Titel:
Dublin-Verfahren (Österreich)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 4
Dublin III-VO Art. 17 Abs. 1
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8
GRCh Art. 7
Leitsatz:
Verfügt der anerkannt Schutzberechtigte über eine Niederlassungserlaubnis, hat die Lebensgefährtin und Mutter des gemeinsamen Kindes aufgrund des bestehenden Familienverbands einen Anspruch gegen die Beklagte auf Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat Österreich), Abschiebungsandrohung nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG, Familiäre Lebensgemeinschaft mit im Inland geborenem Sohn eines syrischen Staatsangehörigen, Gefestigte Bleibeperspektive des Kindsvaters in Deutschland (Niederlassungserlaubnis, laufendes Einbürgerungsverfahren), Gemeinsam gelebte Elternverantwortung gegenüber dem Kind, Selbsteintrittspflicht (hier bejaht), Sehr kleines Kind (2 Jahre alt), Wahrung der Familieneinheit innerhalb der Kernfamilie, Dublin-Verfahren, Österreich, Abschiebungsandrohung, Selbsteintrittsrecht
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29421
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. Mai 2021 (Gesch.-Z.: 8373295-998) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich gegen die angedrohte Überstellung nach Österreich im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
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Die Klägerin, die ungeklärter Staatsangehörigkeit und dem Volk der Palästinenser zugehörig ist, reiste am 21. Februar 2021 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung am 1. März 2021 schriftlich Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag datiert vom 22. März 2021.
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Aufgrund der EURODAC-Ergebnismitteilung vom 1. März 2021, die eine Treffermeldung der Kategorie 1 hinsichtlich Österreich enthält („AT1[…]“ vom 31.1.2021) ergaben sich für die Beklagte Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO). Am 29. März 2021 richtete die Beklagte ein Wiederaufnahmegesuch an Österreich, das von den dortigen Behörden am 8. April 2021 unter Verweis auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO positiv beantwortet wurde.
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Im Anhörungsgespräch vom 5. Mai 2021 hat die Klägerin angegeben, dass sie zu ihrem in Deutschland lebenden „Ehemann“ – der aktuell im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist – habe ziehen wollen. Sie sei im 7,5 Monat schwanger. Sie hätten am 18. Februar 2020 über einen syrischen Rechtsanwalt mit Vollmacht geheiratet.
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Am … … 2021 wurde der Sohn der Klägerin in Fürstenfeldbruck geboren.
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Mit Bescheid vom 7. Mai 2021 lehnte die Beklagte den Asylantrag als unzulässig ab und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Österreich (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen und sich nach Österreich zu begeben; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Österreich angedroht (Nr. 3). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
7
Die Klägerin hat am 20. Mai 2021 über ihre Bevollmächtigte per Telefax Klage gegen den Bescheid vom 7. Mai 2021 erhoben und (zuletzt) beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2021 aufzuheben.
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Eine nähere Begründung der Klage erfolgte trotz Ankündigung zunächst nicht. Mit Schriftsatz vom 2. März 2023 legte die Klägerin verschiedene Unterlagen (u.a. Eheschließungsurkunde im Original und Heiratsvertrag in beglaubigter Kopie, Geburtsurkunde in Kopie, erweiterte Meldebescheinigung der Familie) vor und führte aus, dass sie mit ihrem (im Bundesgebiet geborenen) Sohn und dem Kindsvater in einer Wohnung in familiärer Lebensgemeinschaft lebe. Die Eltern würden sich die alltägliche Betreuung des Kindes aufteilen. Es bestehe eine enge Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind, wie zwischen den Eltern untereinander. Hinsichtlich des Kindes sei unter dem Aktenzeichen M 5 K 21.50689 beim Verwaltungsgericht München noch eine Asylklage anhängig. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG sei für das Kind beantragt worden. Über diesen Antrag sei jedoch im Hinblick auf den bislang ungeklärten Familienstand der Eltern bislang nicht entschieden worden. So betrachte etwa das Standesamt sowie die Meldebehörde die Eltern als verheiratet, während das Landratsamt München als Ausländerbehörde die Ehe nicht als wirksam ansehe.
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Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 11. Juni 2021,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
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Mit Schreiben vom 24. Mai 2023 bat das Gericht nach Vorlage eines DNA-Gutachtens zur Vaterschaft des Kindsvaters (Angabe der Vaterschaftswahrscheinlichkeit mit größer als 99,99%) um Prüfung der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO. Hierauf erfolgte seitens der Beklagten keine Reaktion.
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Bereits mit Beschluss vom 4. Oktober 2022 wurde der Rechtsstreit gem. § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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In der mündlichen Verhandlung vom 20. September 2023 hat das Gericht die Klägerin zur familiären Situation informatorisch angehört und ihren Lebensgefährten als Zeugen ergänzend befragt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 20. September 2023 trotz Ausbleibens der Beklagten entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte hat mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017, ergänzt durch Schreiben vom 23. Dezember 2020 und 20. Januar 2021, auf förmliche Zustellung der Ladung verzichtet.
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1. Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. Der streitbefangene Bescheid des Bundesamts vom 7. Mai 2021 ist im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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a) Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Nummer 1 des Bescheids der Beklagten vom 7. Mai 2021 ist rechtswidrig und daher aufzuheben. Die Klägerin hat aus familiären Gründen einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO (zur Aufhebung einer auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gestützten Unzulässigkeitsentscheidung bei einem Anspruch auf Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO: VG Freiburg, U.v. 14.12.2020 – A 4 K 8024/17 – juris Rn. 48 m.w.N.).
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aa) Zwar ist im Ausgangspunkt Österreich gem. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zuständig und nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO zu ihrer Rückübernahme verpflichtet. Eine vorrangige Zuständigkeit Deutschlands aus Art. 9 i.V.m. Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO kam vorliegend zwar im Hinblick auf die von der Klägerin geltend gemachte Ehe mit ihrem Lebensgefährten (dem zwischenzeitlich der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde und aktuell im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist) in Betracht. Die primär im Bescheid vorgebrachten Zweifel an der Wirksamkeit der Ehe wegen Verstoßes gegen den ordre public (Art. 6 EGBGB) sind jedenfalls seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29. September 2021 – die das Bundesamt bei Erlass des Bescheides noch nicht berücksichtigen konnte – rechtlich nicht mehr haltbar (vgl. BGH, B.v. 29.9.2021 – XII ZB 309/21 – juris = NZFam 2021, 1049 ff.; a.A. allerdings noch kurz vorher: VG Ansbach, B.v. 10.3.2021 – AN 17 E 21.50060 – juris Rn. 28). Allerdings hat sich das Gericht nicht in der Lage gesehen, anhand des von der Klägerin vorgelegten Urkundenmaterials, welches für das Gericht sowohl hinsichtlich der Echtheit als auch der inhaltlichen Richtigkeit (mangels entsprechender Sprachkenntnisse) nicht verständlich war, sich ungeachtet der weiter vorgelegten Privatübersetzungen mit dem erforderlichen Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO) von einer rechtswirksamen Eheschließung nach dem einschlägigen nationalen Recht zu überzeugen (vgl. auch § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 438 Abs. 1 ZPO). Da dem Gericht für eine eigene Dokumentenprüfung die Sachkompetenz fehlt, wäre insoweit noch eine Beweisaufnahme erforderlich gewesen. Auch wenn mit der Einordnung des Standesamts und der Meldebehörde sicherlich einiges für eine wirksame Ehe zwischen der Klägerin und dem Kindsvater spricht, kann das Gericht dies nicht ungeprüft übernehmen, weil die Frage der wirksamen Schließung der Ehe nach syrischem Recht (vgl. Art. 13 Abs. 1 EGBGB) eine entscheidungserhebliche rechtliche Vorfrage für das Bestehen einer Zuständigkeit Deutschlands gem. Art. 9 i.V.m. Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO ist, die das Gericht in diesem Fall selbst hätte klären müssen.
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bb) Letztendlich kann die Frage einer wirksamen Eheschließung nach syrischem Recht aber dahinstehen. Die Klägerin hat aufgrund des bestehenden Familienverbands einen Anspruch gegen die Beklagte auf Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 6 Grundgesetz (GG), der unionsrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 7 und 24 Abs. 3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) sowie der völkerrechtlichen Vorgaben nach Art. 8 EMRK und Art. 3 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK). Nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in der Dublin III-VO festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Für einen Selbsteintritt in Betracht kommen vornehmlich familiäre Gründe sowie weitere humanitäre Kriterien. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ist im Lichte der Grund- und Menschenrechte auszulegen und anzuwenden (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 ff.). Die grundsätzliche Wahrung der Familieneinheit ist ein ganz maßgebliches Ziel der Dublin III-VO. So sollen nach den Erwägungsgründen 13 und 14 der Dublin III-VO bei der Anwendung der Regelungen der Dublin III-VO das Wohl des Kindes und die Achtung des Familienlebens vorrangige Erwägungen der Mitgliedstaaten sein. Erwägungsgrund 15 der Dublin III-VO betont, dass mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat insbesondere sichergestellt werden kann, dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden (vgl. hierzu: VG München, U.v. 8.9.2022 – M 10 K 16.50556 u.a. – juris Rn. 27 ff.).
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Aus Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG ergibt sich der Schutz des Familienlebens. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. nur BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NVwZ 2013, 1207 <1208>) gewähren Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG oder Art. 8 Abs. 1 EMRK keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Gleichwohl ist die Ausländerbehörde bzw. im vorliegenden Fall die Beklagte verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen. Voraussetzung ist stets eine schutzwürdige echte familiäre Beziehung im Sinne einer Beistandsgemeinschaft. Maßgeblich ist auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013, a.a.O.). Die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, drängt regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück, wenn die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden kann, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 22).
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Teilen dagegen der Ehegatte und ein etwaiges minderjähriges Kind die Staatsangehörigkeit des Ausländers, ohne zugleich deutsche Staatsangehörige zu sein, so kann die Berücksichtigung des Schutzes von Ehe und Familie nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich nur geringeres Gewicht beanspruchen. In diesem Fall ist ein Ausländer prinzipiell darauf verwiesen, die familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen ausländischen Familienangehörigen im gemeinsamen Heimatland herzustellen und zu wahren, solange die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nicht vorliegen (vgl. BVerwG, U.v. 11.6.1975 – 1 C 8.71 – juris Rn. 20; s. auch: vgl. VG Trier, B.v. 4.7.2012 – 1 L 671/12 – juris). Ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK kann mithin nicht anerkannt werden, wenn es den Familienangehörigen möglich und zumutbar ist, zur Vermeidung einer Trennung mit dem Ausländer zusammen in das gemeinsame Heimatland oder ein anderes Land zurückzukehren beziehungsweise ihm dorthin nachzufolgen. Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land zumutbar möglich ist (vgl. BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08 – juris Rn. 18 m.w.N.).
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Ob es dem Ausländer oder Familienangehörigen zuzumuten ist, das Bundesgebiet zu verlassen und die familiäre Lebensgemeinschaft in einem anderen Land zu führen, hängt dabei maßgeblich von dem aufenthaltsrechtlichen Status des Ausländers oder Familienangehörigen im Bundesgebiet ab (vgl. hierzu: OVG LSA, B.v. 10.12.2014 – 2 M 127/14, s. auch: NdsOVG, B.v. 2.3.2011 – 11 ME 551/10 – BeckRS 2011, 50316; VG Trier, B.v. 4.7.2012, a.a.O.). Abschiebungsschutz ist jedenfalls zu gewähren, wenn der oder die Familienangehörige(n) ein gesichertes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet hat bzw. haben (vgl. OVG LSA, B.v. 10.12.2014, a.a.O.).
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cc) In Anwendung dieser Grundsätze hat die Klägerin einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO; das Ermessen der Beklagten hat sich auf null reduziert. Wegen der durch Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Familieneinheit der Klägerin mit ihrem kleinen Sohn und dem Kindsvater liegen individuelle außergewöhnliche Gründe vor, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen.
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Nach der ausführlichen informatorischen Anhörung der Klägerin sowie der Einvernahme des Kindsvaters als Zeugen in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass der Kindsvater mit dem Sohn eine von persönlicher Verbundenheit getragene Beziehung hat, auf deren Aufrechterhaltung das Kind angewiesen ist. Die (biologische) Vaterschaft des Lebensgefährten der Klägerin steht – nachdem er zwischenzeitlich „nur“ als rechtlicher Vater vom Standesamt anerkannt wurde bzw. das Kind nach dessen Ansicht als „ehelich“ geboren galt – nach dem vorgelegten DNA-Gutachten mit 99,99% Wahrscheinlichkeit fest. Nach übereinstimmenden und glaubhaften Angaben der Klägerin und des Zeugen lebt sie mit ihrem Lebensgefährten und dem gemeinsamen Kind in häuslicher Gemeinschaft seit zwei Jahren zusammen. Die Klägerin und seine Lebensgefährtin sind nach eigenen Angaben schon seit vielen Jahren ein Paar. Die Klägerin und der Zeuge haben übereinstimmend ausgeführt, dass sich beide regelmäßig und intensiv um das Kind kümmern und – abgesehen von dem unsicheren Aufenthaltsstatus der Klägerin – ein glückliches Familienleben haben. Der Kindsvater hat dabei dem Gericht anschaulich dargestellt, dass der Wochenalltag in der Familie durchorganisiert ist und er und die Klägerin sich die Betreuung des Kindes aufteilen, je nachdem, wer Zeit hat. So hat der Zeuge angegeben, dass er einen Vollzeitjob habe, mit dem er gut verdiene, allerdings müsse er auch im Schichtsystem arbeiten. Wenn er Frühschicht habe, hole er nach Schichtende seinen Sohn und seine Frau von der Schule ab. Seine Lebensgefährtin bzw. die Klägerin besuche aktuell einen Deutschkurs. Er hat insofern anschaulich und nachvollziehbar dargestellt, dass es immer wieder zeitliche Momente gibt, in denen sich die Eltern die Betreuung des kleinen Sohnes zeitlich aufteilen müssen, aber es auch ausreichend Gelegenheiten gebe, in denen sie als Familie gemeinsam Zeit verbringen können, die sie sehr genießen würden. So würden sie etwa als Familie gerne zusammen wandern gehen bzw. gemeinsam in der Natur unterwegs sein. Dem Sohn würde es auch sehr gut im Freibad gefallen, weshalb sie bei warmen Wetter auch dort gerne hingehen würden. Wenn Arzttermine für den Sohn erforderlich seien, würden sie die gemeinsam ausmachen und mit ihm hingehen, insbesondere wenn der Sohn geimpft werden müsse. Vor dem Hintergrund der übereinstimmenden Schilderungen der Klägerin und des Zeugen hat das Gericht nicht die geringsten Zweifel, dass wechselseitig zwischen den Eltern als auch zu ihrem Kind eine innige und gelebte Familiengemeinschaft vorliegt, die durch weitere Eindrücke des Gerichts in der mündlichen Verhandlung bestätigt werden. So war auffällig, dass es dem in der Verhandlung mitanwesenden (kleinen) Kind missfallen hat, dass sein Vater als Zeuge zunächst etwa 20 Minuten vor dem Sitzungssaal warten musste und daraufhin selbstständig – wenn auch mit etwas Mühen bei der Nutzung der Türklinke – den Gerichtsaal verlassen hat, um zu seinen Vater zu gelangen, während die Klägerin gerade befragt wurde. Während der Verhandlung hat das Kind immer wieder die Aufmerksamkeit beider Elternteile gesucht und diese auf seine (altersentsprechende) Weise eingefordert.
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Die Tatsache, dass keine Sorgerechtserklärungen der Klägerin bzw. ihres Lebensgefährten für das gemeinsame Kind vorliegen, ist im konkreten Fall unschädlich. Nach dem Gesetz sind Sorgeerklärungen nur bei unverheirateten Eltern möglich (vgl. § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB). Vorliegend hat allerdings das Standesamt das Kind der Klägerin und ihrem Lebensgefährten als ehelich geboren angesehen und ihnen damit die Möglichkeit einer Erklärung nach § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB „genommen“. Rein familienrechtlich gereicht das Klägerin und ihrem Lebensgefährten nicht zum Nachteil. Da allerdings die Ausländerbehörde und das Bundesamt die Ehe nicht als wirksam anerkannt haben, darf die divergierende rechtliche Bewertung der Wirksamkeit der Ehe vom Standesamt auf der einen Seite und der Ausländerbehörde bzw. dem Bundesamt auf der anderen Seite der Klägerin nicht dadurch zum Nachteil gereichen, indem es der Klägerin im asylrechtlichen Kontext negativ ausgelegt würde, dass keine Sorgerechtserklärungen vorliegen. Denn die Tatsache, dass vorliegend verschiedene staatliche Behörden der Bundesrepublik Deutschland die Wirksamkeit der von ihr geltend gemachten Ehe – mit allen entsprechenden Folgeproblemen – unterschiedlich beurteilt haben, entzog sich ihrem Einfluss. Ungeachtet dessen nehmen sowohl die Klägerin als auch der Kindsvater ihre Elternverantwortung tatsächlich wahr.
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Angesichts der gelebten Familieneinheit würde vorliegend in nicht mehr vertretbarer Weise in die Gewährleistungen aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK eingegriffen, wenn die Klägerin mit ihrem Sohn nach Österreich gehen bzw. dorthin abgeschoben würde. Der erst zweijährige Sohn der Klägerin würde die Trennung von seinem Vater nicht verstehen und als endgültigen Verlust begreifen, was in rechtlich nicht mehr vertretbarer Weise das Kindeswohl des Sohnes beeinträchtigen würde (vgl. Art. 24 Abs. 3 GRCh, Art. 3 Abs. 1 UN-KRK). Denn das Kind befindet sich aktuell in einer Entwicklungsphase, in welcher der regelmäßige direkte Kontakt von wesentlicher Bedeutung für die weitere Ausformung der Beziehung zu seinen Eltern ist. Eine längerfristige Trennung des Kindes zu seinem Vater – und sei es nur für einen vorübergehenden Zeitraum von etwa 1,5 Jahren wegen des Durchlaufens des Asylverfahrens in Österreich und Nachholung des Visumverfahrens zum Zweck des Familiennachzugs – dürfte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit negative Konsequenzen für die Vater-Sohn-Beziehung bzw. das Familienleben insgesamt haben. Ein theoretisch möglicher zwischenzeitlicher Kontakt über Fernkommunikationsmedien (z.B. gemeinsame Videotelefonate) stellt bei einem Kind in diesem Alter und einem zu erwartenden längerfristigen Trennungszeitraum von über einem Jahr keine hinreichende Kompensation dar.
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Im konkreten Fall wäre es dem Kindsvater auch nicht zumutbar, die Klägerin und seinen Sohn nach Österreich zu begleiten. Abgesehen davon, dass der Kindsvater Inhaber einer Niederlassungserlaubnis ist und damit ein verfestigtes Aufenthaltsrecht im Inland hat (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), sowie überdies seine Einbürgerung beantragt hat, wäre es ihm aktuell auch rechtlich nicht möglich, die Klägerin und das gemeinsame Kind nach Österreich zu begleiten, da die dem Kindsvater erteilte Niederlassungserlaubnis keine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU darstellt (vgl. § 9a Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Eine Ausreise der Klägerin nach Österreich zusammen mit ihrem Sohn würde damit die Familieneinheit zerstören, zumal sie nachvollziehbar vorgetragen hat, dass sie eine Trennung von ihrem Lebensgefährten aufgrund der engen persönlichen Bindung hart treffen würde. Nach den glaubhaften Angaben des Kindsvaters und der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hat Ersterer zurzeit nicht nur die Rolle des „Familienversorgers“ inne, sondern ist auch in emotionaler Hinsicht eine derzeit nicht ersetzbare Stütze für seine Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind. Angesichts der bestehenden familiären Situation, die von einem intakten Familienverband und gemeinsamen Familienleben geprägt ist, überwiegen nach alledem der staatliche Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 1 GG bzw. die Gewährleistungen aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK einwanderungspolitische Belange (insbesondere die Nachholung eines Visumverfahrens nach unterstelltem Abschluss eines Asylverfahrens in Österreich zum Zwecke der Familienzusammenführung).
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dd) Die Klägerin kann sich auch auf eine entsprechende Ausübung des Selbsteintrittsrechts berufen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, U.v. 7.6.2016 – C-63/15 – Ghezelbash – juris; U.v. 7.6.2016 – C-155/15 – Karim – juris) kann ein Asylsuchender, der unter die Regelungen der Dublin III-VO fällt, im Rahmen eines Rechtsbehelfs die fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitskriterien (nach Kapitel III Dublin III-VO und nach Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO) geltend machen. Nichts Anderes kann gelten, wenn sich das im Rahmen des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO bestehende Ermessen eines Mitgliedstaats aufgrund der Wertungen von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ausnahmsweise zugunsten eines Klägers dahingehend reduziert, dass von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen ist. Die Vorschriften der Dublin Ill-VO vermitteln dem Asylsuchenden jedenfalls dann, wenn sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern (auch) dem Grundrechtsschutz dienen, ein subjektives Recht auf Prüfung seines Asylantrags durch den danach zuständigen Mitgliedstaat. Dieser kann eine hiermit nicht im Einklang stehende Entscheidung erfolgreich angreifen (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 23; BVerwG, U.v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 – juris Rn. 24; vgl. zum Ganzen auch: VG München, U.v. 27.5.2021 – M 11 K 20.50075 n.v. Rn. 29).
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b) Infolge der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Nummer 1 des Bescheids vom 7. Mai 2021 sind auch die Abschiebungsandrohung nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG in Nummer 3 und das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG in Nummer 4 aufzuheben. Ebenfalls aufzuheben ist die in Nummer 2 des Bescheids ergangene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen, die jedenfalls verfrüht ergangen ist (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21 m.w.N.).
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.