Titel:
Dublin-Verfahren (Polen)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 12 Abs. 4
AufenthG § 60a Abs. 2c S. 1
Leitsatz:
Zwar bestehen in bestimmten Bereichen des polnischen Asylverfahrens Schwachstellen bzw. Missstände in den Aufnahmebedingungen; diese wind jedoch nicht von solchem Ausmaß und Gewicht, dass das Vorliegen systemischer Mängel in der rechtlichen Ausgestaltung des Asyl- und Flüchtlingsschutzverfahrens und bei der Behandlung von Asylbewerbern angenommen werden könnte. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Polen), Abschiebungsanordnung, Keine systemischen Mängel, Geltend gemachte Verletzung an der Wirbelsäule infolge eines Verkehrsunfalls mit anschließender stationärer Aufnahme des Antragstellers, Keine Nachreichung eines qualifizierten ärztlichen Attests nach Aufforderung gemäß § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO, Dublin-Verfahren, Polen, systemische Mängel, inländisches Abschiebungshindernis
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29427
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
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Der Antragsteller, nach eigenen Angaben ein Staatsangehöriger Jordaniens, begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Polen im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
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Der Antragsteller reiste am 14. Mai 2023 in das Bundesgebiet ein und äußerte am 15. Mai 2023 ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung vom gleichen Tag Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag datiert vom 6. Juni 2023.
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Ausweislich der Treffermeldung in der VIS-Datenbank vom 6. Juni 2023 lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der Verordnung 604/2013 (Dublin III-VO) vor. Am 13. Juni 2023 richtete die Antragsgegnerin ein Übernahmeersuchen an Polen. Die polnischen Behörden reagierten hierauf mit Antwortschreiben vom 20. Juni 2023 und erklärten ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gem. Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO.
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Mit Bescheid vom 22. Juni 2023, in der Aufnahmeeinrichtung eingegangen am 26. Juni 2023 und dem Antragsteller übergeben am gleichen Tag, lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Nrn. 1 und 2). Die Abschiebung nach Polen wurde angeordnet (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 29. Juni 2023 Klage erhoben gegen den Bescheid vom 22. Juni 2023. Des Weiteren wird beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antragsteller sich seit dem 28. Juni 2023 aufgrund eines Verkehrsunfalls im Krankenhaus befinde. Erste Diagnosen würden davon ausgehen, dass er einen Wirbelsäulenbruch erlitten habe. Mit Schriftsatz vom 21. August 2023 übermittelte der Bevollmächtigte mehrere Arztberichte des … Klinikums, auf die Bezug genommen wird.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 13. Juli 2023,
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Zur Begründung wird auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen.
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Nachdem das vorliegende Eilverfahren und die Klage aufgrund der gestellten Anträge zunächst einer anderen Kammer des Verwaltungsgerichts zugeordnet waren, erfolgte die Abgabe der Verfahren an die 10. Kammer mit Verfügung vom 23. August 2023. Mit Berichterstatterschreiben vom 6. September 2023, zugestellt am 11. September 2023, wurde der Antragsteller gemäß § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylG i.V.m. § 87b Abs. 3 AsylG aufgefordert, darzulegen, ob er sich noch in ärztlicher oder stationärer Behandlung befinde und ein qualifiziertes ärztliches Attest hinsichtlich der Frage der Transportfähigkeit für eine Überstellung vorzulegen. Die Frist zur Beantwortung der Verfügung wurde nach zwischenzeitlicher Rückmeldung des Kanzleivertreters des Bevollmächtigten bis zum 9. Oktober 2023 verlängert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 23.50894, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
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Der zulässige Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO bleibt ohne Erfolg.
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1. Entfaltet ein Rechtsbehelf wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück.
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2. Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Lasten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung sind die Erfolgsaussichten seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid als gering anzusehen. Die Klage ist im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt dieses Beschlusses (§ 77 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG) bereits als unzulässig anzusehen, da sämtliche Klageanträge in der Klageschrift vom 29. Juni 2023 (die alle eine Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage darstellen) unstatthaft sind. Hierauf hat das Gericht den Bevollmächtigten im Berichterstatterschreiben vom 6. September 2023 ausdrücklich aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass gegen eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich die (isolierte) Anfechtungsklage statthaft ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.10.2015 – 1 C 32.14 – juris Rn. 13).
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Unabhängig davon wären die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren jedenfalls auch deshalb als gering anzusehen, da der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin nach summarischer Prüfung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Abschiebungsanordnung erweist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig, da der Asylantrag zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig abgelehnt worden ist.
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a) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 Dublin III-VO ist Polen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig und die Abschiebung nach Polen kann auch durchgeführt werden (vgl. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG).
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aa) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass Polen der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist. Die Antragsgegnerin ist hier zutreffend von der Zuständigkeit Polens nach Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1, Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ausgegangen, da für den Antragsteller zum Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags (vgl. Art. 7 Abs. 2, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO) ein von Polen ausgestelltes Visum vorlag, dessen Gültigkeit weniger als sechs Monate lang zurücklag. Die polnischen Behörden haben ihre Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO auch ausdrücklich anerkannt.
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bb) Die Zuständigkeit Polens ist auch nicht gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO wegen systemischer Mängel im Asylverfahren bzw. der dortigen Aufnahmebedingungen entfallen. Derartige Schwachstellen werden von der ganz überwiegenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht angenommen (vgl. u.a. VG München, B.v. 9.5.2023 – M 19 S 23.50142 – n.v. Rn. 23 ff.; VG Berlin, B.v. 6.4.2023 – 33 L 54/23 A – juris; VG Stade, B.v. 16.12.2022 – 2 B 1739/22 – juris; VG Bayreuth, B.v. 15.12.2022 – B 9 S 22.50233 – juris; VG Berlin, B.v. 14.12.2022 – 22 L 296/22 A – juris; VG Karlsruhe, B.v. 24.10.2022 – A 19 K 2557/22 – juris; VG Köln, B.v. 7.10.2022 – 18 L 1388/22.A – juris; VG Würzburg, U.v. 31.8.2022 – W 1 K 22.30205 – juris; VG Hamburg, B.v. 22.08.2022 – 9 AE 3047/22 – juris; VG Regenburg, B.v. 30.6.2022 – RO 16 S 22.50173 – juris; VG Dresden, B.v. 27.6.2022 – 3 L 397/22.A – juris Rn. 20 ff.; a.A. VG Minden, U.v. 28.8.2023 – 12 K 2197/22.A – juris [allerdings in Bezug auf die Aufnahmebedingungen bei Familien mit minderjährigen Kindern]; VG Hannover, B.v. 7.10.2022 – 12 B 3546/22 – juris Rn. 12 ff.).
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Erkenntnisse, die die vorgenannte Einschätzung erschüttern würden, wurden nicht vorgetragen und sind dem Gericht auch sonst nicht bekannt. Die Versorgungssituation ergibt sich im Wesentlichen aus dem Bericht der Helsinki Foundation for Human Rights und des European Council on Refugees and Exiles (ECRE), demzufolge das vergemeinschaftete Asyl- und Flüchtlingsrecht der Europäischen Union in Polen in den wesentlichen Grundzügen umgesetzt wird (AIDA, Asylum Information Database – National Country Report: Poland, Stand: April 2021, abrufbar unter: http://www.ecoi.net). Die Asylverfahren werden geordnet innerhalb nicht übermäßig langer Zeit durchgeführt. Die Asylbewerber erhalten während ihres Verfahrens Unterkunft, Verpflegung und medizinische Hilfe. Dies gilt insbesondere für sog. „Dublin-Rückkehrer“, wenn diese nach ihrer Rückführung durch einen anderen Mitgliedstaat in Polen Asyl beantragen bzw. dort ihr Asylverfahren wiederaufgenommen wird. Die beschriebenen Schwachstellen sind nicht von solchem Ausmaß und Gewicht, dass das Vorliegen systemischer Mängel in der rechtlichen Ausgestaltung des Asyl- und Flüchtlingsschutzverfahrens und bei der Behandlung von Asylbewerbern angenommen werden könnte. Zwar hat sich die Situation für Flüchtlinge nach Beginn des Ukraine-Kriegs infolge des Zustroms einer Vielzahl ukrainischer Flüchtlinge nach Polen verschärft; dennoch geht das Gericht davon aus, dass die Aufnahmebedingungen in Polen – über einzelne Regelverstöße hinaus – nicht regelhaft so defizitär sind, dass Flüchtlingen dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (ebenso VG Schleswig-Holstein, GB v. 14.6.2022 – 5 A 271/22 – juris S. 5 f.).
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b) Individuelle in der Person des Antragstellers wurzelnde Umstände, welche die Antragsgegnerin zwingend zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO hätten veranlassen müssen (vgl. näher dazu BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 ff.), sind vom Antragsteller nicht dargelegt worden bzw. liegen nach Aktenlage auch nicht vor.
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3. Gründe, dass die Abschiebung nicht i.S.v. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden könnte, sind derzeit ebenso nicht ersichtlich, da weder zielstaatsbezogene noch inländische Abschiebungshindernisse vorliegen (vgl. diesbezüglich zur Prüfungskonzentration beim Bundesamt: BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244). Insbesondere folgt aus den vom Antragsteller geltend gemachten körperlichen Verletzungen bzw. den vorgelegten Arztberichten des … Klinikums, die sich auf den Zeitraum Ende Juni/Anfang Juli 2023 beziehen, kein inländisches Abschiebungshindernis wegen Reiseunfähigkeit gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Unabhängig davon, dass sich aus den damals vorgelegten Arztberichten keine Rückschlüsse auf eine fehlende Transportfähigkeit des Antragstellers ziehen lassen, ist er der Verfügung des Gerichts gemäß § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO nicht nachgekommen. Insbesondere hat er kein aktuelles qualifiziertes ärztliches Attest im Rechtssinn (§ 60a Abs. 2c Satz 2, Satz 3 AufenthG) vorgelegt. Insofern verbleibt es bei der nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG bestehenden gesetzlichen Vermutung, dass gesundheitliche Gründe einer Abschiebung des Antragstellers nach Polen nicht entgegenstehen.
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In zielstaatsbezogener Hinsicht (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) wäre der Antragsteller im Übrigen an das polnische Gesundheitssystem zu verweisen. Nicht zuletzt haben die polnischen Behörden in ihrem Antwortschreiben an die Antragsgegnerin vom 20. Juni 2023 ausdrücklich darum gebeten, dass ihnen etwaige besondere medizinische Bedürfnisse des Antragstellers zeitnah vor einer Überstellung mitgeteilt werden.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).