Titel:
Erfolgreiche Prozesskostenhilfebeschwerde wegen Abschiebungsandrohung
Normenketten:
VwGO § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 24, § 25 Abs. 3, § 36 Abs. 2, § 50 Abs. 3 S. 2, § 60a Abs. 2
Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 Art. 2
Rückführungsrichtlinie Art. 6 Abs. 2
Leitsatz:
Gemäß der Rückführungsrichtlinie sind Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfebeschwerde, Aufenthaltserlaubnis nach Massenzustromrichtlinie, ukrainischer Inhaber einer polnischen Aufenthaltserlaubnis, Ausreiseaufforderung als Voraussetzung einer Abschiebungsandrohung, Prozesskostenhilfe, Beschwerde, Ukraine, Polen, Aufenthalt, Ausreisepflicht, Abschiebungsandrohung, Rückführung, Freiwilligkeit, Abschiebung
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 01.09.2023 – M 12 KO 23.3917
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29866
Tenor
I. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 1. September 2023 wird dahingehend abgeändert, dass dem Antragsteller unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin Z., M., Prozesskostenhilfe auch für eine noch zu erhebende Klage gegen die in Ziffer 2. Satz 1 des Bescheids des Antragsgegners vom 3. Juli 2023 verfügte Abschiebungsandrohung bewilligt wird. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, soweit die Beschwerde zurückgewiesen wird. Die Gebühr wird auf zwei Drittel ermäßigt.
Gründe
1
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller, ein ukrainischer Staatsangehöriger, seinen in erster Instanz erfolglosen Prozesskostenhilfeantrag für eine noch zu erhebende Klage weiter.
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Mit der beabsichtigten Klage will der Antragsteller die Verpflichtung des Antragsgegners begehren, ihm unter Aufhebung des Bescheids vom 3. Juli 2023 eine Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise eine Duldung bis zum Ende des Krieges in der Ukraine zu erteilen und seinen Reisepass herauszugeben. Mit dem Bescheid vom 3. Juli 2023 hat der Antragsgegner die entsprechenden Anträge des Antragstellers abgelehnt (Ziffer 1. und 3.), die Abschiebung nach Polen angedroht (Ziffer 2. Satz 1) und bestimmt, dass dem Antragsteller keine Frist zur freiwilligen Ausreise eingeräumt werde (Ziffer 2. Satz 2). Das Verwaltungsgericht hat dem Antragsteller mit Beschluss vom 1. September 2023 Prozesskostenhilfe insoweit gewährt, „als mit der noch zu erhebenden Klage die Aufhebung der Ziffer 2 Satz 2 des Bescheids vom 3. Juli 2023“ begehrt werden soll. Im Übrigen hat es den Antrag mangels hinreichender Erfolgsaussichten abgelehnt. Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen Antrag vollumfänglich weiter.
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Die zulässige Beschwerde ist teilweise begründet.
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Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe setzt voraus, dass die Klage hinreichende Erfolgsaussichten hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Deshalb durfte das Verwaltungsgericht den Prozesskostenhilfeantrag zwar hinsichtlich der beabsichtigten Verpflichtungsklage, nicht jedoch hinsichtlich der beabsichtigten Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsandrohung ablehnen.
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1. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht hinreichende Erfolgsaussichten verneint, soweit die Klage auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. Duldung und die Herausgabe des Passes des Antragstellers gerichtet sein wird.
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Das Verwaltungsgericht hat insoweit zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Insbesondere folge ein solcher Anspruch nicht aus § 24 AufenthG i.V.m. Art. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022. Der Antragsteller sei zwar ukrainischer Staatsangehöriger, falle jedoch nicht unter den nach dem Durchführungsbeschluss begünstigten Personenkreis. Er habe sich nicht bis zum 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten. Vielmehr habe er seinen gewöhnlichen Aufenthalt bereits deutlich vor dem maßgeblichen Zeitpunkt in Polen gehabt. Er sei bereits seit dem 16. Dezember 2019 bis zum 14. Dezember 2020 im Besitz eines polnischen Visums und seither im Besitz einer bis zum 8. Februar 2024 befristeten polnischen Aufenthaltserlaubnis gewesen. Ab dem 5. Oktober 2020 bis zum 30. September 2022 habe der Antragsteller bei einem Unternehmen in Warschau gearbeitet. Der Antragsteller sei auch nicht wie erforderlich am oder nach dem 24. Februar 2022 aus der Ukraine vertrieben worden. Er werde auch nicht durch Ziff. 5 des Hinweises des BMI zur Umsetzung des Durchführungsbeschlusses (S. 10) erfasst. Dieser begünstige nur Personen, die sich kurz vor dem 24. Februar 2022 lediglich vorübergehend, d.h. bis zu 90 Tage, zum Urlaub oder zu Arbeitszwecken außerhalb der Ukraine aufgehalten haben und infolge des bewaffneten Konflikts nicht an den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts zurückkehren konnten. Der Antragsteller habe sich dagegen bereits wesentlich länger zu Arbeitszwecken in Polen aufgehalten. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG sei trotz der kriegerischen Auseinandersetzung in der Ukraine bereits deshalb ausgeschlossen, weil dem Antragsteller eine Ausreise nach Polen möglich und zumutbar sei. Eine Aufenthaltserlaubnis zu beruflichen Zwecken scheide auch aus. Der Antragsteller erfülle die Voraussetzungen des allein in Frage kommenden § 18a AufenthG nicht, weil er keine Fachkraft im Sinne der Vorschrift sei. Ferner bestehe kein Anspruch nach § 36 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf die (wohl) in Deutschland lebende Mutter. Abgesehen davon, dass eine Ermessensreduzierung auf Null nicht ersichtlich sei, sei auch die tatbestandlich erforderliche außergewöhnliche Härte weder vorgetragen noch ersichtlich. Darüber hinaus lägen die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht vor, da der Antragsteller jedenfalls ohne das erforderliche Visum eingereist und auch nicht von der Visumpflicht befreit sei (wird weiter ausgeführt). Die Verwahrung des Passes durch den Antragsgegner beruhe auf § 50 Abs. 5 AufenthG. Danach solle bei ausreisepflichtigen Ausländern der Reisepass bis zur Ausreise regelmäßig in Verwahrung genommen werden; eine vom Normalfall abweichende Sonderkonstellation sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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Diese Ausführungen sind auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens rechtlich nicht zu beanstanden. Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die Gründe des angegriffenen Beschlusses (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die Anmerkungen, Ergänzungen und (rhetorischen) Fragen der Beschwerdebegründung zu den Randnummern 6, 11, 33, 59, 60 und 71 der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ändern nichts daran, dass im Falle des Antragsstellers die besonderen Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nicht erfüllt sind und keine Duldungsgründe vorliegen.
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Insbesondere begründen die Verhältnisse in der Ukraine keine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG. Aufgrund des Zwecks der Regelung und ihrer systematischen Stellung im Rahmen der Vorschriften über den Familiennachzug kann eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG ihre Ursache nur in subjektiven, die Herstellung bzw. Wahrung der Familieneinheit betreffenden Umständen haben. Außerhalb dieses Schutzbereichs liegende Beeinträchtigungen bleiben deshalb in der Regel außer Betracht (BayVGH, B.v. 3.8.2023 – 10 ZB 23.1136 – juris Rn. 9; Dienelt in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 36 Rn. 34). Familienbezogene Härten hat der Antragsteller aber nicht in substantiierter Form vorgetragen.
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Dass die Abschiebung nach Polen derzeit rechtlich oder tatsächlich unmöglich im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG und der Antragsteller daher zu dulden wäre, ist nicht erkennbar. Die polnischen Behörden haben der Rückführung des Antragstellers nach Polen ausdrücklich zugestimmt. Ob dies nach polnischem Recht rechtmäßig geschehen ist, spielt für die Frage der tatsächlichen Möglichkeit einer Abschiebung keine entscheidungserhebliche Rolle. Dass dem Antragsteller in Polen eine unzumutbare Lage drohe, wird mit der Beschwerde zwar behauptet aber, nicht substantiiert dargelegt.
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2. Das Verwaltungsgericht hat jedoch zu Unrecht angenommen, die Klage gegen die Abschiebungsandrohung habe keine hinreichenden Erfolgsaussichten. Ausgehend von der Annahme des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller verfüge noch über eine gültige und wirksame Aufenthaltsberechtigung für Polen, spricht vieles dafür, dass die Abschiebungsandrohung deswegen rechtswidrig ist, weil der Antragsteller nicht zuvor oder wenigstens zeitgleich aufgefordert wurde, freiwillig nach Polen auszureisen.
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Das Verwaltungsgericht geht selbst davon aus, dass dem Antragsteller eine Frist zur freiwilligen Ausreise einzuräumen war und der Antragsgegner dies zu Unrecht unterlassen hat. Seine Annahme, das Unterlassen einer Ausreiseaufforderung nach § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG lasse die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung in Ziffer 2. Satz 1 des angegriffenen Bescheids unberührt, dürfte indes nicht zutreffen.
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Gemäß Art. 6 Abs. 2 RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) sind Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG Anwendung, so dass dennoch eine Rückkehrentscheidung ergehen kann. Die unionsrechtliche Verpflichtung nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG ist in das deutsche Recht durch § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG umgesetzt worden, der gebietet, dass der ausreisepflichtige Ausländer aufzufordern ist, sich u.a. unverzüglich in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu begeben, wenn ihm dort Einreise und Aufenthalt erlaubt sind. Es spricht vieles dafür, dass diese Verpflichtung Vorrang vor der Abschiebung hat und eine rechtmäßige Abschiebungsandrohung eine vorherige oder zumindest gleichzeitige Ausreiseaufforderung voraussetzt (in diesem Sinne wohl OVG Hamburg, B.v. 30.1.2020 – 6 Bs 233/19 – juris Rn. 18 f.). Die RL 2008/115/EG gibt der freiwilligen Ausreise grundsätzlich den Vorzug vor einer zwangsweisen Rückführung (vgl. Erwägungsgrund 10 der RL 2008/115/EG). Dass im Falle des Antragstellers eine Ausnahme aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorläge, ist nicht ersichtlich. Die vom Verwaltungsgericht angeführte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (B.v. 25.8.2015 – 18 B 635/14 – juris Rn. 14) sagt über den hier zu entscheidenden Fall nichts aus, denn im dortigen Fall war der Ausländer ausdrücklich aufgefordert worden, nach Spanien auszureisen, sodass das Oberverwaltungsgericht davon ausging, die Abschiebungsandrohung sei auf den Fall aufschiebend bedingt, dass der Ausländer nicht freiwillig ausreist. So ein Fall ist vorliegend nach dem Wortlaut des angegriffenen Bescheids und dem erklärten Willen des Antragsgegners nicht gegeben, denn dem Antragsteller wurde gerade keine hinreichend deutliche Gelegenheit zur freiwilligen Ausreise gegeben.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
14
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil die nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) anfallende Gebühr streitwertunabhängig ist. Da die Beschwerde nur teilweise zurückgewiesen worden ist, hat der Senat die Gebühr nach billigem Ermessen auf zwei Drittel ermäßigt.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).