Zentren werden die Bewohner materiell und gesundheitlich versorgt, sozial und psychologisch betreut und erhalten Sprach- und landeskundlichen Unterricht. Anerkannt Schutzberechtigte erhalten zudem Unterstützung bei Integration, Arbeitssuche und beruflicher Bildung. Die reguläre Aufnahmedauer beträgt sechs Monate und kann in Ausnahmefällen verlängert werden. Nach der Gesetzesverordnung 130/2020 sollen die Personen nach dem Verlassen des SAI-Systems im Rahmen der Kapazitäten weiter behördlich bei der Integration unterstützt werden (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 213 ff.).
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Aufnahmeberechtigt in den Zentren des SAI-Systems sind unbegleitete minderjährige und heranwachsende Flüchtlinge, anerkannt international Schutzberechtigte und im Rahmen der Aufnahmekapazität Asylbewerber und sonstige Aufenthaltsberechtigte. Das Recht auf Unterbringung kann entzogen werden, wenn die Hausregeln missachtet werden, der Betreffende sich gewalttätig verhält oder die Unterkunft unberechtigt länger als 72 Stunden verlassen wird (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 213, 215 f.). Wenn der Betreffende vor seiner Ausreise aus Italien noch keinen Zugang zu einem SAI-Projekt bzw. einer Einrichtung nach den Vorgängervorschriften über SIPROIMI hatte, besteht grundsätzlich ein Recht auf Unterbringung in einem solchen Projekt im Rahmen der Kapazität (Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, 29.10.2020, Auskunft an VGH Kassel, S. 2). Wenn eine Person dagegen früher Zugang zu einem SIPROIMI-Projekt erhalten hatte und später nach Italien rücküberstellt wird, erhält sie keinen Zugang zu SIPROIMI-Projekten mehr. Ausnahmsweise kann man beim Innenministerium einen Antrag aufgrund von neuen Vulnerabilitäten stellen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Januar 2020, Aufnahmebedingungen in Italien, S. 61). Dies gilt auch seit Einführung des neuen SAI-Systems (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 10.06.2021, Aufnahmebedingungen in Italien, S. 12).
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Vorliegend ist mit Blick auf die Mitteilungen der Klägerin gegenüber dem Bundesamt, dass sie sich seit 2016 in Italien aufgehalten habe, Schutz erhalten habe, aber wegen eines Drogendelikts für etwa zwei Jahre im Gefängnis gewesen sei, wohl davon auszugehen, dass sie entsprechend den bestehenden italienischen Regelungen bereits eine Möglichkeit hatte, im Rahmen des SAI-Systems eine Unterkunft zu erhalten und diese Möglichkeit nun im Falle der Rückkehr nicht mehr besteht.
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(2) Die Klägerin wird voraussichtlich in absehbarer Zeit auch weder eine Sozialwohnung noch eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt erlangen können. Anerkannt schutzberechtigte Personen haben zwar grundsätzlich Zugang zu Sozialwohnungen zu den gleichen Bedingungen wie italienische Staatsangehörige. In manchen Regionen ist dieser Zugang an eine bestimmte ununterbrochene Mindestmeldezeit gebunden, wobei solche Praktiken vom italienischen Verfassungsgericht 2021 für unzulässig erklärt wurden. Wartezeiten von mehreren Jahren auf eine Wohnung sind jedoch die Regel (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 1.7.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 20; AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 217 f). Unabhängig davon steht diesem Personenkreis in Italien auch der freie Wohnungsmarkt zur Verfügung. Vermieter verlangen oft einen Arbeitsvertrag und eine gültige Aufenthaltserlaubnis. Mieten sind im Allgemeinen und vor allem in den großen Städten sehr hoch (vgl. Raphaelswerk, Juni 2020, Italien: Information für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, S. 14). Überdies ist der freie Wohnungsmarkt beschränkt, weil wegen der hohen Eigentumsquote nur etwa zehn Prozent aller Immobilien frei vermietet werden (UNHCR, Februar 2021, The refugee house, S. 7).
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(3) Trotz der der Klägerin bei einer Rückkehr nach Italien – jedenfalls in der Anfangszeit – drohenden Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit, wird es ihr möglich sein, einen Lebensstandard zu erhalten, der noch unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des Art. 4 GRCh liegt (so auch OVG RhPf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – Rn. 53 ff. mit Verweis auf VGH BW, B.v. 8.11.2021 – A 4 S 2850/21).
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Zwar kann Obdachlosigkeit zu einer für die Verletzung des Art. 4 GRCh hinreichenden Bedingung anwachsen, wenn die Betroffenen zusätzlich besondere Vulnerabilitäten aufweisen oder wenn sie in der Obdachlosigkeit auch in denjenigen Situationen auf sich selbst gestellt bleiben, in denen ihre Unterstützung zur Vermeidung einer extremen materiellen Not zwingend notwendig ist. Davon kann jedoch bei alleinstehenden und arbeitsfähigen Personen angesichts der zahlreichen Hilfsangebote verschiedener Akteure nicht ohne weitere Anhaltspunkte ausgegangen werden. Auch wenn sich die Lebenssituation und der Lebensstandard der anerkannt Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Italien im Vergleich zu einem Aufenthalt in Deutschland deutlich verschlechtern, stellt dies noch keine mit Art. 4 GRCh unvereinbare Situation dar. Ausweislich der Erkenntnismittel können anerkannt Schutzberechtigte in privaten Notunterkünften ihre elementarsten Grundbedürfnisse decken und auf ein umfangreiches Netzwerk privater Einrichtungen zur Aufnahme von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten, die von kirchlichen und Nichtregierungsorganisationen getragen werden, zurückgreifen. Insbesondere die Kirchen bieten in Italien ein breites Spektrum an Hilfsleistungen an. Dies betrifft namentlich die Zurverfügungstellung von (Not-)Unterkünften, Kleidung und Nahrung (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 134; Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, 29.10.2020, Auskunft an VGH Kassel, S. 2, 7). Viele Menschen mit internationalem Schutzstatus leben in Notunterkünften, die lediglich einen Schlafplatz anbieten und auch anderen Bedürftigen zur Verfügung stehen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 1.7.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 20). Daneben existieren zahlreiche informelle Unterkünfte (Zeltstädte, Slums, besetzte Häuser), die teilweise von Hilfsorganisationen im Hinblick auf die Grundversorgung unterstützt werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, 29.10.2020, Auskunft an VGH Kassel, S. 7). Es ist nicht-vulnerablen anerkannt schutzberechtigten Personen wie der Klägerin möglich und zumutbar, sich darüber zu informieren, an welchem Ort noch Kapazitäten bestehen und ihren Aufenthalt auch dorthin zu verlagern. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund etwaiger regionaler Unterschiede bei der Verfügbarkeit und Auslastung dieser Angebote.
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cc) Im Hinblick auf die für Art. 4 GRCh ebenfalls maßgebliche Bewertung der Existenzsicherung geht der Senat davon aus, dass anerkannt Schutzberechtigte trotz einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (1) dennoch eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und so für ihren Lebensunterhalt (mit) sorgen können (2).
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(1) Personen, die als Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte internationalen Schutz genießen, haben in Italien denselben Zugang zum Arbeitsmarkt wie Inländer. In der Praxis bestehen wegen der hohen Arbeitslosigkeit Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Schwarzarbeit ist weit verbreitet. Viele Zuwanderer arbeiten in der Landwirtschaft, oft unter prekären Bedingungen und sind anfällig für Ausbeutung. In Anbetracht der derzeit hohen Arbeitslosigkeit in Italien ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus schwierig, Arbeit zu finden. Meist bleibt ihnen nur die Arbeit in der Schattenwirtschaft, wo die Gefahr der Ausbeutung ein Problem darstellt. Im Allgemeinen sind die wenigen Arbeitsplätze, die Asylsuchenden und Schutzberechtigten zur Verfügung stehen, schlecht bezahlt und befristet. Der Lohn reicht in der Regel nicht aus, um eine Wohnung zu mieten oder einer Familie ein sicheres Einkommen zu bieten. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich im Zuge der Covid-19-Pandemie und der Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage 2020 und 2021 zusätzlich verschärft, viele Personen mit Status, die eine Arbeit gefunden hatten, haben diese dadurch verloren (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13 f.).
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Die Beschäftigungsrate von Ausländern in Italien ist gleichwohl sehr hoch, sie liegt über der Beschäftigungsrate von Inländern. Der italienische Arbeitsmarkt ist aus demografischen Gründen auf Migration angewiesen. Es handelt sich jedoch zu einem großen Teil um geringqualifizierte und informelle Arbeit (RESPOND, 1.6.2020, Integration, Policies, Practices and Experiences. Italy Country Report, S. 26 f.). In den vergangenen Jahrzehnten war in Italien ein dramatischer Anstieg von Schwarzarbeit, illegalen Anwerbungsmethoden und damit einhergehender Ausbeutung von ausländischen Arbeitskräften zu verzeichnen (sog. „caporalato“). Zur Bekämpfung dieser Zustände wurden bestehende Strafen verschärft und neue Straftatbestände gegen kriminelle Arbeitgeber geschaffen; der italienische Staat geht vermehrt gegen illegale Beschäftigung und Ausbeutung von Ausländern vor (RESPOND, 1.6.2020, Integration, Policies, Practices and Experiences. Italy Country Report, S. 26 und 27). So wurden etwa im November 2022 in der Nähe von Foggia (Apulien) fünf Personen wegen der Ausbeutung von Arbeitern bei der Tomatenernte festgenommen (Amnesty International, Report zur Lage der Menschenrechte Italien 2022).
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Über ein Drittel der Ausländer arbeitet in befristeten oder in Teilzeitverträgen. 32% der Migranten in Beschäftigung arbeiten in einem ungelernten Beruf; mehr als ein Viertel der ausländischen Beschäftigten üben persönliche Dienstleistungen wie Pflege und Betreuung aus, ein weiteres Viertel ist in Hotels und Restaurants, im Transportgewerbe, als Lagerarbeiter oder Bauarbeiter beschäftigt. Das durchschnittliche Nettoeinkommen von Ausländern liegt unterhalb des Durchschnittseinkommens von Inländern. Die Arbeitslosigkeit von international schutzberechtigten Personen wird auf 17,8% geschätzt, wobei Frauen aus diesem Personenkreis zu 34,9% erwerbslos sind. Gleichwohl erreicht auch die Erwerbsquote dieses Personenkreises fast die Erwerbsquote von italienischen Staatsangehörigen (vgl. Beppe De Sario, 1.1.2021, Migration at the crossroads, S. 206 ff.). Die Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt hängt auch vom lokalen sozioökonomischen Kontext ab und gelingt im hochentwickelten Norden besser als im landwirtschaftlich geprägten Süden. Maßgebliche Umstände für einen Zugang zum Arbeitsmarkt sind der Erwerb von Sprachkenntnissen, berufliche Fähigkeiten, gesicherte Wohnverhältnisse und eine funktionierende Arbeitsvermittlung (SIRIUS, Dezember 2020, WP7: Italian country report, S. 6 f., 9).
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Es gibt ferner öffentliche staatliche Schulen (Provincial Centres for Adult Education – CPIA), in denen italienischen und ausländischen Staatsbürgern ab 16 Jahren Aus- und Weiterbildungen angeboten werden. Hierunter fallen neben der Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenz auch italienische Sprachkurse für Ausländer (Beppe De Sario, 1.1.2021, Migration at the crossroads, S. 203).
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Anerkannt Schutzberechtigte haben außerdem denselben Anspruch auf Zugang zum italienischen Sozialsystem wie italienische Staatsbürger (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 221), auch wenn das italienische Sozialsystem nur schwach ausgeprägt ist und sich auf traditionelle Familienstrukturen, die Flüchtlingen meist nicht zur Verfügung stehen, stützt. Sechs Monate nach Erhalt des Schutzstatus sind die Asylsuchenden auf sich gestellt und müssen für sich selbst sorgen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 10.3.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 20; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Januar 2020, Aufnahmebedingungen in Italien, S. 62).
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(2) Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnisse ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin als arbeitsfähige Schutzberechtigte bei ihrer Rückkehr nach Italien in der Lage ist, ihr wirtschaftliches Existenzminimum durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von Hilfsangeboten von kirchlichen oder Nichtregierungsorganisationen zur Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, zu erwirtschaften. Aus Sicht des Senats ist es arbeitsfähigen anerkannt Schutzberechtigten regelmäßig möglich und zumutbar, sich gerade in der Anfangszeit um Anstellungen im Tourismusgewerbe oder in der Landwirtschaft zu bemühen und so für ihre Existenzsicherung zu sorgen. Sie müssen sich hierbei auch auf – ggf. befristete – Aushilfstätigkeiten verweisen lassen. Denn der Maßstab kann nur das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige sein, wobei es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zumutbar ist, auch Tätigkeiten auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison oder Erntezeit, ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angesiedelt sind (vgl. zu diesem strengen Maßstab z.B. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 29 m.w.N.). Hinsichtlich der fehlenden italienischen Sprachkenntnisse können die Rückkehrer auf Sprachkurse für Ausländer an den CPIA verwiesen werden.
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2. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch hinsichtlich seiner Nummer 2 rechtmäßig. Nationale Abschiebungsverbote nach Maßgabe des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz (AufenthG) – i.d.F. d. Bek. vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 15. August 2019 (BGBl I S. 1294), bestehen nicht. In der Person der Klägerin liegen keine Gründe vor, die zu einer von der allgemeinen Lage für nach Italien zurückkehrende international Schutzberechtigte abweichenden Beurteilung führen und ihrer Abschiebung nach Italien entgegenstehen könnten.
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a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der im deutschen Recht im Rang eines Bundesgesetzes geltenden Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts umfasst der Verweis auf die Konvention lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 35). Mit Blick auf den Zweck der Konvention, grundsätzlich Rechte und Freiheiten innerhalb des eigenen Machtbereichs der Vertragsstaaten selbst zu sichern (vgl. BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34.99 – juris Rn. 8), kommt als ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis meist nur die Gefahr der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK in Betracht. Es ist geklärt, dass die im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen müssen (vgl. EGMR (GK), U.v. 13.12.2016 – Paposhvili/Belgien, Nr. 41738/10, NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – NVwZ 2017, 691 Rn. 68).
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Bei der Prüfung, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung als Folge schlechter Lebens- und Rückkehrbedingungen droht und deshalb ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht, kommt es maßgeblich darauf an, wie sich die – bei der oben durchgeführten Prüfung der Unzulässigkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – allgemein festgestellten Aufnahmebedingungen im Lichte der jeweils individuellen Umstände und persönliche Besonderheiten der konkreten Klägerin (im Falle ihrer Rückkehr) auswirken werden (vgl. auch BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 45). Denn die Frage nach einem nationalen Abschiebungsverbot kann nicht allein aufgrund der Umstände in einem Mitgliedstaat, sondern nur in der Auswirkung dieser Umstände auf den konkret Betroffenen beurteilt werden. Es bedarf insoweit einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11).
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b) Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Italien Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es ist weder ersichtlich noch wurde vorgetragen, dass bei der Klägerin besondere individuelle Umstände bestehen, die in ihrem konkreten Fall dazu führen, dass abweichend von den allgemeinen Feststellungen eine Verletzung von Art. 3 EMRK hinreichend wahrscheinlich erscheint. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin vom durchschnittlichen alleinstehenden und arbeitsfähigen anerkannt Schutzberechtigten abweicht.
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c) Es sind, wie bereits im Rahmen der (fehlenden) Vulnerabilität ausgeführt, keine Anhaltspunkte ersichtlich, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigen könnten.
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3. Auch die Nummern 3 und 4 des Bescheids sind rechtmäßig. Die Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG ist nicht zu beanstanden. Sie wäre auch dann nicht rechtswidrig, sollte Italien der Klägerin, wie sie es mit Blick auf das – hier nicht einschlägige – Dublin-Regime vorträgt, tatsächlich die Einreise verweigern. Gegen die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2, § 75 Nr. 12 AufenthG bestehen ebenfalls keine Bedenken.
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B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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C. Die Revision ist nach Maßgabe des § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG als sogenannte „Tatsachenrevision“ zuzulassen, da der Senat im Rahmen der Überprüfung der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien von deren Beurteilung durch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A – juris) abweicht. Im Übrigen wird die Revision nicht zugelassen, da keine Gründe des § 132 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 VwGO vorliegen.