Titel:
Anspruch auf Nachweis eines Kita-Betreuungsplatzes nach Kündigung durch bisherige Kita
Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 24 Abs. 2
SGB I § 16
Leitsatz:
Wird der Betreuungsplatz für ein Kind in der zunächst besuchten Kindertageseinrichtung von dieser gekündigt, besteht der Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes – unabhängig von den Kündigungsgründen – wieder neu. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege, Kündigung von vorherigem Betreuungsplatz, Glaubhaftmachung, Kenntniszurechnung, Kapazitätserschöpfung, Betreuungsplatz, Kindertageseinrichtung, Kita, Kündigung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29430
Tenor
I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses vorläufig einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege mit einem Betreuungsumfang von mindestens acht Stunden montags bis freitags nachzuweisen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
1
Der am ... 2021 geborene Antragsteller begehrt den Nachweis eines Betreuungsplatzes.
2
Der Antragsteller besuchte zunächst eine Einrichtung in der Wohnortgemeinde. Diese Einrichtung kündigte am 18. Februar 2023 den Betreuungsplatz zum 1. April 2023.
3
Laut der Antragsschrift wandten sich die Eltern des Antragstellers daraufhin am 22.Februar 2023 an das Jugendamt des Antragsgegners und baten um Hilfe bei der Vermittlung eines neuen Platzes. Es seien viele persönliche oder telefonische Gespräche erfolgt.
4
Am 4. Mai 2023 meldeten die Eltern des Antragstellers ihren Bedarf bei einer Nachbargemeinde ihres Wohnortes an. Von dieser wurde der Antragsseite mit Schreiben vom 4. Mai 2023 mitgeteilt, dass kein Platz zur Verfügung stehe und eine umgehende Meldung bei der Wohnortgemeinde erforderlich sei.
5
Der Bevollmächtigte des Antragstellers erhob für diesen am 25. September 2023 Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte die Verpflichtung des Antragsgegners, dem Kläger einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz nachzuweisen (M 18 K 23.4671).
6
Zudem wurde mit Schriftsatz vom selben Tag beantragt,
7
den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege im Umfang von täglich mindestens 8 Stunden montags bis freitags nachzuweisen.
8
Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass die Antragstellung am 10. März 2023 erfolgt sei. Eine Anmeldung bei der Gemeinde sei ausreichend und dem Antragsgegner zuzurechnen.
9
Der Antragsgegner beantragte mit Schriftsatz vom 28. September 2023,
10
den Antrag abzulehnen.
11
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Rechtmäßigkeit der Angaben der Antragstellerseite angenommen werde, weitere Akten lägen nicht vor. Der gesetzliche Anspruch bestehe zwar faktisch, der Landkreis habe jedoch keine Kapazitäten, um diesem gerecht zu werden. Dies zum einen aufgrund Betreuungsplatzmangels, zum anderen aber auch deswegen, weil selbst bei Schaffung entsprechender Plätze keinerlei Fachpersonal vorhanden sei.
12
Durch Beschluss der Kammer vom 13. Oktober 2023 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
13
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte auch im Verfahren M 18 K 23.4671 verwiesen.
14
Der Antrag hat Erfolg.
15
Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
16
Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
17
Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der vom Antragsteller begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber in zeitlicher Hinsicht vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4).
18
Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller – auch mangels jedweden Sachvortrags des Antragsgegners – sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
19
Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Nachweis eines bedarfsgerechten Platzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege gegen den Antragsgegner im Umfang von werktäglich 8 Stunden ausreichend glaubhaft gemacht.
20
Gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Voraussetzung der Zuweisung eines Betreuungsplatzes ist gemäß § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG, dass die Erziehungsberechtigten die Gemeinde und bei einer gewünschten Betreuung durch eine Tagespflegeperson den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe mindestens drei Monate vor der geplanten Inanspruchnahme in Kenntnis setzen.
21
Diese Anspruchsvoraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
22
Der Antragsteller hatte bereits am ... 2022 das 1. Lebensjahr vollendet und damit einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz entsprechend des individuellen Bedarfs.
23
Nachdem der Betreuungsplatz in der zunächst besuchten Einrichtung von dieser zum 1. April 2023 gekündigt wurde, bestand der Anspruch gegen den Antragsgegner – unabhängig von den Kündigungsgründen – wieder neu (vgl. NdsOVG., B.v. 15.12. 2021 – 10 ME 170/21 – juris Rn. 6). Anhaltspunkte für ein rechtsmißbräuchliches Verhalten der Antragstellerseite liegen nicht vor (vgl. NdsOVG, B.v. 19. 7. 2022 – 14 ME 277/22 – juris Rn. 3).
24
Zwar wurde der Bedarf – entgegen der Ansicht des Bevollmächtigten des Antragstellers -nicht durch den Antrag an die Nachbargemeinde im März 2023 ausreichend geltend gemacht. Denn unabhängig von der Frage, ob insoweit überhaupt eine allgemeine Bedarfsmeldung und nicht nur die Anmeldung bei einzelnen kommunalen Einrichtungen erfolgte (vgl. hierzu: BayVGH, U.v. 20.7.2016 – 12 BV 15.719 – juris Rn. 25; VG München, B.v. 30.6.2023 – M 18 E 23.1161 – juris Rn. 6 m.w.N.), hat diese unzuständige Gemeinde die Antragsteller mit Schreiben vom 4. Mai 2023 auf ihre Unzuständigkeit hin- und an die zuständige Gemeinde verwiesen. Für eine weitergehende Kenntniszurechnung nach § 16 SGB I besteht daher vorliegend kein Raum.
25
Allerdings dürfte der neuerliche Bedarf ab 1. Mai 2023 laut unbestrittenem Vortrag der Antragstellerseite gegenüber dem Antragsgegner bereits ab Februar 2023 hinreichend geltend gemacht worden sein. Auf Grund der vollständigen Einräumung des Sachvortrags durch den Antragsgegner und fehlen jedweder Aktenführung durch diesen geht das Gericht vorliegend auch ohne jede weiteren Detailangaben und ggf. Glaubhaftmachung hierzu durch die Antragsseite von einem hinreichend glaubhaft gemachten Sachverhalt und einer inhaltlich ausreichenden Bedarfsmeldung aus.
26
Die offenbar ausschließlich mündlich erfolgte Bedarfsmeldung gegenüber dem Antragsgegner im Februar 2023 erfüllt auch im Hinblick auf den vorliegend geltend gemachten Anspruch auf einen Nachweis eines Betreuungsplatzes ab Antragstellung bei Gericht auch die Drei-Monatsfrist gemäß § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG.
27
Zudem besteht der – vorliegend geltend gemachte – Anspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII auch im Umfang der geltend gemachten acht Stunden werktäglich. Inwieweit hingegen unter Berücksichtigung des Kindeswohls auch ein zeitlich darüber hinausgehender Betreuungsanspruch besteht (vgl. VG München, B.v. 25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 33 ff., 40 m.w.N.), wie der Bevollmächtigte des Antragstellers ausführt, kann mangels Entscheidungserheblichkeit ebenfalls offenbleiben.
28
Dem Anspruch des Antragstellers aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der Antragsgegner dem Antragsteller nach seinen Angaben mangels entsprechender Kapazitäten keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellen kann. Denn der Anspruch steht nach regelmäßiger und einheitlicher Rechtsprechung nicht unter einem Kapazitätsvorbehalt und wird daher durch die vom Antragsgegner behauptete Kapazitätserschöpfung nicht berührt (BVerwG, U.v. 26.10.2017 – 5 C 19/16 – juris Rn. 35; BVerfG, U.v. 21.11.2017 – 2 BvR 2177/16 – juris Rn. 134; vgl. zuletzt: VG Münster, B.v. 7.6.2023 – 6 L 409/23 – juris Rn. 23 mit umfangreichen weiteren Nachweisen).
29
Es liegt auch kein Fall der objektiven Unmöglichkeit vor, der die Verpflichtung aus § 24 Abs. 2 SGB VIII entfallen ließe (vgl. VG München, B.v. 24.8.2022 – M 18 E 22.3914 – juris Rn. 30 m.w.N.).
30
Der Antragsteller hat zudem auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
31
Unabhängig von der Frage, ob bereits in der irreversiblen Nichterfüllung eines unaufschiebbaren Anspruchs ein Anordnungsgrund zu sehen ist oder darüber hinaus im Rahmen der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ein Nachweis der fehlenden Betreuungsmöglichkeit zu erfolgen hat (vgl. zum Streitstand: VG München, B.v.25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 34 m.w.N.), haben die Eltern des Antragstellers noch – wenn auch ohne jede Vorlage von belegenden Dokumenten – hinreichend glaubhaft gemacht, auf einen Betreuungsplatz im Umfang von werktäglich acht Stunden angewiesen zu sein. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist nicht zuzumuten. Zur Vermeidung weiterer Nachteile für den Antragsteller und seiner Eltern ist eine Vorwegnahme der Hauptsache daher angezeigt.
32
Dem Antragsgegner ist zur Erfüllung des Anspruchs eine Frist bis zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses einzuräumen (vgl. VG München, B.v. 25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 44 m.w.N.).
33
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
34
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.