Titel:
Erfolgloser Zulassungsantrag: Wahläußerungen auf einem Flugblatt
Normenketten:
GG Art. 5 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1
LStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
Leitsätze:
1. Der Begriff „Volksverräter“ auf einem Pakat bzw. Flugblatt kann ungeachtet seines möglichen ehrverletzenden Gehalts vom Schutzbereich des Art. 21 Abs. 1 GG iVm Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt sein. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Äußerungen im öffentlichen Kommunalwahlkampf sind bei der Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik nochmals strengere Anforderungen zu stellen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Begriff „Volksverräter“ kann zwar angesichts seiner historischen Belastung eine besondere Herabsetzung des betroffenen Personenkreises beinhalten, in der öffentlichen Diskussion wird er jedoch auch heute noch gebraucht, um Kritik an der vermeintlich fehlenden Responsivität der politisch Verantwortlichen gegenüber den Einstellungen der Mehrheit des Volkes zu üben. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sicherheitsrecht, Untersagung der Verbreitung eines Flugblattes im Kommunalwahlkampf, Auslegung als strafbare Beleidung unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit (hier verneint), Flugblatt, Kommunalwahlkampf, Beleidigung, Meinungsfreiheit, Volksverräter, Schmähkritik
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 15.06.2023 – M 22 K 20.778
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29873
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
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Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich die Beklagte gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 15. Juni 2023, mit dem dieses auf die Fortsetzungsfeststellungsklage des Klägers hin festgestellt hat, dass der Bescheid der Beklagten vom 5. März 2020 rechtswidrig gewesen sei. Mit diesem Bescheid hatte die Beklagte unter Anordnung des Sofortvollzugs und verbunden mit einer Zwangsmittelandrohung dem Kläger untersagt, das Flugblatt mit dem Titel „Raus aus dem Rathaus“, das eine Karikatur abbildet, die das Münchner Kindl zeigt, das mit Hilfe eines Besens wohl verschiedene Mitglieder des Stadtrates vom M2.platz kehrt, verbunden mit der auf der Rückseite des Flugblattes abgedruckten Aussage „Deshalb: Volksverräter raus aus dem Rathaus!“ im Gebiet der Landeshauptstadt M.zu verbreiten.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch ein Verfahrungsmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (2.).
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn ein Beteiligter im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass das streitgegenständliche Flugblatt keine im Sinne von § 185 StGB strafbare Beleidigung der auf seiner Vorderseite karikierten Personen darstellt und die Verbreitung daher nicht nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 LStVG zur Verhütung einer Straftat untersagt werden durfte.
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Der Senat verweist dazu zunächst auf die Gründe der Beschwerdeentscheidung im Eilverfahren (B.v. 9.3.2020 – 10 CS 20.465 – juris Rn. 8 ff.). Dort hat er ausgeführt:
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„Der Einwand der Antragsgegnerin, das Verwaltungsgericht habe unter Verkennung der Tragweite der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) die Äußerungen auf dem vom Antragsteller verantworteten und verbreiteten Flugblatt „Raus aus dem Rathaus!“ (Vorderseite des Flugblatts) und „Deshalb: Volksverräter raus aus dem Rathaus!“ (Rückseite) zu Unrecht nicht als Formalbeleidigung oder Schmähkritik der in der Bilddarstellung auf der Vorderseite des Flugblatts karikierten Personen eingestuft, greift nicht durch.
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Das Verwaltungsgericht ist unter Berücksichtigung der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. zuletzt B.v. 14.6.2019 – 1 BvR 2433/17 –, B.v. 19.2.2019 – 1 BvR 1954/17 – jeweils juris) zutreffend davon ausgegangen, dass die Verwendung des Begriffs „Volksverräter“ mit Blick auf den konkreten Anlass und Kontext der Äußerung nicht als den Tatbestand von § 185 StGB verwirklichende Schmähkritik und damit als eine rechtswidrige Tat im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 LStVG zu bewerten ist. Es hat die textliche und bildliche Aussage dieses vom Antragsteller im Wahlkampf für die Kommunalwahl am 15. März 2020 in Bayern verwendeten Plakats bzw. Flugblatts ungeachtet seines möglichen ehrverletzenden Gehalts zu Recht als ein vom Schutzbereich des Art. 21 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasstes Werturteil angesehen (dazu zuletzt auch BayVGH, B.v. 23.5.2019 – 10 CE 19.997 – juris Rn. 13 m.w.N.) und auch die Schranken des Grundrechts auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 2 GG sowie die Bedeutung der Strafnorm des § 185 StGB rechtsfehlerfrei ermittelt. Es hat berücksichtigt, dass auch polemische und verletzende Formulierungen einer Aussage diese grundsätzlich nicht dem Schutzbereich des Grundrechts nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG entziehen (zuletzt BVerfG, B.v. 14.6.2019 – 1 BvR 2433/17 – juris Rn. 16). Nicht verkannt hat das Verwaltungsgericht auch den bei der Auslegung und Anwendung der §§ 185 ff. StGB geltenden Sonderfall herabsetzender Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, und die aus verfassungsrechtlichen Gründen geltenden strengen Anforderungen an die Qualifizierung von Äußerungen als Schmähkritik. Demgemäß hat es seine Bewertung der streitgegenständlichen Äußerungen auf dem Flugblatt unter besonderer Berücksichtigung von Anlass und Kontext vorgenommen (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 18 m.w. Rsprnachweisen). In diesem Zusammenhang ist weiter zu berücksichtigen, dass es sich um Äußerungen im öffentlichen Kommunalwahlkampf der am 15. März 2020 stattfindenden Stadtratswahl in München handelt und bei solchen Äußerungen im öffentlichen Kontext bei der Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik nochmals strengere Anforderungen zu stellen sind (BVerfG, B.v. 19.2.2019 – 1 BvR 1954/17 – juris Rn. 14). Von Bedeutung ist auch, dass es sich bei der Plakat-/Flugblattwerbung für Wahlen auch heute noch um ein Wahlkampfmittel von erheblicher Bedeutung handelt, dessen Nutzung durch das Recht auf freie Meinungsäußerung im Wahlkampf geschützt ist (BVerfG, B.v. 24.5.2019 – 1 BvQ 45/19 – juris Rn. 18). Schließlich hat das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zutreffend zugrunde gelegt, dass Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist, und im Fall einer mehrdeutigen Äußerung die Gerichte, wollen sie ihrer rechtlichen Würdigung die zur Anwendung sanktionierender Normen führende Deutung zugrunde legen, andere Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen haben (BVerfG, B.v. 24.5.2019 – 1 BvQ 45/19 – juris Rn. 12 m.w.N.).
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Entgegen dem Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin genügt die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts den dargestellten Maßstäben. Vor allem hat das Verwaltungsgericht bei seiner Beurteilung der streitigen Äußerungen auf dem Flugblatt/Wahlplakat zu Recht den Kontext der inhaltlichen politischen Auseinandersetzung zwischen dem Antragsteller und seiner Stadtratsgruppierung (BIA) und den „etablierten Parteien“ im Stadtrat der Stadt München gesehen und wegen ihres sachlichen Bezugs eine bloße Herabsetzung der in der Bilddarstellung auf der Vorderseite karikierten Personen (wohl sämtlich Mitglieder verschiedener Fraktionen und Gruppierungen des Münchner Stadtrats) verneint (zum Abgrenzungskriterium eines sachlichen Bezugs der Äußerungen: BVerfG, B.v. 14.6.2019 – 1 BvR 2433/17 – juris Rn. 19; B.v. 19.2.2019 – 1 BvR 1954/17 – juris Rn. 14). Dass es sich im konkreten Fall um eine Äußerung handelt, deren diffamierender Gehalt so erheblich ist, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheint und daher unabhängig von ihrem konkreten Kontext stets als persönlich diffamierende Schmähung aufgefasst werden muss (vgl. BVerfG, B.v. 19.2.2019 – 1 BvR 1954/17 – juris Rn. 11), hat weder die Antragsgegnerin nachvollziehbar dargelegt noch ist dies für den Senat ersichtlich.
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Die inhaltliche politische Auseinandersetzung des Flugblatts mit den etablierten Parteien des Münchner Stadtrats wird im einleitenden Text unter der Überschrift „Raus aus dem Rathaus!“ mit dem darunter befindlichen Bild, das ein Münchner Kindl darstellt, das mit einem großen Besen fünf karikaturhaft dargestellte Personen (wohl sämtlich Mitglieder verschiedener Fraktionen und Gruppierungen des Münchner Stadtrats) vom Münchner M2.platz kehrt, deutlich. Dieser lautet: „Auf einen groben Keil gehört ein grober Klotz. Was die etablierten Parteien unserem Land – und ganz besonders auch unserer Stadt München – seit vielen Jahren zumuten, ist unfassbar und unerträglich. Deshalb: Raus aus dem Rathaus!“ Im Anschluss daran werden einzelne politische Themenfelder – Zuwanderung und ihre (behaupteten) Auswirkungen, Klimawandel, political correctness bei Minderheitenförderung etc., Umgang mit „Politisch Andersdenkenden“- angesprochen und die diesbezügliche Politik der Stadt bzw. der „Volksparteien“ oder „Rathausparteien“ – teils sehr polemisch – kritisiert. Den Abschluss dieser Thesen bzw. Behauptungen bildet dann auf der Rückseite des Flugblatts die Aussage „Deshalb: Volksverräter raus aus dem Rathaus!“ und weiter „Am 15. März die einzige Opposition wieder ins Münchner Rathaus wählen: Bürgerinitiative Ausländerstopp. Die einzige ECHTE Alternative im Rathaus…“
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Der vom Verwaltungsgericht auf dieser Grundlage festgestellte Sachbezug der inkriminierten abschließenden Äußerung „Deshalb: Volksverräter raus aus dem Rathaus!“ wird nach alledem auch für den Senat hinreichend deutlich und ist entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin gerade nicht mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen. Soweit die Antragsgegnerin rügt, hätte der Antragsteller nur die etablierten Rathausparteien oder Volksparteien als solche gemeint, hätte das Flugblatt das zum Beispiel durch das Wegkehren der Partei-Logos der betreffenden Parteien deutlich machen müssen, wird nicht hinreichend berücksichtigt, dass in der plakativen politischen Auseinandersetzung im Wahlkampf nicht die Partei-Logos, sondern vielmehr die Personen bzw. Köpfe dieser Personen für die jeweiligen Inhalte der Parteien stehen und in den Vordergrund gestellt werden. Insoweit hat der Antragsteller in seiner Beschwerdeerwiderung auch zutreffend darauf verwiesen, dass bei einer Kommunalwahl in erster Linie Personen gewählt werden. Weiter kann nicht durchgreifend eingewandt werden, ein inhaltliche bzw. thematische Sachbezug sei hier auch deshalb zu verneinen, weil der karikierte Personenkreis nicht (vollständig) mit den im Rathaus vertretenen etablierten Parteien identisch sei. Zum einen würde dies bei zehn bisherigen Fraktionen bzw. Gruppierungen im Münchner Stadtrat wohl den Rahmen einer solchen bildlichen Karikatur sprengen, zum anderen sind jedenfalls nach dem Eindruck des Senats die dargestellten karikierten Personen ohnehin nur relativ schwer „zuordenbar“ bzw. identifizierbar.
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Schließlich ist bei der Verwendung des Begriffs „Volksverräter“ nicht außer Acht zu lassen, dass der Begriff zwar angesichts seiner historischen Belastung eine besondere Herabsetzung des betroffenen Personenkreises beinhalten kann, in der öffentlichen Diskussion jedoch auch heute noch gebraucht wird, um Kritik an der vermeintlich fehlenden Responsivität der politisch Verantwortlichen gegenüber den Einstellungen der Mehrheit des Volkes zu üben (vgl. ausführlich VerfGH Sachsen, U.v. 3.11.2011 – Vf. 31-I-11 – juris Rn. 37; BayVGH, B.v. 23.5.2019 – 10 CE 19.997 – juris Rn. 18).
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Ausgehend davon teilt der Senat die Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass ungeachtet der polemischen und auch ehrverletzenden Kritik des Flugblatts (noch) die politische Auseinandersetzung im Kommunalwahlkampf mit den anderen Stadtratsparteien und nicht die bloße Diffamierung der in der Bilddarstellung karikierten fünf Personen im Vordergrund steht.“
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An dieser Einschätzung hält der Senat auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens fest, zumal die strengen rechtlichen Maßstäbe an die Auslegung einer Meinungsäußerung im Wahlkampf jüngst vom Bundesverwaltungsgericht noch einmal bestätigt wurden (vgl. BVerwG, U.v. 26.4.2023 – 6 C 8/21 – juris Rn. 27 ff.).
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Soweit die Beklagte im Zulassungsverfahren unter Verweis auf die strafrechtliche Würdigung des Flugblattes durch das Amtsgericht München rügt, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass die als „Volksverräter“ Bezeichneten auf der Vorderseite des Flugblatts mit einem Besen „wie Dreck“ aus dem Rathaus gekehrt würden, diese Darstellung Ähnlichkeiten mit zwei entsprechenden Darstellungen aus der Zeit des Nationalsozialismus aufweise und gerade deshalb eine Gesamtschau das Flugblatt zu einer unzulässigen Schmähkritik mache, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Die von der Beklagten vertretene Deutung, durch die Darstellung eines Besens würden die abgebildeten Personen mit „Dreck“ gleichgesetzt und Parallelen zu Säuberungsaktionen gegen politisch Andersdenkende hergestellt, ist im dargestellten Zusammenhang nicht so zwingend, dass andere – nicht als bloße Schmähkritik strafbare – Deutungsvarianten ausgeschlossen werden könnten. Die Karikatur kann z.B. auch als bildliche Umsetzung des im allgemeinen Sprachgebrauch gebräuchlichen „Kehraus“ verstanden werden, der wiederum häufig zur Beschreibung einer personellen Umbruchsituation verwendet wird, ohne dass damit zum Ausdruck gebracht würde, die „ausgekehrten“ Personen seien „Dreck“ oder Vergleichbares (vgl. statt vieler „Zum Kehraus bei Radio Br.“, abrufbar unter https://.../; „Manager-Kehraus bei Bertelsmann Buchclubs“, abrufbar unter https://....html; „Räumung vor EZB – Kehraus bei Oc. Fr.t“ abrufbar unter https://www.... usw.). Im Hinblick auf den vom Kläger angestrebten Machtwechsel nach der Kommunalwahl, der notwendigerweise mit einem Wechsel der politisch Verantwortlichen einhergegangen wäre, liegt eine solche Deutung jedenfalls nicht so fern, dass sie ausgeschlossen werden könnte. Damit kann das Flugblatt auch in einer Gesamtschau und unter Abwägung mit dem Schutz der Ehre der Betroffenen nicht als strafbare Beleidigung angesehen werden, der die Untersagung seiner Verbreitung auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 LStVG als allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG gerechtfertigt hätte.
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2. Auch ein Verfahrensmängel (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) in Form der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt nicht vor.
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Das prozessuale Grundrecht des Anspruchs auf rechtliches Gehör, das verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 91 Abs. 1 BV sowie einfachgesetzlich in § 108 Abs. 2 VwGO garantiert ist, sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung, so dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395 <409> = juris Rn. 42). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das entgegengenommene Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden. Es ist verfehlt, aus der Nichterwähnung einzelner Elemente des Vorbringens zu folgern, das Gericht habe sich mit den darin enthaltenen Argumenten nicht befasst (vgl. BVerwG, B.v. 9.7.2019 – 1 B 51.19 – juris Rn. 2 m.w.N.). Ein Gehörsverstoß liegt deshalb nur vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist, ohne dass es unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 <146> = juris Rn. 39; B.v. 22.11.2005 – 2 BvR 1090/05 – juris Rn. 26; B.v. 29.10.2015 – 2 BvR 1493/11 – juris Rn. 45). In jedem Fall muss die angegriffene gerichtliche Entscheidung auf dem geltend gemachten Gehörsverstoß beruhen, der Gehörsverstoß muss mithin ursächlich sein (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 <144 f., 146 u. 147> = juris Rn. 36, 39 u. 41).
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Gemessen daran zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts auf einem Gehörsverstoß beruht. Die Beklagte meint, das Verwaltungsgericht habe ihren Vortrag zur Bedeutung der bildlichen Darstellung für die Auslegung des Flugblattes in der Klageerwiderung vom 9. Dezember 2021 nicht „hinreichend in Erwägung gezogen“ und sie „nicht ansatzweise erwähnt“. Das Verwaltungsgericht hat den Vortrag jedoch im Tatbestand seines Urteils (S. 4 Rn. 10) der Sache nach wiedergegeben und die Karikatur und deren Aussagegehalt in seinem Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, auf den es zur Begründung des Urteils vollumfänglich Bezug genommen hat, zum Gegenstand seiner Betrachtung gemacht und gewürdigt. Besondere Umstände, die deutlich machen würden, dass das Verwaltungsgericht dabei den Vortrag der Beklagten zu Parallelen des Flugblatts mit Flugblättern in Zeiten des Dritten Reiches nicht zur Kenntnis genommen hätte, sind dabei nicht erkennen. Und selbst wenn das Verwaltungsgericht den Vortrag bei seiner Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt haben sollte, beruhte das Urteil nicht darauf, denn auch unter Berücksichtigung des Vortrags konnte die Entscheidung nach dem oben Dargelegten nicht anders ausfallen.
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Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt auch unter dem Gesichtspunkt einer Überraschungsentscheidung nicht vor. Das wäre nur dann der Fall, wenn das Verwaltungsgericht einen bis dahin nicht erörterten oder sonst hervorgetretenen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hätte, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchten, und die Beteiligten sich dazu nicht äußern konnten (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 27.7.2015 – 9 B 33.15 – juris Rn. 8; B.v. 19.7.2010 – 6 B 20.10 – juris Rn. 4). Dies behauptet selbst die Beklagte nicht. Ihr Vortrag, das Verwaltungsgericht habe „überraschend“ entschieden, weil es zunächst noch ein Ruhen des Verfahrens bis zum Abschluss des Strafverfahrens angeregt, dann aber doch entschieden habe, zeigt keinen Gehörsverstoß auf. Der Kläger hatte sich dem Ruhen des Verfahrens widersetzt, sodass ein förmlicher Ruhensbeschluss (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 251 Satz 1 ZPO) des Verwaltungsgerichts unterblieb. Die Beklagte, die im Übrigen selbst auf eine mündliche Verhandlung verzichtet hatte, musste daher jederzeit mit einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechnen. Unabhängig davon legt die Beklagte auch nicht dar, was sie noch vorgetragen hätte, wenn sie auf eine bevorstehende Entscheidung des Verwaltungsgerichts hingewiesen worden wäre, sodass auch deshalb ein für die Entscheidung ursächlicher Gehörsverstoß nicht dargelegt ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
20
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).