Inhalt

VG München, Beschluss v. 10.10.2023 – M 8 SN 23.4183
Titel:

Eilantrag und Nachbarklage gegen Baugenehmigung wegen Abstandsflächenverstoß und flächenmäßige Berücksichtigung eines Privatwegs

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3, § 113 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 2. S. 1, S. 3
BauGB § 212a
Leitsatz:
Durch die Abstandsflächenverlagerung auf fremde Grundstücke gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO wird das Baugrundstück im Ergebnis abstandsflächenrechtlich erweitert. Der Zweck der Regelung, nicht überbaubare Grundstücke bebaubaren Grundstücken zuzuordnen, wenn dies mit dem Schutzzweck des Abstandsflächenrechts vereinbar ist, findet dort seine Grenze, wo das Wegegrundstück einem angrenzenden Grundstück des Eigentümers zugeordnet werden kann und dieser mithin die in seinem Eigentum stehende Wegefläche umfänglich für seine eigenen Abstandsflächen nutzen kann. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbareilantrag, Verstoß gegen Abstandsflächenvorschriften, Keine Anwendung des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO, wenn an Seite des Privatwegs, Grundstücke der Eigentümer des Wegegrundstücks angrenzen, Anfechtungsklage, Baugenehmigung, Nachbarklage, Eilantrag, Abstandsflächen, 16 m - Privileg, Privatweg, abstandsrechtliche Zuordnung, angrenzendes Eigentümergrundstück
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29447

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 20. April 2023 (M 8 K 23.2403) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die der Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Doppelhauses mit Carport auf dem Grundstück FlNr. … Gem. Th., … * (im Folgenden: Baugrundstück).
2
An das Baugrundstück schließt im Norden das Grundstück FlNr. … (im Folgenden: Wegegrundstück) an, das im jeweils hälftigen Miteigentum des Antragstellers und der Eigentümerin des Grundstücks FlNr. … steht und der Erschließung der Grundstücke FlNr. … und FlNr. … (* … * und …*) dient. Die Wegefläche ist 4,55 m (abgegriffen) breit. Der Antragsteller ist zudem Eigentümer des Grundstücks FlNr. … Gem. Th., … … das nördlich an das Wegegrundstück anschließt und mit einem zweigeschossigen Wohngebäude bebaut ist (im Folgenden: Antragstellergrundstück).
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Die Grundstücke liegen nicht im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans. Durch übergeleiteten Baulinienplan ist der Bauraum durch eine vordere Baulinie und eine rückwärtige Baugrenze festgesetzt. Auf dem Baugrundstück ist in einem Abstand von 5 m zur nördlichen Grundstücksgrenze und auf dem Antragstellergrundstück in einem Abstand von 5 m zur südlichen Grundstücksgrenze außerdem eine seitliche Baugrenze festgesetzt.
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Vgl. zu dem geplanten Bauvorhaben und zu seiner Umgebung folgenden Lageplan im Maßstab 1:1000, der eine Darstellung des streitgegenständlichen Bauvorhabens enthält (Lageplan aufgrund Einscannens möglicherweise nicht mehr maßstabsgetreu):
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Mit Bauantrag vom 15. Dezember 2022 nach PlanNr. 2022-23345 beantragte die Beigeladene bei der Antragsgegnerin die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau eines Doppelhauses mit Carport auf dem Baugrundstück. Der Baukörper soll dreigeschossig errichtet werden (E + 1 + zurückgesetztes Terrassengeschoss) und Maße von 14,6 m x 13,445 m sowie eine Wandhöhe von 6,96 m (vermaßt, Terrassenumwehrung 1. OG) bzw. 9,30 m (Wandhöhe des zurückgesetzten Terrassengeschosses) aufweisen. Das Gebäude soll in einem Abstand von 1,23 m (vermaßt im Grundriss Erdgeschoss) zur nördlichen Grundstücksgrenze errichtet werden. Das Terrassengeschoss rückt im Norden im Vergleich zum restlichen Baukörper um 1,16 m (westliche Gebäudeseite) bzw. 1,4 m (östliche Gebäudeseite) nach Süden zurück. Der geplante Baukörper soll nach Norden und Süden 0,5 H und nach Westen und Osten 1 H einhalten.
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Mit Bescheid vom 20. April 2023 erteilte die Antragsgegnerin die beantragte Baugenehmigung nach PlanNr. … unter Gewährung von Befreiungen für die Überschreitung der rückwärtigen und seitlichen Baugrenzen durch den Hauptbaukörper, den Carport, Terrassen, Balkone und Lichtschächte sowie der Baulinie durch Lichtschächte, zwei Eingangsüberdachungen und zwei Mülltonnenstandorte. Die beantragte Abweichung gem. Art. 63 BayBO i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO wegen Nichteinhaltung der notwendigen Abstandsflächen nach Norden zum Wegegrundstück FlNr. … sei aufgrund Art. 6 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 2 BayBO nicht erforderlich. Dieses Grundstück diene ausschließlich als privates Wegegrundstück zur Erschließung der Hinterliegergrundstücke. Die notwendigen Abstandsflächen des Vorhabens erstreckten sich bis zur Mitte dieses Wegegrundstücks. Insofern werde auf die Wertungen des Gesetzgebers in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO Bezug genommen. Die Wegefläche sei daher aufgrund ihrer Erschließungsfunktion aus rechtlichen Gründen nicht überbaubar. Die Wegefläche stehe im Miteigentum der Grundstückseigentümer der Hinterliegergrundstücke, so dass eine einseitige Änderung der Wegefläche oder eine Vereinigung mit der FlNr. … aus rechtlichen Gründen nicht möglich sei. Darüber hinaus käme wegen des Zuschnitts und der Bebauung der Hinterliegergrundstücke eine andere Erschließung nicht in Betracht. Nachdem auch auf dem nördlich des Wegegrundstücks liegenden Grundstück FlNr. … mittels Baulinien und Baugrenzen ein Bauraum festgesetzt sei, könne davon ausgegangen werden, dass auch bei Inanspruchnahme der Hälfte der Wegefläche ein ausreichender Gebäudeabstand gesichert sei, selbst bei spiegelbildlicher Überschreitung des Bauraums durch ein mögliches künftiges Bauvorhaben. Überschreitungen des Bauraums könnten höchstens in gleichem Umfang erteilt werden wie bei dem streitgegenständlichen Bauvorhaben. Insgesamt würden die Schutzziele der Abstandsflächenvorschriften nicht beeinträchtigt.
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In der Nachbarwürdigung wurde zunächst auf die Ausführungen zu der erteilten Befreiung (Ziff. 2) und zur Abweichung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO verwiesen und ergänzend vorgetragen, dass der Antragsteller als Teileigentümer des Wegegrundstücks nicht die Verfügungsgewalt habe, um dieses mit seinem Grundstück rechtlich so zu vereinigen, dass die nicht überbaubare Fläche in vollem Umfang den Eigentümergrundstücken zugeordnet werden könne. Daher sei kein Recht erkennbar, die Breite der Erschließungsfläche vollständig zum Nachweis eigener Abstandsflächen in Anspruch zu nehmen.
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Die Baugenehmigung wurde dem Antragsteller am 25. April 2023 zugestellt.
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Am 15. Mai 2022 erhob der Antragsteller, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Antrag, die Baugenehmigung vom 20. April 2023 aufzuheben. Über die Klage wurde bislang nicht entschieden (M 8 K 23.2403).
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Mit Schriftsatz vom 23. August 2023 beantragt der Antragsteller zudem:
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Die aufschiebende Wirkung der beim Verwaltungsgericht München mit Datum vom 15.05.2023 erhobene Anfechtungsklage (Az.: M 8 K 23.2403) gegen den Baugenehmigungsbescheid der Antragsgegnerin vom 20.04.2023, Az.: …, wird angeordnet.
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Zur Begründung führte der Bevollmächtigte des Antragstellers im Wesentlichen aus, das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiege das Vollzugsinteresse der Beigeladenen, da die Baugenehmigung den Antragsteller in seinen Rechten verletze. Die Erstreckung der Abstandsfläche der nördlichen Gebäudeaußenwand des auf dem Baugrundstück geplanten Gebäudes bis zur Mitte des Wegegrundstücks FlNr. … verletze drittschützendes Abstandsflächenrecht. Die Ausnahme des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO sei nicht anwendbar, da es sich um eine private Wegefläche handele. Auch Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO erlaube im vorliegenden Fall keine Erstreckung der nördlichen Abstandsfläche auf das private Wegegrundstück. Zwar könnten sich die Abstandsflächen grundsätzlich bis zur Hälfte auf nicht überbaubare Flächen privater Wegegrundstücke erstrecken. Vorliegend stelle sich die rechtliche Situation jedoch anders dar, da das nördlich an das Wegegrundstück angrenzende Grundstück FlNr. … ebenfalls im Eigentum des Antragstellers stehe. In einem solchen Fall werde die nicht überbaubare Wegefläche in vollem Umfang den Eigentümern des Privatgrundstücks und ihren Baugrundstücken zugeordnet. Dies gebiete die Eigentumsgarantie. Das gelte auch dann, wenn die Wegefläche im Miteigentum mehrerer Eigentümer stehe.
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Die Antragsgegnerin äußerte sich in der Sache nicht.
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Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
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Die Bevollmächtigten der Beigeladenen führten im Wesentlichen aus, die streitgegenständliche Baugenehmigung verletze keine drittschützenden Vorschriften, insbesondere nicht die Abstandsflächenvorschriften. Die Abstandsfläche des Vorhabens könne sich bis zur Mitte auf die nördlich angrenzende Wegefläche erstrecken, da durch die Umstände des Einzelfalls auf Dauer ausgeschlossen sei, dass die den fehlenden Abstandsflächen des Vorhabens entsprechenden Flächen auf dem Nachbargrundstück überbaut würden oder eine Überlappung von erforderlichen Abstandsflächen eintrete. Die volle Inanspruchnahme der Wegefläche mit den Abstandsflächen eines etwaig zukünftigen Vorhabens des Antragstellers sei aufgrund des auf diesem Grundstück mit Baulinien-/Baugrenzen festgesetzten Bauraums, auch bei einer entsprechenden Befreiung wie bei streitgegenständlichem Bauvorhaben, nicht möglich und nicht notwendig. Bei einem Bauvorhaben, dem in gleichem Umfang wie bei dem streitgegenständlichen Bauvorhaben eine Befreiung von der Bauraumfestsetzung erteilt würde und eine in die Umgebung einfügenden Höhenentwicklung aufweise, ergäbe sich allenfalls eine Inanspruchnahme der Wegefläche jeweils zu gleichen Teilen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führe in einer Entscheidung aus, dass ein Wegegrundstück nur vorrangig, nicht ausschließlich, den Nachbargrundstücken zugeordnet werde, die seinem Eigentümer oder Miteigentümer gehörten. Wenn die Erstreckung der Abstandsflächen von einem Nachbargrundstück auf die Wegefläche, wie im vorliegenden Fall, keine die Eigentümerbefugnisse beschränkende Inhalts- und Schrankenbestimmung darstelle, weil eine Bebauung die Wegefläche für die Abstandsflächen gar nicht weiter als bis zur Wegemitte in Anspruch nehmen könne oder müsse, bedürfe es auch eines solchen Vorrangs nicht. Im Umkehrschluss zu den Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs dürfe die Einschränkung der Bebaubarkeit von Nachbargrundstücken ebenfalls nicht weitergehen, als der Zweck der Regelung es erfordere.
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Wegen der Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Vorbringen der Beteiligten wird im Übrigen auf die vorgelegten Behördenakten, sowie die Gerichtsakten in diesem und im Hauptsacheverfahren (M 8 K 23.2403) Bezug genommen.
II.
17
Der Antrag ist zulässig und begründet. Nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage in der Hauptsache verletzt die Baugenehmigung den Antragsteller in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), sodass das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Beigeladenen überwiegt.
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1. Nach § 212a BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die einem anderen erteilte Baugenehmigung keine aufschiebende Wirkung. Auf Antrag kann das Gericht daher gem. §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Bei der Entscheidung über den Antrag des Nachbarn auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Gericht eine Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der sofortigen Vollziehung und dem öffentlichen Vollzugsinteresse zu treffen. Wesentliches Element der Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten der in der Hauptsache erhobenen Anfechtungsklage (Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 80a Rn. 25 f.).
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Die Anfechtungsklage eines Nachbarn gegen die einem Dritten erteilte Baugenehmigung hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind und die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; BayVGH, B.v. 21.7.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
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Vorliegend überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteressen der Beigeladenen, da die Anfechtungsklage des Antragstellers nach summarischer Prüfung voraussichtlich Erfolg hat. Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 20. April 2023 verletzt drittschützendes Abstandsflächenrecht nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 BayBO, das im vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens gem. Art. 59 Satz 1 Nr. 1 lit. b BayBO zu prüfen ist, da die durch die nördliche Außenwand des streitgegenständlichen Bauvorhabens entstehende Abstandsfläche nicht auf dem Grundstück der Beigeladenen liegt und sich die Abstandsfläche nicht – wie angenommen – hälftig auf die angrenzende Wegefläche erstrecken darf.
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1.1 Die Abstandsflächenvorschriften sind drittschützend. Die Regelungen des Art. 6 BayBO sind in ihrer Gesamtheit auch dem Schutz der angrenzenden Nachbarn zu dienen bestimmt, da diese die ausreichende Belichtung, Besonnung, Belüftung und den Brandschutz der vorhandenen und zukünftigen Nachbargebäude gewährleisten sollen (vgl. BayVGH, B.v. 21.10.1991 – 2 CS 91.2446 – BeckRS 1991, 9074; B.v. 30.11.2005 – 1 CS 05.2535 – BeckRS 2005, 17740).
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Gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen baulichen Anlagen freizuhalten, die nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO grundsätzlich auf dem Grundstück selbst liegen müssen. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich nach der Wandhöhe, die senkrecht zur Wand zu messen ist (vgl. Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO) und die sich aus dem Maß von der Geländeoberfläche bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut oder bis zum oberen Abschluss der Wand ergibt (vgl. Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO). In Gemeinden mit – wie hier – mehr als 250.000 Einwohnern außerhalb von Gewerbe-, Kern- und Industriegebieten sowie festgesetzten urbanen Gebieten beträgt die Abstandsflächentiefe abweichend von Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO 1 H, mindestens jedoch 3 m. Vor zwei Außenwänden, die jeweils nicht länger als 16 m sind, genügt nach Art. 6 Abs. 5a Satz 2 BayBO 0,5 H, mindestens 3 m, sog. 16 m – Privileg.
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Die Beigeladene nimmt nach Norden das 16 m – Privileg nach Art. 6 Abs. 5a Satz 2 BayBO (0,5 H) in Anspruch. Bei einer Wandhöhe von 6,96 m [nördliche Außenwand, die durch das Erdgeschoss und das 1. Obergeschosses gebildet wird] entsteht daher eine einzuhaltende Abstandsfläche von 3,48 m. Der Abstand zur nördlichen Grundstücksgrenze beträgt 1,23 m, sodass sich die restliche Abstandsfläche auf die Hälfte des 4,55 m breiten Wegs erstreckt [Abstand der Außenwand bis zur Hälfte des Wegegrundstücks: 1,23 m + 2,275 m = 3,505 m].
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1.2 Entgegen der Ansicht der Beigeladenen und der Antragsgegnerin kann die Beigeladene vorliegend jedoch nicht die Hälfte der privaten Wegefläche nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 oder Satz 3 BayBO für ihre Abstandsfläche in Anspruch nehmen.
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Von dem Grundsatz, dass die Abstandsflächen grundsätzlich auf dem Grundstück selbst liegen müssen, können nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 BayBO Ausnahmen gemacht werden. Die Abstandsflächen dürfen nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO auch auf öffentlichen Verkehrs-, Grün- und Wasserflächen liegen, jedoch nur bis zu deren Mitte, oder sich nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO ganz oder teilweise auf andere Grundstücke erstrecken, wenn rechtlich oder tatsächlich gesichert ist, dass diese nicht überbaut werden, oder wenn der Nachbar gegenüber der Bauaufsichtsbehörde schriftlich zustimmt.
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1.2.1 Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO ist vorliegend schon nicht anwendbar, da es sich bei der Zuwegung zu den Hinterliegergrundstücken nicht um eine öffentliche Verkehrsfläche handelt, sondern um einen Privatweg.
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1.2.2 Auch Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO erlaubt der Beigeladenen nicht, das Wegegrundstück für ihre Abstandsflächen zu beanspruchen, da diese in vollem Umfang dem angrenzenden Grundstück des Antragstellers (FlNr. …*) zugeordnet ist. Nicht entscheidend ist daher, ob die Zuwegung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht überbaubar ist.
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Da Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO nicht regelt, welchen Grundstücken in welchem Umfang das nicht überbaubare Grundstück abstandsflächenrechtlich zugeordnet ist, wird das Wegegrundstück in entsprechender Anwendung von Art. 6 Abs. 2 S. 2 BayBO im Regelfall den benachbarten bebaubaren Grundstücken zu gleichen Teilen zugeordnet (Hahn, in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: Februar 2023, Art. 6 Rn. 91; BayVGH, B.v. 29.9.2004 – 1 CS 04.340 – juris Rn. 25). Dies gilt jedoch dann nicht, wenn an die im Privateigentum stehende Wegefläche auf einer Seite Grundstücke des Eigentümers der nicht überbauten Fläche grenzen und auf der gegenüberliegenden Seite Grundstücke von Dritten. Der Antragsteller ist Miteigentümer der Wegefläche FlNr. … Auch das nördlich an die Wegefläche angrenzende Grundstück FlNr. … steht in seinem Eigentum. In solchen Fällen ist die nicht überbaubare Fläche in vollem Umfang dem Eigentümergrundstück zugeordnet, sodass sich nur die Abstandsflächen der Gebäude auf den Eigentümergrundstücken auf die Wegefläche erstrecken dürfen, nicht auch die von Gebäuden auf angrenzenden Drittgrundstücken (vgl. BayVGH, B.v. 29.9.2004 – 1 CS 04.340 – juris Rn. 23 zu Art. 7 Abs. 5 Satz 1 BayBO 1998; U.v. 4.8.2011 – 2 B 09.2330 – juris Rn. 46; zu Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO: BayVGH, B.v. 2.5.2022 – 2 ZB 22.1730 – juris Rn. 6; B.v. 7.2.2020 – 15 CS 19.2013 – Rn. 43; VG München, U.v. 2.5.2022 – M 8 K 20.3395 – juris Rn. 39).
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Durch die Abstandsflächenverlagerung auf fremde Grundstücke gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO wird das Baugrundstück im Ergebnis unter abstandsflächenrechtlichen Gesichtspunkten erweitert. Der Zweck der Regelung, nicht überbaubare Grundstücke nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO bebaubaren Grundstücken zuzuordnen, wenn dies mit dem Schutzzweck des Abstandsflächenrechts vereinbar ist, findet dort seine Grenze, wo das Wegegrundstück einem angrenzenden Grundstück des Eigentümers zugeordnet werden kann und dieser mithin die in seinem Eigentum stehende Wegefläche umfänglich für seine eigenen Abstandsflächen nutzen kann (vgl. BayVGH, B.v. 29.9.2004 – 1 CS 04.340 – juris Rn. 25 f.). Anders als bei gewidmeten Straßen kann nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Eigentümer der privaten Wegefläche diese allen angrenzenden Grundstücken abstandsflächenrechtlich hälftig zuordnen wollten (vgl. BayVGH, B.v. 7.2.2020 – 15 CS 19.2013 – Rn. 41; Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: Februar 2023, Art. 6 Rn. 91). In solchen Konstellationen bedarf es mithin einer Abstandsflächenübernahme der Eigentümer der Wegefläche, die hier unstreitig nicht vorliegt.
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1.2.3 Die Überlegung der Antragsgegnerin und der Beigeladenen, dass die Festsetzung des Bauraums dazu führe, dass der Antragsteller die Wegefläche für eigene Abstandsflächen eines zukünftigen Bauvorhabens nicht benötige, kann schon in tatsächlicher Hinsicht nicht überzeugen. Legt man, wie die Antragsgegnerin in der streitgegenständlichen Baugenehmigung ausführt, zugrunde, dass dem Antragsteller bei einem zukünftigen Bauvorhaben eine Befreiung wie bei dem streitgegenständlichen Bauvorhaben erteilt werden würde (3,75 m bis 4 m tiefe Überschreitung der seitlichen Baugrenze durch den Hauptbaukörper), verbliebe ein Abstand zu der Mitte der Wegefläche von ca. 3,5 m. Eine Abstandsflächentiefe von 3,5 m reicht jedoch, auch bei Anwendung des 16 m – Privilegs, nicht ohne Weiteres um die Abstandsflächenvorschriften einzuhalten. Dies gilt erst recht, da die Grundstücke in einem Bereich liegen, in dem es keine bauleitplanerischen Festsetzungen zu dem Maß der baulichen Nutzung gibt. Insbesondere die für die entstehende Abstandsfläche relevante Wandhöhe des Baukörpers ist daher von der weiteren städtebaulichen Entwicklung der Baukörper in der Umgebung abhängig. Schon jetzt hält die Antragsgegnerin einen dreigeschossigen Baukörper, der mit dem Bauvorhaben oder dem Anwesen … … vergleichbar ist, für bauplanungsrechtlich zulässig. Dass der Antragsteller die Wegefläche nicht in vollem Umfang für ein zukünftiges Bauvorhaben benötigen wird, ist daher keinesfalls sicher, sodass dahinstehen kann, ob eine solche Konstellationen an dem Ergebnis etwas ändern würde.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, 3 VwGO. Die Beigeladene hat keinen Sachantrag gestellt und ihre außergerichtlichen Kosten daher selbst zu tragen, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.