Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 19.06.2023 – W 4 K 22.30656
Titel:

Erhebliche Mängel des rumänischen Asylsystems bei Mutter eines Kleinstkindes ohne Unterstützung vor Ort

Normenketten:
AsylG § 10 Abs. 4 S. 4, § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Unerlässliche Voraussetzung für den Eintritt der Fiktion des § 10 Abs. 4 S. 4 Hs. 2 AsylG ist, dass zwischen Eingang der Mitteilung (hier des streitgegenständlichen Bescheides) und des Eintritts der Fiktionswirkung auch tatsächlich ein Aushändigungsversuch stattgefunden hat, dh dass die Sendung durch die Aufnahmeeinrichtung in dieser Zeit überhaupt zur Postausgabe bzw. Postverteilung vorgesehen war. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Unter Berücksichtigung der aktuellen Aufnahmebedingungen in Rumänien ist davon auszugehen, dass die Mutter eines wenige Monate alten Kleinstkindes, ohne Schul- und Berufsabschluss und ohne Unterstützung vor Ort einer besonders vulnerablen Personengruppe angehört, die im Falle ihrer Rückkehr nach Rumänien dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art. 4 GRCh iVm Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden. (Rn. 18 und 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kein Eintritt der Fiktionswirkung, unzulässiger Asylantrag bei vorheriger Schutzzuerkennung in Rumänien, beachtliche Wahrscheinlichkeit unmenschlicher Behandlung bei Frau mit Kleinstkind ohne weitere familiäre Unterstützung vor Ort, Fiktionswirkung, Post, Aushändigungsversuch, Rumänien, vulnerable Person, Mutter, Kleinstkind, Unterstützung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29386

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. August 2022 (GZ.: … * …*) wird mit Ausnahme der in Ziffer 3, Satz 4 getroffenen Feststellung, dass die Klägerin nicht nach Somalia abgeschoben werden darf, aufgehoben.
II.    Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.    Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

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1. Die Klägerin, nach eigenen Angaben somalische Staatsangehörige, reiste am 16. Februar 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten hier am 22. April 2022 einen förmlichen Asylantrag. Die persönliche Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erfolgte am 1. August 2022. Auf die dabei gemachten Angaben der Klägerin wird Bezug genommen.
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Ausweislich der Eurodac-Datenbank hatte die Klägerin zuvor bereits in Rumänien einen Asylantrag gestellt und ihr war dort auch bereits internationaler Schutz gewährt wurde, was seitens der rumänischen Behörden mit Schreiben vom 21. Juni 2022 bestätigt wurde. Auch die Klägerin selbst hatte im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt angegeben, dass ihr in Rumänien bereits Schutz zuerkannt worden sei.
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Mit Bescheid vom 9. August 2022 lehnte das Bundesamt daher den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 2). Gemäß Ziffer 3 wurde die Klägerin aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Sollte die Klägerin die Ausreisefrist nicht einhalten, würde sie nach Rumänien abgeschoben. Die Klägerin könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürfte und der zu ihrer Rücknahme verpflichtet sei. Die Klägerin dürfe nicht nach Somalia abgeschoben werden (Ziffer 3, Satz 4). Das Einreise und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Ziffer 5). Wegen der Begründung wird auf den vorgenannten Bescheid Bezug genommen.
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In der dem Bescheid beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung war angegeben, dass gegen den Bescheid innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung Klage beim Verwaltungsgericht Würzburg erhoben werden könne. Der Bescheid ging ausweislich der Behördenakten am 12. August 2022 bei der Aufnahmeeinrichtung ein und wurde den Klägern dort am 18. August 2022 ausgehändigt. Zur Postausgabe bzw. Postverteilung war der streitgegenständliche Bescheid nach Auskunft der zuständigen Aufnahmeeinrichtung allerdings erst mal am 16. August 2022 ausgeschrieben worden.
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2. Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 1. September 2022, eingegangen bei Gericht am selben Tag, ließ die Klägerin gegen den vorgenannten Bescheid des Bundesamts Klage erheben und beantragen,
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. August 2022 wird mit Ausnahme von Ziffer 3 Satz 4 („Dier Antragstellerin darf nicht nach Somalia abgeschoben werden.“) aufgehoben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Angaben der Klägerin bei ihrer Anhörung beim Bundesamt Bezug genommen. Ergänzend wurde vorgetragen, dass die Klägerin am 1. Februar 2023 im Bundesgebiet einen Sohn zur Welt gebracht habe. Vater des Kindes sei ihr hier im Bundesgebiet nach muslimischen Ritus geehelichter Ehemann, ein somalischer Staatsangehöriger, der eine deutsche Aufenthaltserlaubnis innehabe. Die Familie lebe zusammen in I..Der Klägerin mit ihrem Baby würde bei einer Rückkehr nach Rumänien eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, da sie dort nicht imstande wäre, für sich und ihr Kind ihr Existenzminimum zu sichern.
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3. Mit Schriftsatz des Bundesamts vom 5. September 2022 beantragte die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
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Hinsichtlich der Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen. An der ursprünglichen Rechtsauffassung, dass die Klage bereits verfristet sei, werde allerdings nicht mehr festgehalten.
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4. Mit Beschluss vom 11. April 2023 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Bundesamtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage entscheiden, ohne dass ein Vertreter der Beklagten an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten bei der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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1. Die Klage ist zulässig.
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Statthafte Klageart hinsichtlich der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die (isolierte) Anfechtungsklage (vgl. hierzu etwa BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 16 ff.).
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Darüber hinaus wurde die vorliegende Klage auch fristgerecht erhoben. Insbesondere begann vorliegend die Klagefrist nicht schon am 16. August 2022 zu laufen, obgleich der Bescheid bereits am 12. August 2022 bei der Aufnahmeeinrichtung eingegangen war. Die Fiktionswirkung des § 10 Abs. 4 Satz 4, zweiter Halbsatz AsylG kommt vorliegend allerdings nicht zum Tragen. Denn nach teleologischer und systematischer Auslegung (insbesondere mit Blick auf § 10 Abs. 4 Satz 3 AsylG) der Vorschrift, ist unerlässliche Voraussetzung für den Eintritt einer entsprechenden Fiktion, dass zwischen Eingang der Mitteilung (hier des streitgegenständlichen Bescheides) und des Eintritts der Fiktionswirkung auch tatsächlich ein Aushändigungsversuch stattgefunden hat, d.h. dass die Sendung durch die Aufnahmeeinrichtung in dieser Zeit überhaupt zur Postausgabe bzw. Postverteilung vorgesehen war (so etwa auch VG Freiburg, B.v. 13.8.2021 – A 10 K 1967/21 – juris Rn. 11; Preisner in BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.4.2023, § 10 AsylG Rn. 36 aE; GK-AsylG, Stand 25.11.2022, § 10 Rn. 368).
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Dies ist ausweislich der Auskünfte der zuständigen Aufnahmeeinrichtung (vgl. Blatt 89 GA) vorliegend nicht der Fall gewesen. So fand im Fall der Klägerin weder am Samstag, dem 13. August 2022, noch am 15. August 2022, einem Montag und Feiertag in Bayern, eine Postausgabe in der hier maßgeblichen Aufnahmeeinrichtung statt. Ein Postaushang, anhand dessen der Klägerin mitgeteilt wurde, dass für sie überhaupt Post zur Abholung bereitliege, erfolgte vielmehr erstmals am 16. August 2022 (vgl. Blatt 100 u. 102 GA). Die Fiktionswirkung des § 10 Abs. 4 Satz 4, zweiter Halbsatz AsylG ist daher im Fall der Klägerin nicht eingetreten. Es verbleibt damit bei der Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 4, erster Halbsatz AsylG, wonach die Zustellung mit der Aushändigung an den Ausländer, hier also am 18. August 2022, bewirkt ist.
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Die Klage ist demnach am 1. September 2022 noch rechtzeitig erhoben worden. Diesbezügliche Zweifel hatte das Bundesamt mittlerweile auch selbst aufgegeben (vgl. Schriftsatz vom 26.1.2023, Blatt 112 GA).
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2. Die Klage ist auch begründet, da der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. August 2022 zum hier maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) im angefochtenen Umfang rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG war aufzuheben, weil unter Berücksichtigung der aktuellen Aufnahmebedingungen in Rumänien und der besonderen persönlichen Umstände der Klägerin davon auszugehen ist, dass sie als Angehörige einer besonders vulnerablen Personengruppe im Falle ihrer Rückkehr nach Rumänien dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden.
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3. Bei der Prüfung, ob Rumänien hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzberechtigten gegen Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK verstößt, ist allerdings ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 – juris; NdsOVG, B.v. 21.12.2018 – 10 LB 201/18 – BeckRS 2018, 33662; U.v. 29.1.2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 28). Denn Rumänien unterliegt als Mitgliedstaat der Europäischen Union deren Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verpflichtet. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden. Daraus hat der Europäische Gerichtshof die Vermutung abgeleitet, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. hierzu EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. juris Rn. 83 f.).
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Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung dieser Vermutung hat der Europäische Gerichtshof aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU), die Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) oder die Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) genügt, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu hindern. Denn Mängel des Asylsystems können nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen.
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Diese Schwelle ist nach der Rechtsprechung des EuGH im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 3 GrCh) erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn.89 ff.; aus der Rechtsprechung des EGMR siehe etwa EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12 – NVwZ 2015, 127 ff.).
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Selbst große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichen diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C- 297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie genügen hierfür – wie bereits erwähnt – nicht (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 92). Auch der Umstand, dass der Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Asylantragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 GrCh verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Schutzberechtigte aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 93).
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Ist dagegen ernsthaft zu befürchten, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bzw. anerkannte Schutzberechtigte im zuständigen Mitgliedstaat derartige Zustände aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Personen im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK zur Folge haben, ist eine Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 87; BVerwG, B.v. 19.3.2014 -10 B 6.14 – juris Rn. 6).
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Hinsichtlich der Gefahrenprognose ist im Rahmen des Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK auf den Maßstab des „real risk“ der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzustellen (vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, S. 1330 Rn. 129; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m.w.N. stRspr).
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Der Tatrichter muss sich unter Berücksichtigung des Untersuchungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) somit zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GrCh sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer, d. h. über Einzelfälle hinausgehender Mängel des Asylsystems oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m.w.N.) einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
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Das erfordert eine aktuelle Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen, wobei regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 11; vgl. auch EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris Rn. 90 f.). Das gilt insbesondere für die Stellungnahmen des UNHCR angesichts der Rolle, die diesem in Hinblick auf die Überwachung der Einhaltung der GFK (vgl. dort Art. 35) übertragen worden ist (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 – C-528/11 – juris Rn. 44).
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4. Unter Berücksichtigung der aktuellen Aufnahmebedingungen in Rumänien sowie der besonderen persönlichen Umstände der Klägerin, Mutter eines wenige Monate alten Kleinstkindes, geht das Gericht davon aus, dass in diesem besonderen Fall der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Rumänien eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
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Die aktuelle Rechtsprechung gelangt für die Sekundärmigration aus Rumänien regelmäßig nur in Fällen von nicht bestehender Vulnerabilität zu dem Schluss, dass grundsätzlich davon auszugehen sein dürfte, dass anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte dort menschenrechtskonform behandelt werden und in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse im Wesentlichen zu decken. Dementsprechend müssen die jeweiligen Schutzberechtigten grundsätzlich in der Lage sein, sich den schwierigen Bedingungen in Rumänien zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt zu sorgen (vgl. hierzu aus jüngerer Zeit etwa OVG Münster, B.v. 25.8.2022 – 11 A 861/20.A; VG München, U.v. 12.12.2022 – M 25 K 19.33721; OVG Koblenz, B.v. 17.1.2020 – 7 A 10921/18.OVG; VG Ansbach, U.v. 24.11.2021 – AN 17 S 19.50869; VG Kassel, U.v. 31.5.2021 – 1 K 973/19.KS.A; VG Cottbus, U.v. 1.4.2021 – 5 K 1582/17.A – juris; VG Aachen, U.v. 3.7.2020 – 1 K 373/18.A; – alle juris).
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Im Fall der Klägerin handelt es sich aber gerade um eine besonders vulnerable Person. Bei dieser Personengruppe wird in der Rechtsprechung – soweit ersichtlich – regelmäßig davon ausgegangen, dass eine Rückkehr nach Rumänien für diese Personengruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK zur Folge hätte (vgl. hierzu aus jüngerer Zeit etwa VG Weimar, U.v. 7.4.2022 – 6 K 1113/19 We – juris; VG Köln, U.v. 3.12.2021 – 12 K 15280/17.A – juris; vgl. auch die entsprechenden Hinweise des VG München, U.v. 12.12.2022 – M 25 K 19.33721 – juris Rn. 33).
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4.1. Die Lebenssituation anerkannt Schutzberechtigter stellt sich nach der aktuellen Erkenntnislage in Rumänien dabei wie folgt dar:
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Menschen mit zuerkanntem internationalem Schutzstatus bekommen in Rumänien zunächst eine dreijährige Aufenthaltsbewilligung, subsidiär Schutzberechtigte eine zweijährige, die jeweils bei Bedarf verlängert werden können (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 137). Ab einem rechtmäßigen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren in Rumänien kann auch eine permanente Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, wenn weitere Voraussetzungen wie z. B. Sprachkenntnisse, Krankenversicherung und Unterkunft erfüllt sind (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S.; 139 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 2.8.2022, S. 10).
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Grundsätzlich haben anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte in Rumänien Zugang zu Bildung, Wohnungen, Arbeit, Krankenversorgung und Sozialleistungen. Die Möglichkeiten, die genannten Leistungen tatsächlich in Anspruch zu nehmen, sind allerdings nicht überall im Land in gleichem Maße gegeben, sondern vom Grad des Bewusstseins der verschiedenen öffentlichen und privaten Akteure abhängig, die für die Gewährleistung des Zugangs zu diesen Diensten verantwortlich sind (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 2.8.2022, S. 10).
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Grundsätzlich haben Schutzberechtigte des Weiteren den weitgehend gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie rumänische Staatsangehörige. Auch können arbeitslose Schutzberechtigte, die am Integrationsprogramm teilnehmen, zudem Umzugs-, Mobilitäts- und sonstige Beihilfen erhalten (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 154; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 2.8.2022, S. 11). In der Praxis hängt der Zugang zum Arbeitsmarkt jedoch von der Wirtschaftskraft der jeweiligen Stadt oder Region ab. Auch mangelnde Kenntnisse der rumänischen Sprache (und in einigen Fällen der englischen Sprache) können den Zugang zum Arbeitsmarkt behindern (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 155; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 2.8.2022, S. 11).
34
Wenn die Schutzberechtigten über keine finanziellen Mittel verfügen, können sie sich für die Dauer von sechs Monaten bis maximal zwölf Monaten in den regionalen Unterbringungszentren aufhalten, wofür sie jedoch in der Regel Miete zahlen und im Integrationsprogramm eingeschrieben sein müssen (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 161 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 2.8.2022, S. 10 f.). In Rumänien als schutzberechtigt anerkannte Ausländer haben zudem ein Recht auf (entgeltliche) Sozialwohnungen unter den gleichen Bedingungen wie rumänische Staatsangehörige bzw., falls dort keine Plätze bestehen, auf die Gewährung finanzieller Unterstützung zum Anmieten einer Wohnung und Zahlung der Nebenkosten (vgl. Auswärtiges Amt, Amtliche Auskunft v. 4.2.2022 an das VG Hannover, 508-9-516.80/54385, S. 3; AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 153 f.). Des Weiteren besteht für einen Zeitraum von maximal zwölf Monaten ein Anspruch auf Sozialhilfe. Die Höhe der Sozialhilfe beträgt aktuell 115 EUR im Monat (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 160).
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Die medizinische Versorgung von anerkannten Schutzberechtigten ist prinzipiell gewährleistet. Der Anspruch auf eine Krankenversicherung besteht zu den gleichen Bedingungen wie für rumänische Staatsbürger. Psychische Krankheiten, darunter auch Traumata, werden behandelt. Bei der Überwindung von dennoch auftretenden praktischen Schwierigkeiten hinsichtlich des Zugangs zur Gesundheitsversorgung sind in erster Linie NGOs behilflich (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 164; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 2.8.2022, S. 12). In jedem Fall müssen sich Schutzberechtigte, bevor sie als Versicherte Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen können, an die Krankenkasse wenden und sich bei einem Hausarzt anmelden. Hausärzte weigern sich allerdings häufig, Personen mit internationalem Schutzstatus, einschließlich Kinder, zu registrieren, weil sie die Patienten für mindestens sechs Monate registrieren müssen und befürchten, dass die Begünstigten in der Zwischenzeit Rumänien verlassen (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 164; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 2.8.2022, S. 12).
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Für diejenigen, die nicht krankenversichert sind, können NGOs bei Bedarf die Kosten für ärztliche Konsultationen und Behandlungen übernehmen. Personen, die ohne Einkommen die Leistungen der Krankenversicherung in Anspruch nehmen möchten, sind zur Zahlung von Krankenversicherungsbeträgen für die Dauer von 12 Monaten verpflichtet. In der Praxis beträgt der monatliche Beitrag umgerechnet etwa 44 EUR (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 2.8.2022, S. 12). Hürden in Bezug auf die Gesundheitsversorgung sind im Allgemeinen unzureichendes Verständnis der Funktionsweise des Krankenversicherungssystems, fehlende finanzielle Mittel, um die Krankenversicherung zu bezahlen, bestimmte Leistungen, die trotz Versicherung privat zu zahlen sind, hohe Wartezeiten bei bestimmten Untersuchungen sowie sprachliche und kulturelle Barrieren (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 164).
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4.2. Hinsichtlich der persönlichen Umstände der Klägerin ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dieser um eine Frau ohne Schul- und Berufsabschluss handelt, die sich zudem um ihr am 1. Februar 2023 geborenes Kleistkind (vgl. die Geburtsurkunde auf Blatt 134 GA) kümmern muss. Außerdem muss hier miteingestellt werden, dass die Klägerin und ihr Baby in Rumänien auf sich alleine gestellt wären. Denn da die Klägerin und ihr Ehemann erst in Deutschland und auch nur nach muslimischen Ritus geheiratet haben, hat die Klägerin in Rumänien keinen Anspruch auf Familienzusammenführung. Diesen hätte die Klägerin nur, wenn die Ehe bereits im Herkunftsland und vor der Einreise nach Rumänien bestanden hätte (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 146 f.). Dies ist vorliegend allerdings nicht der Fall. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin nach ihrer Anerkennung in Rumänien Ende September 2021 bereits mehrere Monate staatliche Leistungen in Anspruch genommen hat (vgl. Seite 3 der Sitzungsniederschrift), so dass die Klägerin (jedenfalls in zeitlicher Hinsicht) entsprechende Leistungskürzungen hinzunehmen hätte.
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Da die Klägerin zudem ein Kleinstkind zu versorgen hat, könnte die Klägerin – wenn überhaupt – allenfalls sehr eingeschränkt einer Beschäftigung nachgehen, so dass sie aller Voraussicht nach auf Sozialhilfe angewiesen wäre. Diese beträgt in Rumänien aktuell 115,00 EUR im Monat (vgl. AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 160; SFH, Auswirkungen der Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlingen auf die Lebensbedingungen (Wohnsituation, Arbeitsmarkt, Existenzsicherung) von nach Rumänien zurückkehrenden Schutzberechtigten, 20.7.2022, S. 2). Hiervon wären monatlich noch 44,00 EUR für die staatliche Krankenversicherung (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 2.8.2022, S. 12) in Abzug zu bringen, auf die gerade junge Mütter regelmäßig angewiesen sind. Damit verblieben der Klägerin im Monat 71,00 EUR (= 2,37 EUR/‘Tag), um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, also insbesondere Lebensmittel, Kleider, Hygieneartikel, etwaige medizinische Zusatzkosten und (anteilige) Mietkosten bezahlen zu können. Einen Anspruch darauf, dass die Kosten der Krankenversicherung von dritter Seite übernommen werden, hat die Klägerin nicht. Allenfalls könnte die Klägerin versuchen, dass eine NGO die entsprechenden Kosten im Nachhinein ersetzt (AIDA, Country Report: Romania, 2022 Update, S. 164).
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Unter Berücksichtigung dieser Gesamtumstände ist zur Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass die Klägerin als Angehörige einer besonders vulnerablen Personengruppe – Mutter mit Kleinstkind ohne familiäre Unterstützung vor Ort – im Falle ihrer Rückkehr nach Rumänien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden.
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Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG war daher im Falle der Klägerin aufzuheben.
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5. Nachdem die Unzulässigkeitsentscheidung im angegriffenen Bescheid keinen Bestand haben kann, ist die Entscheidung über Abschiebungsverbote jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG) und daher ebenfalls aufzuheben (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21). Des Weiteren ist zwangsläufig auch die verfügte Abschiebungsandrohung im angefochtenen Umfang rechtswidrig und aufzuheben, soweit sie sich auf die Abschiebung nach Rumänien bezieht, da die Voraussetzungen des § 35 AsylG nicht vorliegen (vgl. hierzu ebenfalls BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21). Schließlich konnte die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG keinen Bestand haben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzung für die Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG) entfallen ist.
42
Nach alledem war der angegriffene Bescheid im beantragten Umfang aufzuheben, weil er insoweit die Klägerin in ihren Rechten verletzt.
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6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Satz 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
44
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.