Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 06.09.2023 – W 6 K 23.30235
Titel:

zur Rechtskraftwirkung eines früheren Urteils

Normenketten:
AsylG § 73b Abs. 2 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
VwGO § 121 Nr. 1
Leitsätze:
1. Wurde das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) mit rechtskräftigem Urteil verpflichtet, ein Abschiebungsverbot nach § 53 Abs. 4 AuslG a.F. festzustellen und ist dieser Bescheid weiter wirksam, weil er zwischenzeitlich weder zurückgenommen noch widerrufen wurde oder aus sonstigen Gründen unwirksam geworden ist, ist das BAMF wegen der Bindung der Rechtskraft eines Urteils nach § 121 Nr. 1 VwGO hinsichtlich des Streitgegenstandes an einer Feststellung, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich desselben Landes vorliegen, gehindert. (Rn. 38 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Rechtskraftwirkung eines Urteils ist zeitlich nicht begrenzt; sie endet aber, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue, für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den damals gegebenen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eine erneute Sachentscheidung gerechtfertigt ist, wobei gerade in asylrechtlichen Streitigkeiten der Zeitablauf allein keine wesentliche Änderung der Sachlage darstellt. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Armenien, Anfechtungsklage, Klage gegen die Feststellung zu Abschiebungsverboten nach Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft, bestandskräftige Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes aufgrund rechtskräftigen Verpflichtungsurteils, Umfang der Rechtskraftwirkung eines Urteils, Abschiebungsverbot, Rechtskraftwirkung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29389

Tenor

I. Die Nr. 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. März 2023 (Az.: …*) wird aufgehoben.
II.    Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.    Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung, dass in seiner Person keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armenien vorliegen.
2
1. Der Kläger reiste nach eigenen Angaben am 5. Januar 2000 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 10. Januar 2000 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung gab der Kläger an, er sei armenischer Volkszugehöriger und habe bis zu seiner Ausreise auf aserbaidschanischem Staatsgebiet in der Region Berg-Karabach gelebt.
3
Mit Bescheid vom 20. April 2000 lehnte das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers ab und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Armenien oder den Iran an. Das Bundesamt sah die Staatsangehörigkeit des Klägers in seinem Bescheid als „ungeklärt“ an.
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Auf Klage des Klägers verpflichtete das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg die Beklagte mit Urteil vom 16. Juli 2001 (Az.: W 8 K 00.30598) festzustellen, dass für den Kläger Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 des damaligen Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (AuslG a.F. – außerkraftgetreten: 1. Januar 2005 durch Art. 15 Abs. 3 Nr. 1 des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern – ZuwandG) hinsichtlich Aserbaidschan und § 53 AuslG a.F. hinsichtlich Armenien vorliegen. Das Gericht ging von der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit des Klägers aus.
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Mit Bescheid vom 18. September 2001 stellte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge fest, dass beim Kläger Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 4 AuslG a.F. hinsichtlich Armenien vorliegen.
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Auf die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hin, hob der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 18. Dezember 2003 (Az.: 9 B 01.31217) die Feststellung des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg hinsichtlich des Abschiebungshindernisses betreffend Aserbaidschan auf. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs wurde mit Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2005 (Az.: 1 C 4.04) aufgehoben.
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Mit Urteil vom 25. Januar 2007 (Az.: 9 B 05.30531) wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Berufung mit der Maßgabe zurück, dass die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20. April 2000 verpflichtet wird, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschan vorliegen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ging in seinem Urteil von einer Staatenlosigkeit des Klägers aus. Das Urteil ist mit Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. März 2008 (Az.: 10 B 94.07) rechtskräftig geworden.
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Mit Bescheid vom 11. April 2008 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fest, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG im Hinblick auf Aserbaidschan vorliegen und erkannten ihm die Flüchtlingseigenschaft zu.
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Mit Schreiben vom 19. Mai 2021 teilte die für den Kläger zuständige Ausländerbehörde der Beklagte mit, dass die Tochter des Klägers im Rahmen einer Vorsprache am 27. September 2019 einen armenischen Reisepass des Klägers vorgelegt habe, welcher bei polizeilicher Überprüfung keine Auffälligkeiten aufweise, weshalb von der Echtheit ausgegangen werde.
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Die Beklagte leitete am 27. Juli 2022 ein Aufhebungsverfahren ein und hörte den Kläger mit Schreiben vom 13. September 2022 zu der beabsichtigten Rücknahmeentscheidung an.
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Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 13. November 2022 ließ der Kläger hierzu ausführen, der Kläger habe mit seiner Ehefrau drei gemeinsame Kinder, von denen sich eines bereits im Einbürgerungsverfahren befinde. In Armenien gebe es keine Familienangehörigen. Der Kläger beziehe keine Sozialleistungen und sei seit 2009 durchgängig erwerbstätig. Im Zeitraum von 2000 bis 2007 habe er aufgrund fehlender Arbeitserlaubnis keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können. Er habe von 2007 bis 2009 einen Sprachkurs besucht und beherrsche die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Der Kläger lebe nach den Werten des Landes und sei voll integriert. Lediglich im Jahr 2014 habe er sich einmalig für neun Tage im Heimatland aufgehalten, um Dokumente zu beschaffen. Das Interesse des Klägers am Fortbestand des Schutzstatus überwiege daher das öffentliche Interesse am Widerruf deutlich.
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Mit Bescheid vom 20. März 2023 – zugestellt am 4. April 2023 – nahm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die mit Bescheid vom 11. April 2008 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft zurück (Nr. 1 des Bescheides). Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Nr. 2) und es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Die sofortige Vollziehung des Bescheides wurde angeordnet (Nr. 4).
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter sei nach § 73 Abs. 4 AsylG zurückzunehmen, da die seinerzeit getroffene Entscheidung auf unrichtigen Angaben beruht habe bzw. aufgrund des Verschweigens wesentlicher Tatsachen erteilt worden sei. Der Kläger sei kein staatenloser Armenier aus Aserbaidschan, sondern armenischer Staatsangehöriger. Die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs stehe einer Rücknahme nicht entgegen, da der Kläger hinsichtlich seiner Identität, Herkunft, Staatsangehörigkeit und Fluchtgründe wiederholt getäuscht habe, um eine Flüchtlingsschutzfeststellung zu erreichen. Die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes und von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen hinsichtlich Armenien nicht vor.
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2. Am 18. April 2023 ließ der Kläger hinsichtlich der Nummern 1 und 3 des Bescheides Klage erheben. Eine nähere Klagebegründung erfolgte nicht.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beantragte für die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wird auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides Bezug genommen.
17
3. Mit Beschluss vom 3. Mai 2023 (W 6 S 23.30236) stellte das Verwaltungsgericht Würzburg auf Antrag des Klägers die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Nr. 1 des Bescheides vom 20. März 2023 wieder her.
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Mit Beschluss vom 12. Juni 2023 übertrug die Kammer den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung.
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In der mündlichen Verhandlung am 6. September 2023 ließ der Kläger die Klage zurücknehmen, soweit sie sich auf die Nummer 1 des Bescheides bezog. Das Verfahren wurde insoweit abgetrennt und auf Kosten des Klägers eingestellt.
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Der Kläger ließ beantragen,
Die Nummer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. März 2023 (Az.: …*) wird aufgehoben.
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Für die Beklagte war in der mündlichen Verhandlung niemand erschienen.
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4. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (einschließlich des Verfahrens W 6 S 23.30236) sowie die beigezogene Behördenakte und das Protokoll über die mündliche Verhandlung am 6. September 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die nach § 102 Abs. 2 VwGO entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten zur mündlichen Verhandlung erschienen sind, ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. März 2023 ist in der allein streitgegenständlichen Nr. 3 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
25
Die in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides getroffene Feststellung, dass beim Kläger keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armenien vorliegen, war aufzuheben, da diese dem auf der Verpflichtung aus dem rechtskräftigen Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 16. Juli 2001 (Az.: W 8 K 00.30598) beruhenden bestandskräftigen Bescheid des damaligen Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 18. September 2001 widerspricht, mit welchem dem Kläger ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Armenien zugesprochen wurde und eine Rücknahme oder ein Widerruf dieses Bescheides durch den streitgegenständlichen Bescheid nicht, auch nicht konkludent, erfolgt ist.
Im Einzelnen:
26
1. Über die Klage konnte nach § 102 Abs. 2 VwGO verhandelt und entschieden werden, obwohl für die Beklagte in der mündlichen Verhandlung niemand erschienen ist.
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Die Beklagte wurde mit Schreiben vom 23. Juni 2023 ordnungsgemäß zum Termin geladen und hat mit Schriftsatz vom 21. April 2023 auf förmliche Zustellung der Ladung gegen Empfangsbekenntnis verzichtet. Die Ladung enthielt den Hinweis, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
28
2. Die Klage gegen die allein streitgegenständliche Nr. 3 des Bescheides ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Hs. 1 VwGO) statthaft und auch im Übrigen zulässig.
29
Die Beklagte hat in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides die Feststellung getroffen, dass beim Kläger keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armenien vorliegen. Zwar wäre eine Verpflichtung der Beklagten, unter Aufhebung der streitgegenständlichen Nummer des Bescheides festzustellen, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich Armenien vorliegen, grundsätzlich mit einer Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage (§ 42 Abs. 1 Hs. 2 Alt. 1 VwGO) zu verfolgen. Einer derartigen Verpflichtung bedarf es vorliegend jedoch nicht, da dem Kläger mit Bescheid des damaligen Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 18. September 2001 bestandskräftig ein Abschiebungsverbot nach § 53 Abs. 4 AuslG a.F., welcher inhaltlich dem heutigen § 60 Abs. 5 AufenthG entspricht, zuerkannt wurde, dieser Bescheid weiter wirksam ist und nicht zurückgenommen oder widerrufen wurde.
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Das Rechtsschutzziel des Klägers kann daher im vorliegenden Fall mit der Anfechtungsklage statthafterweise verfolgt werden.
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3. Die Klage ist begründet.
32
Die Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
33
Die dort nach Maßgabe von § 73b Abs. 2 Satz 1 AsylG getroffene Feststellung, dass beim Kläger keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armenien vorliegen, widerspricht dem auf der Verpflichtung aus dem rechtskräftigen Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 16. Juli 2001 (Az.: W 8 K 00.30598) beruhenden bestandskräftigen Bescheid des damaligen Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 18. September 2001. Mit diesem Bescheid wurde dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 53 Abs. 4 AuslG a.F. hinsichtlich Armenien zugesprochen (vgl. Bl. 59 der Behördenakte).
34
Die entsprechende Verpflichtung aus dem Urteil vom 16. Juli 2001 war ausdrücklich nicht von dem gegen das Urteil eingelegten Rechtsmittel umfasst, wie sich insbesondere aus dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. Dezember 2003 (Az.: 9 B 01.31217; S. 4 f.; Bl. 48 f. der Behördenakte) ergibt.
35
Es ist der Behördenakte nicht zu entnehmen und auch sonst nicht ersichtlich, dass der Bescheid vom 18. September 2001 mit der darin enthaltenen Feststellung hinsichtlich eines Abschiebungsverbots nach Armenien zwischenzeitlich widerrufen bzw. zurückgenommen wurde oder aus sonstigen Gründen unwirksam geworden ist. Insbesondere spricht der Tenor des Bescheides vom 20. März 2023 eine Rücknahme ausdrücklich lediglich hinsichtlich der mit Bescheid vom 11. April 2008 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft aus.
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Die in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides vom 20. März 2023 getroffene Feststellung, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armenien vorliegen, kann zudem nicht dahingehend verstanden werden, dass hiermit (konkludent) eine Aufhebung der Feststellung vom 18. September 2001 erfolgt ist. Dies ergibt sich zum einen schon daraus, dass für die Rücknahme bzw. den Widerruf von Abschiebungsverboten mit § 73 Abs. 6 Satz 1 AsylG eine eigenständige Rechtsgrundlage existiert, welche in dem Bescheid der Beklagten vom 20. März 2023 nicht genannt wird und mit deren Voraussetzungen sich der Bescheid nicht auseinandersetzt. Der Bescheid vom 18. September 2001 wird ebenfalls nicht erwähnt.
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Die Beklagte setzt sich zwar ausführlich damit auseinander, weshalb aus ihrer Sicht in Person des Klägers keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armenien vorliegen. Es wird dabei aber verkannt, dass auch die Feststellung zum Vorliegen der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Armenien im bestandskräftigen Bescheid vom 18. September 2001 ebenso wie die vorliegend nicht mehr streitgegenständliche Flüchtlingsanerkennung hinsichtlich Aserbaidschan, auf der Verpflichtung aus einem rechtskräftigen Urteil beruht.
38
Es ist insoweit zu beachten, dass die Rechtskraft eines Urteils nach § 121 Nr. 1 VwGO die Beteiligten hinsichtlich des Streitgegenstandes bindet. Dies gilt unabhängig von der inhaltlichen Richtigkeit des Urteils und steht nicht zur Disposition der Beteiligten (vgl. Lindner in BeckOK, VwGO, 66. Edition, Stand: 1.1.2023, § 121 Rn. 9).
39
Beruht die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes auf einer entsprechenden Verpflichtung durch eine rechtskräftige verwaltungsgerichtliche Entscheidung, so hindert deren materielle Rechtskraft grundsätzlich jede erneute, insbesondere abweichende, Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung (vgl. Fleuß in BeckOK, Ausländerrecht, 38. Edition, Stand: 1.7.2023, § 73 AsylG Rn. 240). Die Rechtskraftwirkung eines Urteils ist zudem zeitlich nicht begrenzt, sie endet aber, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den damals gegebenen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eine erneute Sachentscheidung gerechtfertigt ist, wobei gerade in asylrechtlichen Streitigkeiten der Zeitablauf allein keine wesentliche Änderung der Sachlage darstellt (BVerwG, U.v. 18.9.2001 – 1 C 7.01 – juris Rn. 10 ff.).
40
Allein durch die mittlerweile verstrichene Zeit ist die Rechtskraftwirkung des Urteils in Bezug auf das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes beim Kläger hinsichtlich Armenien demnach nicht erloschen. Es bedürfte einer förmlichen Rücknahme- oder Widerrufsentscheidung, welche die Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides nach oben Gesagtem nicht darstellt und auch nicht in eine solche umgedeutet werden kann. Dies gilt neben den obigen Ausführungen zudem deshalb, weil sich die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid nicht im Ansatz mit der Rechtskraftwirkung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 16. Juli 2001 betreffend die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes befasst und nicht darlegt, dass eine so wesentliche Änderung der damals für die Streitentscheidung erheblichen Tatsachen eingetreten ist und deshalb eine erneute Sachentscheidung gerichtfertigt ist. Die insoweit vorhandenen Ausführungen im Bescheid beziehen sich allein auf die Rechtskraft des Urteils vom 16. Juli 2001 hinsichtlich der (nicht mehr streitgegenständlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
41
Diese Ausführungen können nicht auf die Feststellung hinsichtlich des Abschiebungsverbotes übertragen werden. Dies gilt schon deshalb, da die Begründung im Urteil des Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg vom 16. Juli 2001 betreffend die Flüchtlingseigenschaft des Klägers hinsichtlich Aserbaidschan und betreffend das Abschiebungsverbot nach Armenien inhaltlich nicht übereinstimmt.
42
So stellt das Urteil betreffend die Flüchtlingseigenschaft maßgeblich auf die damals angenommene aserbaidschanische Staats- und armenische Volkszugehörigkeit des Klägers ab (vgl. S. 6 ff. des Urteils vom 16. Juli 2001; Bl. 66 ff. der Behördenakte), während die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Armenien maßgeblich auf erhebliche Probleme des Klägers in Berg-Karabach mit den Angehörigen der armenisch stämmigen Freiheitskämpfer „Feddayin“ gestützt wird (S. 11 des Urteils; Bl. 72 der Behördenakte).
43
Mit alledem setzt sich der Bescheid vom 20. März 2023 in der Begründung der streitgegenständlichen Nr. 3 nicht auseinander, weshalb diese sich als rechtswidrig erweist und aufzuheben war.
44
Da es sich bei dem nationalen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 23/10 – juris Rn. 15; VG München, U.v. 15.3.2017 – M 17 K 16.35002 – juris), war die Feststellung insgesamt aufzuheben.
45
Aus diesem Grund kann es im vorliegenden Verfahren dahinstehen, ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme des bestehenden Abschiebungsverbotes hinsichtlich Armeniens nach § 73 Abs. 6 AsylG auch unter Berücksichtigung der Rechtskraft des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtes Würzburg vom 16. Juli 2001 (Az.: W 8 K 00.30598) und der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes rechtmäßig erfolgen kann bzw. ob die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufentG zum jetzigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) hinsichtlich Armenien noch vorliegen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.