Inhalt

VG München, Beschluss v. 11.04.2023 – M 3 S 23.50360
Titel:

Dublin III, Kroation: Erfolgloser Eilantrag

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
ASylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a, § 77 Abs. 3
Dublin III-VO
Leitsätze:
1. Es ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass die Antragsteller aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Kroatien tatsächlich Gefahr laufen, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es gibt keine belastbaren Erkenntnisse die darauf hindeuten, dass Personen wie die Antragsteller, die nach der Dublin III-VO aus Deutschland wieder nach Kroatien überstellt werden, von illegalen Push-Backs oder Kettenabschiebungen betroffen sein könnten. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Abschiebungsanordnung nach Kroatien, Keine systemischen Mängel, Familie mit Kindern, Schwangerschaft, Kind mit Trisomie 21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29434

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Kroatien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
2
Ausweislich des vorgelegten Mutterpasses ist die Antragstellerin zu 2) schwanger; als Geburtstermin wurde der … August 2023 errechnet.
3
Die Antragsteller erhoben am 5. April 2023 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom … März 2023 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 3 K 23.50359) und beantragen zugleich,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
4
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass das kroatische Asylsystem systemische Schwachstellen aufweise. Es bestehe die Gefahr von „Push-Backs“. Dublin-Rückkehrern drohe eine menschenrechtswidrige Behandlung wie das VG Braunschweig (B.v. 25.2.2022 – 2 B 27/22) festgestellt habe. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die kroatischen Aufnahmeeinrichtungen überbelegt seien. Die Antragstellerin zu 2) sei schwanger. Der Antragsteller zu 6) leide an Trisomie 21.
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Die Antragsgegnerin legte die Behördenakten vor.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Feststellungen des streitgegenständlichen Bescheides, denen gefolgt wird, verwiesen (§ 77 Abs. 3 AsylG) sowie auf die Gerichtsakten beider Verfahren und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist zwar zulässig, jedoch unbegründet. Deshalb hat er keinen Erfolg.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung ist einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
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Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids begegnet bei summarischer Prüfung keinen durchgreifenden Bedenken.
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Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann.
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Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird vollumfänglich auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Bescheids verwiesen (§ 77 Abs. 3 AsylG), denen gefolgt wird. Ergänzend wird auf Folgendes hingewiesen:
12
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) finden (EuGH, U.v. 10.12.2013 – C-394/12 – Abdullahi/Bundesasylamt, juris Rn. 52; EuGH, U.v. 21.12.2011 − C-411/10, C-493/10 – N.S./Secretary of State for the Home Department u. a. juris Rn. 78). Nach diesem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens bzw. dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938.93 und 2 BvR 2315.93 – juris LS 5b), gilt die nur in Ausnahmefällen widerlegbare Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat im Einklang mit den genannten Rechten steht. Wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist die Vermutung jedoch nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt (EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 81 ff). Vielmehr ist von systemischen Mängeln, die als Verstoß gegen Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass die Schwachstellen im Asylsystem eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängen (BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 6; im Anschluss hieran B.v. 6.6.2014 – 10 B 35/14 – juris; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91).
13
Ausgehend von diesen Maßstäben ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass die Antragsteller aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Kroatien tatsächlich Gefahr laufen, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
14
In der neueren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass das kroatische Asylsystem aktuell nicht an systemischen Mängeln leidet. Auch wenn in bestimmten Bereichen noch Schwächen vorhanden sind und die Lebensbedingungen in Kroatien für Asylbewerber schwieriger sind als in Deutschland, führen diese Umstände nicht zur Mangelhaftigkeit des Gesamtsystems (vgl. etwa NdsOVG, B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris Rn. 8; VG München, B. 12.1.2023 – M 3 S 22.50688 – n.v. Rn. 24 ff.; VG Ansbach, B.v. 21.12.2022 – AN 14 S 22.50376 – juris Rn. 28 ff.; VG Leipzig, B.v. 6.12.2022 – 6 L 678/22.A – juris S. 6 ff.; VG Hannover, B.v. 21.11.2022 – 4 B 4791/22 – juris S. 5 ff.; VG Karlsruhe, B.v. 31.10.2022 – A 1 K 3034/22 – juris S. 11 m.w.N.; VG Stuttgart, U.v. 30.9.2022 – A 13 K 4446/22 – juris S. 5 ff.; VG Aachen, B.v. 28.9.2022 – 6 L 498/22.A – juris S. 5; VG Frankfurt (Oder), B.v. 15.8.2022 – VG 10 L 194/22.A – juris S. 3 ff; VG Göttingen, B.v. 8.7.2022 – 4 B 110/22 – juris S. 4 m.w.N.; VG Trier, B.v. 10.5.2022 – 7 L 1184/22.TR – juris S. 3 f.; U.v. 26.2.2020 – 7 K 2325/19.TR – juris Rn. 39 ff.VG Augsburg, GB v. 15.3.2022 – Au 3 K 22.50042 – juris Rn. 14 ff.; a.A. VG Hannover, B.v. 7.9.2022 – 15 B 3250/22 – juris Rn. 14 ff.; VG Stuttgart, B.v. 2.9.2022 – A 16 K 3603/22 – juris Rn. 21ff.; VG Freiburg, B.v. 2.9.2022 – A 16 K 3603/22 – juris Rn. 21; VG Braunschweig, U.v. 24.5.2022 – 2 A 26/22 – juris Rn. 34 ff., 46).
15
Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung des aktuellen Erkenntnismaterials in der ganz überwiegenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung an. Es sind keine Anhaltspunkte erkennbar, dass der Familie, die mit der Mutter, die Ende August 2023 ein Kind erwartet, dem Sohn mit Trisomie 21 und den Kleinkindern eine vulnerable Personengruppe darstellt, bei Überstellung nach Kroatien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
16
Auch dem besonderen Schutz vulnerabler Personen wird grundsätzlich Rechnung getragen (VG München, B.v. 25.1.2023 – M 3 S 22.50599 – n.v. Rn. 14; VG Augsburg, U.v. 11.3.2020 – Au 6 K 20.50007 – juris Rn. 22 ff). So verfügt das Aufnahmezentrum in Kutina, das für vulnerable Personen vorgesehen ist, zu denen auch Kinder gezählt werden, über 100 Plätze. Familien werden gemeinsam untergebracht (AIDA, a.a.O., S. 98).
17
Entgegen dem Vorbringen des Bevollmächtigten der Antragsteller sind Kapazitätsengpässe nicht bekannt. Im Gegenteil geht selbst der von ihm in Bezug genommene Beschluss (VG Braunschweig, B.v. 25.2.2022 – 2 B 27/22 – juris Rn. 45) von einer nur geringen Auslastung der Aufnahmekapazität aus. Anhaltspunkte für eine Überbelegung sind nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich.
18
Nicht entscheidungserheblich und daher vorliegend nicht näher zu beleuchten ist, ob in Kroatien an den Grenzen gegen europäisches Recht verstoßende Push-Backs erfolgen oder erfolgt sind. Die Antragsteller haben nicht vorgetragen, diese Erfahrungen gemacht zu haben. Vorliegend haben zudem die kroatischen Behörden ausdrücklich ihre Zuständigkeit für die Aufnahme der Antragsteller nach Art. 20 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, (Dublin III-VO) erklärt. Auch gibt es keine belastbaren Erkenntnisse die darauf hindeuten, dass Personen wie die Antragsteller, die nach der Dublin III-VO aus Deutschland wieder nach Kroatien überstellt werden, von illegalen Push-Backs oder Kettenabschiebungen betroffen sein könnten (vgl. NdsOVG, B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris Rn. 8; VG Leipzig, B.v. 6.12.2022 – 6 L 678/22.A – juris S. 8; VG Stuttgart, U.v. 30.9.2022 – A 13 K 4446/22 – juris S. 5; VG Frankfurt (Oder), B.v. 15.8.2022 – VG 10 L 194/22.A – juris S. 4 unter Bezugnahme auf VG Braunschweig, U.v. 24.5.2022 – 2 A 26/22 – juris Rn. 34 ff.).
19
Insofern trifft der vom Bevollmächtigten in Bezug genommene Beschluss (VG Braunschweig, B.v. 25.2.2022 – 2 B 27/22 – juris Rn. 43 – 46) eine falsche Schlussfolgerung. Nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens besteht die widerlegliche Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Um diese zu widerlegen bedarf es konkreter Erkenntnisse. Solche liegen nicht vor (s.o.) und werden weder in dem Beschluss noch vom Bevollmächtigten bzw. den Antragstellern angeführt.
20
Der vom Bevollmächtigten angeführte sog. CPT-Report (Council of Europe, Report to the Croatian Government on the visit to Croatia carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment from 10 to 14 August 2020) befasst sich ebenfalls mit der Praxis der kroatischen Behörden, insbesondere der Polizei, bei Push-Backs. Wie bereits festgestellt, gibt es keine Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass diese Praxis die Antragsteller als Dublin-Rückkehrer betreffen würde.
21
Die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2.) begründet im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung (noch) nicht ein in § 60a Abs. 2 AufenthG niedergelegtes vorübergehendes Abschiebungshindernis (BayVGH B.v. 28.10.2013 – 10 CE 13.2257 – juris Rn. 4; BayVGH B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris Rn. 4). Im Falle einer Schwangerschaft ist eine auf ein Abschiebungshindernis zurückzuführende Reiseunfähigkeit nicht nur dann anzunehmen, wenn eine Risikoschwangerschaft durch ärztliche Atteste nachgewiesen ist – was hier nicht der Fall ist – sondern vielmehr auch dann, wenn die Niederkunft unmittelbar bevorsteht oder gerade stattgefunden hat. Dies ergibt sich unter Berücksichtigung des Gesichtspunktes der Einheit der Rechtsordnung bereits aus den gesetzlichen Schutzvorschriften der §§ 3 Abs. 2, § 6 Abs. 1 des Gesetzes zum Schutz von Müttern bei der Arbeit, in der Ausbildung und im Studium (MuSchG) vom 23. Mai 2017, zuletzt geändert am12. Dezember 2019, (VG München, B.v. 19.07.2016 – M 12 S 16.50456 – juris Rn. 33). In Anlehnung daran beginnt der Abschiebungsschutz sechs Wochen vor der Entbindung (§ 3 Abs. 2 MuSchG) und endet acht bzw. bei Früh- und Mehrlingsgeburten zwölf Wochen nach der Entbindung (§ 6 Abs. 1 MuSchG). Ausweislich des vorgelegten Mutterpasses befindet sich die Antragstellerin zu 2.) derzeit (noch) nicht im gesetzlichen Mutterschutz da der errechnete Geburtstermin (28. Mai 2023) erst in acht Wochen bevorsteht.
22
Zudem hat die Antragsgegnerin die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2.) berücksichtigt und im Bescheid bereits klargestellt, dass sie während des Zeitraums der gesetzlichen Mutterschutzfristen von einer Reiseunfähigkeit ausgehen wird. Eine Abschiebung haben die Antragsteller in diesem Zeitraum daher nicht zu befürchten.