Titel:
Erwerb des unionsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts durch geringfügige Tätigkeit über die Vollendung des 65. Lebensjahrs hinaus
Normenketten:
FreizügG/EU § 2 Abs. 2, § 4a Abs. 2, § 5 Abs. 4 S. 1
Freizügigkeits-RL Art. 17 Abs. 1
Leitsätze:
1. § 4a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 FreizügG/EU dient der Umsetzung von Art. 17 Abs. 1 S. 1 RL 2004/38/EG. Die Vorschrift ist eng und dahingehend auszulegen, dass der mindestens dreijährige ununterbrochene Aufenthalt, das Ausüben der Erwerbstätigkeit mindestens während der letzten zwölf Monate und das Erreichen des für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlichen Alters zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben kumulativ vorliegen müssen (EuGH BeckRS 2020, 207). (Rn. 22) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Für die Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist das Vorliegen einer lediglich geringfügigen Beschäftigung unschädlich. Die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft setzt weder ein Mindesteinkommen noch eines Mindestarbeitszeit voraus, solange es sich nicht lediglich um eine untergeordnete oder unwesentliche Tätigkeit handelt (EuGH BeckRS 1982, 4377). (Rn. 26) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Eine lediglich unwesentliche Erwerbstätigkeit ist in der Regel bei einer Wochenarbeitszeit von sechs Stunden erreicht; auch bei einem Unterschreiten können indes Gesichtspunkte darauf hindeuten, dass es sich bei der Erwerbstätigkeit um eine tatsächliche und echte Beschäftigung handelt. (Rn. 26) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Dass ein Unionsbürger, der einer lediglich geringfügigen Tätigkeit nachgeht, Ansprüche auf ergänzende Sozialleistungen besitzt, ist für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft iSv § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU grundsätzlich irrelevant. (Rn. 27) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 FreizügG/EU erweist es sich als unschädlich, dass der Unionsbürger die Voraussetzung eines dreijährigen Aufenthalts im Bundesgebiet und einer Erwerbstätigkeit mindestens in den letzten 12 Monaten im Bundesgebiet nicht vor, sondern erst nach dem Erreichen des 65. Lebensjahres bzw. des gesetzlichen Rentenalters erreicht hat. Schlösse man über die Altersgrenze hinaus tätige Arbeitnehmer von der Möglichkeit des privilegierten Erwerbs eines Daueraufenthalts aus, stellte dies eine nicht gerechtfertigte Altersdiskriminierung dar. (Rn. 30 – 31) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Freizügigkeitsrecht, Administrative Verlustfeststellung, Arbeitnehmereigenschaft bei geringfügiger Beschäftigung, Daueraufenthaltsrecht bei Erreichen des Rentenalters, Maßgeblicher Zeitpunkt, kroatische Staatsangehörige, administrative Verlustfeststellung, Sozialleistungsbezug, geringfügige Beschäftigung, Arbeitnehmereigenschaft, Renteneintrittsalter, unionsrechtliches Daueraufenthaltsrecht
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29433
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren M 27 K … wird hinsichtlich Nr. 1 des Bescheides wiederhergestellt und hinsichtlich Nr. 2 angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
IV. Der Antragstellerin wird im Verfahren M 27 K … Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten bewilligt.
Gründe
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Die Antragstellerin, kroatische Staatsangehörige, wendet sich im einstweiligen Rechtsschutz gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik aufgrund eines Nichtvorliegens der Freizügigkeitsvoraussetzungen (sog. administrative Verlustfeststellung).
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Die 69-jährige, in … geborene Antragstellerin ist seit ... mit einem bosnisch-herzegowinischen Staatsangehörigen verheiratet. Zu diesem reiste sie im Alter von etwa 64,5 Jahren am ... ins Bundesgebiet ein und zog am ... in das Gebiet der Antragsgegnerin.
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Die Antragstellerin verfügte ab ... über einen zunächst bis ... befristeten Arbeitsvertrag für geringfügig entlohnte Beschäftigung bei der ... als Reinigungskraft mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 9,5 Stunden.
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Die Antragstellerin erhält seit dem 1. Januar 2023 eine bosnische Rente in Höhe von monatlich 173,99 EUR und bezieht zusätzlich gemeinsam mit ihrem Mann, der eine Rente von monatlich 125,86 EUR ausgezahlt bekommt, laufend Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 12. Sozialgesetzbuch in Höhe von 1.501,86 EUR zur Grundsicherung im Alter.
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Mit Schreiben der Antragsgegnerin vom ... wurde die Antragstellerin zu einer beabsichtigten Verlustfeststellung aufgrund einer dauerhaft erforderlichen Zahlungen von Leistungen zur Grundsicherung angehört. Nach Aktenlage erfolgte dazu keine Äußerung.
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Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Juni 2023, zugestellt am 7. Juni 2023, wurde der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland festgestellt (Nr. 1). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats ab Bekanntgabe zu verlassen und ihr wurde die Abschiebung nach Kroatien oder in einen anderen Staat angedroht, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet ist (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung der Verlustfeststellung wurde angeordnet (Nr. 3). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es für eine Erwerbstätigkeit der Antragstellerin keine Nachweise gebe. Seit dem Frühjahr 2022 sei auch der Ehemann nicht mehr erwerbstätig. Zunächst seien Leistungen nach dem SGB III, später nach dem SGB XII bezogen worden. Ausreichende Existenzmittel lägen somit nicht vor; zur Sicherung des Lebensunterhalts müssten Sozialleistungen bezogen werden. Bei einer Abwägung und unter Berücksichtigung dessen, dass der Aufenthalt erst im Alter von 64 Jahren begründet, der Eintritt des gesetzlichen Rentenalters bereits ein Jahr nach Einreise erreicht worden sei, der Ehemann nur kurzfristig und bedingt gearbeitet habe und nun nicht mehr arbeiten könne und ein monatlicher Bedarf von rund 1.500 EUR bestehe, der mit unqualifizierter oder geringfügiger Beschäftigung nicht gedeckt werden könne, sei die Inanspruchnahme der Sozialleistungen unangemessen und nicht nur vorübergehend. Die Verlustfeststellung erfolge damit im öffentlichen Interesse und sei vor dem Hintergrund des erst kurzen Aufenthalts im Bundegebiet sowie der Unabsehbarkeit der Dauer des Sozialleistungsbezugs verhältnismäßig. Eine Erwerbstätigkeit sei auch nach Verfahrenseinleitung nicht aufgenommen worden. Ein Daueraufenthaltsrecht sei nicht entstanden, da eine Aufenthaltsdauer von fünf Jahren nicht vorliege. Die Ausreisefrist sei zur Vorbereitung der Ausreise angemessen. Die Sofortvollzugsanordnung werde erlassen, da die Antragstellerin nahezu seit ihrer Einreise nicht unerhebliche Sozialleistungskosten verursache und wohlwissend eine Kostentragung durch die Allgemeinheit in Kauf nehme. Ohne Sofortvollzug könnte die dringend notwendige Maßnahme verzögert werden und die Antragstellerin im Bundesgebiet verbleiben. Dadurch entstehe eine Täuschung im Rechtsverkehr, da das Freizügigkeitsrecht mit Entscheidungsbekanntgabe nicht mehr bestehe. Das Abwarten eines Rechtsmittelverfahrens trete somit zurück; das Verfahren könne auch vom Ausland aus betrieben und abgewartet werden.
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Dagegen hat die Antragstellerin am 5. Juli 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und beantragen lassen, den Bescheid aufzuheben (M 27 K 23.3327). Zugleich wird beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.
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Weiter wird im Verfahren M 27 K 23.3327 unter Vorlage einer Erklärung über die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse vom ... beantragt,
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der Antragstellerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten zu gewähren.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass der Ehemann der Antragstellerin ab dem Jahr 1991 bis zur freiwilligen Ausreise im Jahr 2000, im Zeitraum von 2006 bis 2016 und anschließend ab 2016 bis März 2022 im Bundesgebiet erwerbstätig gewesen sei. Die Antragstellerin sei seit ihrer Ankunft bis zum Sommer 2022 berufstätig gewesen. Es wurden für den Zeitraum Mai 2019 bis Dezember 2021 Lohnabrechnungen vorgelegt. Der Antrag sei begründet, da sowohl die Verlustfeststellung als auch der Sofortvollzug mit fiskalischen Interessen werde, aber derzeit unklar sei, ob die Antragstellerin auf den Sozialleistungsbezug angewiesen sei oder sie erhaltene Sozialleistungen zurückzahlen müsse. Somit verfehle die Argumentation der Antragsgegnerin. Das private Interesse der Antragstellerin überwiege das öffentliche. Der Arbeitsvertrag der Antragstellerin sei mündlich verlängert und unbefristet fortgeführt worden; zum Nachweis wurden Kontoauszüge über Gehaltszahlungen („Aushilfslohn … …“) im Zeitraum zwischen September 2019 bis Juli 2022 vorgelegt. Die ausgewiesene Höhe der Zahlungseingänge schwankt zwischen 450 EUR und zuletzt 103 EUR. Ausfälle und Reduzierungen seien durch die Corona-Pandemie aufgrund der Schließung von zu reinigenden Einrichtungen bedingt. Für die Begründung eines Daueraufenthaltsrechts müsste die dreijährige Aufenthaltsdauer sowie zwölfmonatige Erwerbstätigkeit nicht bereits zum Zeitpunkt des 65. Lebensjahres erreicht sein.
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Die Antragsgegnerin beantragt
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass eine tatsächliche Beschäftigung der Antragstellerin ab Mai 2019 nicht nachgewiesen sei. Aufgrund eines Versicherungsverlaufs werde nur eine Tätigkeit vom 1. Januar 2022 bis zum 20. Juli 2022 als nachgewiesen angesehen. Dem Ehemann fehlten für einen Grundrentenzuschlag 175 Monate. Die ausländischen Rentenansprüche seien im Rentenbescheid bereits berücksichtigt. Die antragstellerseitige Argumentation könne im Hinblick auf das Verhalten gegenüber dem Sozialamt nicht nachvollzogen werden. Eine angekündigte Erwerbstätigkeit der Antragstellerin sei nicht belegt und rechtsmissbräuchlich. Ein Sozialleistungsbezug sei auch bei zusätzlichen Rentenansprüche aus dem Ausland aufgrund des geringen Einkommensniveaus zu erwarten, insbesondere bei erneuter geringfügiger Beschäftigung. Da das Renteneintrittsalter nur ein Richtwert sei, stehe den Eheleuten auch weiterhin der Arbeitsmarkt offen, sodass ein Sozialleistungsbezug nicht gezwungenermaßen erfolge. Das öffentliche Interesse an der Minimierung des öffentlichen Zahlungsaufwands überwiege dem Recht auf Einreise und Aufenthalt deutlich. Ein Daueraufenthaltsrecht vor Ablauf von fünf Jahren sei nicht entstanden, da sich die Antragstellerin keine drei Jahre lang vor Erreichen des Renteneintrittsalters im Bundesgebiet aufgehalten habe. Sie sei zum Zeitpunkt ihrer Einreise bereits 64,5 Jahre alt gewesen. Das gesetzliche Rentenalter habe sie im Alter von 65 Jahren und 8 Monaten erreicht.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
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1. Der Eilantrag hat Erfolg.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, nach entsprechender Auslegung insbesondere auch statthaft. Denn die Klage gegen die Verlustfeststellung in Nr. 1 des Bescheides hat aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 3 des Bescheids nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung, sodass dahingehend nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt wird; die Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 2 des Bescheides entfaltet nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO in Verbindung mit Art. 21a VwZVG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung (vgl. Gerstner-Heck in: BeckOK MigR, Stand 15.4.2023, § 5 FreizügG/EU Rn. 17), sodass insoweit nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung angeordnet wird.
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Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist bei einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Suspensivinteresse vorzunehmen. Dabei nimmt das Gericht eine eigene, originäre Interessensabwägung vor, für die in erster Linie die Erfolgsaussichten in der Hauptsache maßgeblich sind. Im Falle einer voraussichtlich aussichtslosen Klage besteht dabei kein überwiegendes Interesse an einer Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Wird dagegen der Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein, so wird regelmäßig nur die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Bei offenen Erfolgsaussichten ist eine Interessensabwägung vorzunehmen, etwa nach den durch § 80 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO getroffenen Grundsatzregeln, nach der Gewichtung und Beeinträchtigungsintensität der betroffenen Rechtsgüter sowie der Reversibilität im Falle von Fehlentscheidungen.
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Danach ist der Antrag begründet. Denn der Bescheid wird sich bei summarischer Prüfung voraussichtlich als rechtswidrig und rechtsverletzend erweisen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern vom 30. Juli 2004 (BGBl. I, S. 1950, 1986), zuletzt geändert durch G.v. 20. April 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 106) – FreizügG/EU – kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt und bei Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, die Aufenthaltskarte eingezogen werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht vorliegen.
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Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Denn die Antragstellerin ist gem. § 2 Abs. 2 Nr. 7, § 4a FreizügG/EU unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU daueraufenthaltsberechtigt, nach § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a FreizügG/EU bereits vor Ablauf von fünf Jahren. Danach haben Unionsbürgerinnen und Unionsbürger bereits vor Ablauf von fünf Jahren das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich mindestens drei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten und mindestens während der letzten zwölf Monate im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausgeübt und zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das 65. Lebensjahr erreicht haben.
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Dies dient der Umsetzung von Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a der RL 2004/38/EG vom 29. April 2004 (ABl. L 229 S. 35) – Freizügigkeitsrichtlinie –, nach der vor Ablauf des ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat unter anderem Arbeitnehmer und Selbstständige zusteht, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben, sofern sie dies Erwerbstätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat mindestens während der letzten zwölf Monate ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben. Die Vorschrift ist eng und damit dahingehend auszulegen, dass der mindestens dreijährige ununterbrochene Aufenthalt, das Ausüben der Erwerbstätigkeit mindestens während der letzten zwölf Monate und das Erreichen des für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlichen Alters zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben kumulativ vorliegen müssen (vgl. EuGH, U.v. 22.1.2020 – C-32/19 – juris Rn. 44).
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Daran gemessen hat die Antragstellerin mit Ablauf des 30. April 2022 ein Daueraufenthaltsrecht erworben.
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Sie hat sich im Zeitraum vom 1. Mai 2019 bis 30. April 2022 für drei Jahre ständig und rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten und mindestens während der letzten 12 Monate dieses Zeitraums auch im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausgeübt.
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Die Antragstellerin war aufgrund ihres, für diesen Zeitraum wegen der dargelegten Lohneingänge sowie vorgelegten Lohnabrechnungen als nachgewiesen anzusehenden Arbeitsverhältnisses mit der Reinigungsfirma während des Dreijahreszeitraums ununterbrochen unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Die Zahlungseingänge am 22. April 2021 sowie vom 18. März 2022 sind aufgrund ihres Eingangsdatums und der jeweiligen Doppelnennung offensichtlich mit einem fehlerhaften Bezugszeitraum versehen, sodass Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit nicht anzunehmen sind.
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Dass es sich bei ihrer Beschäftigung lediglich um eine geringfügige Beschäftigung handelt, ist unschädlich. Erforderlich für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist weder ein Mindesteinkommen noch eine Mindestarbeitszeit, sodass auch Teilzeitbeschäftigungen ausreichend sind; es darf sich lediglich nicht nur um eine völlig untergeordnete oder unwesentliche Tätigkeit handeln (vgl. EuGH, U.v. 23.3.1982 – 53/81 – juris Rn. 16 f.). Die Grenze der Unwesentlichkeit ist dabei in der Regel bei einer Wochenarbeitszeit von sechs Stunden erreicht; jedoch können auch bei einem Unterschreiten Gesichtspunkte darauf hindeuten, dass es sich bei der Erwerbstätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt (vgl. Gerstner-Heck in: BeckOK MigR, Stand 15.7.2023, FreizügG/EU § 2 Rn. 7).
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Die Antragstellerin verfügte über einen Arbeitsvertrag mit einer Beschäftigung á 9,5 Wochenstunden. Auch in Anbetracht der im Laufe der Zeit tendenziell abnehmenden Zahlungseingänge und der damit einhergehenden Reduzierung der Arbeitszeit ergibt sich im konkreten Fall jedenfalls aus der Wertung des § 2 Abs. 5, § 4 FreizügG/EU keine Unwesentlichkeit der Tätigkeit. Dass die Antragstellerin dabei gegebenenfalls Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen gehabt hätte, ist grundsätzlich irrelevant (vgl. EuGH, U.v. 23.3.1982 – 53/81 – juris Rn. 16). In den Jahren 2019 bis 2022 wurden keine Sozialleistungen bezogen, sodass von einem ausreichenden Krankenversicherungsschutz sowie ausreichenden Existenzmitteln auszugehen ist.
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Sie war auch sowohl in den letzten zwölf Monaten vor Begründung des Daueraufenthaltsrechts als auch vor ihrem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im Bundesgebiet erwerbstätig.
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Die zu diesem Zeitpunkt über 67 Jahre alte Antragstellerin hatte zum Zeitpunkt ihres Ausscheidens aus dem Erwerbsleben im Juli 2022 sowohl das 65. Lebensjahr als auch das gesetzliche Rentenalter nach § 235 Abs. 2 Satz 2 SGB XII (Geburtsjahr 1954: 65 Jahre und 8 Monate) erreicht. Somit kann es dahinstehen, ob und wie der Widerspruch zwischen der unionsrechtlichen Regelung in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a Freizügigkeitsrichtlinie („für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehenes Alter“) und die nationale Umsetzung in § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a („das 65. Lebensjahr erreicht“) in Einklang zu bringen ist (vgl. dazu, auch unter Auseinandersetzung mit VG Düsseldorf, B.v. 18.5.2018 – L 3918/17 – juris Rn. 15, 23 und für eine Auslegung als „das 65. Lebensjahr vollendet“ Hailbronner in: Hailbronner, AuslR, Stand Juni 2023, § 4a FreizügG/EU Rn. 57).
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Unschädlich ist auch, dass die Antragstellerin die Voraussetzung eines dreijährigen ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet und eine Erwerbstätigkeit mindestens in den letzten zwölf Monaten im Bundesgebiet nicht vor dem Erreichen des 65. Lebensjahres bzw. des gesetzlichen Rentenalters erfüllt hat.
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Eine starre Altersgrenze, die zu einer Qualifizierung als „nicht erwerbstätig“ bzw. zu einem Verlust der Arbeitnehmereigenschaft führt, ist weder in Art. 45 Abs. 1 AEUV noch in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a Freizügigkeitsrichtlinie noch in § 2 Abs. 2 Nr. 1, in § 2 Abs. 2 Nr. 5 in Verbindung mit § 4 (vgl. dazu Hailbronner in: Hailbronner, AuslR, Stand 06/2023, § 2 FreizügG/EU, Rn. 36) oder in § 4a FreizügG/EU vorgesehen. Denn der weit auszulegende freizügigkeitsrechtliche Arbeitnehmerbegriff erfasst alle Personen, die ohne Rücksicht auf das individuelle Motiv während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringen und hierfür eine Gegenleistung erhalte (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 2 FreizügG/EU Rn. 30 f. m.w.N.). Nach Wortlaut und Syntax bezieht sich die Altersregelung sowohl in der unionsrechtlichen Regelung in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a Freizügigkeitsrichtlinie als auch in der nationalen Umsetzung in § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a FreizügG/EU lediglich auf den Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben, nicht auf Erfüllung des Aufenthalts- oder Erwerbszeitraums. Ein sachlicher Grund für eine Schlechterstellung von Arbeitnehmern, die freiwillig über die Altersgrenze hinaus erwerbstätig bleiben und erst in der Folge die Voraussetzungen des Daueraufenthaltsrechts erfüllen, ist nicht ersichtlich. Insbesondere hängt das freiwillige Weiterarbeiten regelmäßig von der individuellen körperlichen und geistigen Verfassung ab. Schlösse man über die Altersgrenze hinaus tätige Arbeitnehmer von der Möglichkeit des privilegierten Erwerbs eines Daueraufenthalts aus, stellte dies einerseits eine nicht gerechtfertigte Altersdiskriminierung dar (so auch Hailbronner, a.a.O., § 4a FreizügG/EU, Rn. 56), andererseits nähme man weiterhin erwerbsfähigen Unionsbürgern ohne triftigen Grund der Anreiz zur (unionsweiten) Arbeit. Nichts anderes ergibt sich auch aus dem Zweck des Daueraufenthaltsrechts und der gegenständlichen Privilegierung. Nach dem Erwägungsgrund 17 der Freizügigkeitsrichtlinie dient der Erhalt des Daueraufenthaltsrechts der Stärkung des Gefühls der Unionsbürgerschaft und soll zum sozialen Zusammenhalt als grundlegendem Ziel der Union beitragen. Erwägungsgrund 19 verweist hinsichtlich des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts nach kürzerer Zeit auf die Verordnung 1251/70/EWG vom 29. Juni 1970, nach dessen Erwägungsgründen es unter anderem in erster Linie darauf ankommt, dass dem Arbeitnehmer, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates seinen Wohnsitz hat, das Recht zugesichert wird, nach der Beendigung seiner dortigen Beschäftigung wegen Erreichen des Rentenalters in diesem Hoheitsgebiet zu verbleiben und der Arbeitnehmer, der das Ende seines Erwerbslebens erreicht hat, genügend Zeit hat, sich entscheiden zu können, wo er seinen endgültigen Wohnsitz nehmen will. Es ist nicht ersichtlich, weshalb das Ziel der Stärkung des Gefühls der Unionsbürgerschaft und sozialen Zusammenhalt bei rentenberechtigten, aber weiterhin tatsächlich erwerbstätigen Unionsbürgern nicht mehr oder abgeschwächt verfolgt werden sollte. Auch dann kann die für die Privilegierung unionsrechtlich geforderte Integrationsleistung durch Aufenthalt und Erwerbstätigkeit vor Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (vgl. EuGH, U.v. 22.1.2020 – C-32/19 – juris Rn. 41-44) noch erbracht werden. Entscheidet sich ein erwerbsfähiger Unionsbürger trotz Rentenanspruchs, sein Erwerbsleben (in einem anderen Mitgliedstaat) fortzusetzen und erst zu einem späteren Zeitpunkt zu beenden, so kann er deshalb nicht schlechter gestellt sein als ein die Erwerbstätigkeit mit Erreichen des Renteneintrittsalters beendender Unionsbürger, wenn er – gewissermaßen nachträglich – die übrigen Voraussetzungen für das privilegierte Daueraufenthaltsrecht erfüllt.
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Damit wird sich auch die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung als rechtswidrig und rechtsverletzend erweisen.
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2. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 1.5 und entsprechend Nr. 8.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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4. Dem entsprechend ist dem Antrag auf Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung stattzugeben, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichend Aussicht auf Erfolg hat und die beabsichtigte Rechtsverfolgung damit nicht mutwillig erscheint (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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Die Beiordnung erscheint im Hinblick auf die anzunehmenden vergleichsweise geringen deutschen Rechtskenntnisse der im Ausland geborenen und aufgewachsenen Antragstellerin sowie die Bedeutung der Verlustfeststellung erforderlich (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 Alt. 1 ZPO).