Titel:
Voraussetzungen der schweren Körperverletzung bei einem lediglich teilweisen Verlust des Sehvermögens
Normenkette:
StGB § 22, § 23, § 226
Leitsätze:
1. Der Verlust des Sehvermögens auf einem Auge bis auf einen Visus von 0,25, also auf 25% der Sehleistung, erfüllt nicht den Tatbestand der schweren Körperverletzung (Ergänzung zu BGH BeckRS 2010, 30925). (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allerdings kommt jedenfalls eine versuchte schwere Körperverletzung in Betracht, wenn der Täter wuchtig bewusst einen spitzen Gegenstand in ein Auge des Opfers sticht. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
schwere Körperverletzung, Auge, Sehvermögen, teilweiser Verlust, Versuch, spitzer Gegenstand, wuchtiges Stechen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 29263
Tenor
I. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts – Schöffengericht – Kempten (Allgäu) vom 03.06.2022 im Rechtsfolgenausspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt wird.
II. Die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts – Schöffengericht – Kempten (Allgäu) vom 03.06.2022 wird verworfen.
III. Der Angeklagte wird dem Grunde nach verurteilt, an den Adhäsionskläger ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 03.06.2022 aufgrund des tätlichen Übergriffs vom 02.12.2019 zu bezahlen.
IV. Es wird festgestellt, dass der Angeklagte verpflichtet ist, dem Adhäsionskläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die in ursächlichem Zusammenhang mit dem tätlichen Übergriff des Angeklagten am 02.12.2019 – einer unerlaubten vorsätzlichen Handlung i.S. von § 823 I BGB – stehen.
V. Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens, die ihm entstandenen eigenen notwendigen Auslagen sowie die besonderen Kosten des Adhäsionsverfahrens und die dem Adhäsions- und Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Angewendete Vorschriften:
§§ 226 Abs. 1 Nr. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, 223 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 52 StGB
Entscheidungsgründe
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Der Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts – Schöffengericht – Kempten (Allgäu) vom 03.06.2022 wegen versuchter schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt. Zudem wurde dem Geschädigten … – dem Adhäsions- und Nebenkläger – ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 Euro zugesprochen, festgestellt dass dessen Forderung aus einer vorsätzlich unerlaubten Handlung herrührt sowie dass der Angeklagte dem Adhäsionskläger alle aus dem Geschehen vom 02.12.2019 resultierenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen hat.
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Die von dem Angeklagten eingelegte Berufung erwies sich als unbegründet, wohingegen sich die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung im Strafmaß als begründet erwies.
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Dem Adhäsionskläger war zudem dem Grunde nach ein angemessenes Schmerzensgeld zuzusprechen. Weiter war festzustellen, dass der Angeklagte dem Adhäsionskläger alle aus dem Geschehen vom 02.12.2019 resultierenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen hat.
Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse:
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Der 24-jährige, ledige Angeklagte ist afghanischer Staatsangehöriger und kinderlos. Der Angeklagte, dessen Mutter sowie seine drei Geschwister – zwei Schwestern und ein Bruder – noch in Afghanistan leben, wuchs bei seinen Eltern in Afghanistan auf und besuchte dort acht Jahre lang die Schule. Nebenbei half der Angeklagte seinem Vater – dieser war als Bauer tätig – bei dessen landwirtschaftlichen Tätigkeiten, wobei der Angeklagte seinen Vater bereits im Alter von 12 oder 13 Jahren verlor. Die Schule verließ der Angeklagte ohne Abschluss, erlernte nachfolgend auch keinen Beruf und reiste mithilfe von Schleusern als 17-Jähriger ohne seine Familie am 21.10.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Da dem Angeklagten im Inland entgeltliche Tätigkeiten untersagt wurden, verließ der Angeklagte am 01.09.2020 die Bundesrepublik wieder und begab sich in die Schweiz. Dort war der Angeklagte nach eigenen Angaben für mehrere Monate als „Sozialhelfer“ tätig und verdiente dort wöchentlich 56,00 CHF. Schulden hat der Angeklagte zwischen 6.000,00 Euro und 7.000,00 Euro die aus gewährten Privatdarlehen herrühren. Suchterkrankungen liegen bei dem Angeklagten keine vor.
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Der Angeklagte wurde am 03.12.2021 gegen 08:00 Uhr am Grenzübergang Waldshut im Rahmen einer „Dublin-Überstellung“ von den Schweizer Behörden an deutsche Bundespolizeibeamte übergeben und befindet sich in dieser Sache seit dem 03.12.2021 aufgrund Haftbefehl des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 25.09.2020, Gz.: 1 Gs 2979/20, sowie des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 29.12.2021, Az.: 32 Ls 420 Js 11423/20, in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt K. Einer Arbeitstätigkeit geht der mittlerweile gut Deutsch sprechende Angeklagte in der Justizvollzugsanstalt K. nicht nach.
Der Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 15.03.2023 weist für den Angeklagten keine Eintragungen auf.
Der festgestellte Sachverhalt:
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Am Abend des 02.12.2019 hielt sich der Angeklagte zusammen mit den Zeugen … und … im Zimmer des Zeugen … sowie in der Küche des siebten Stockwerks der Asylbewerberunterkunft in 8. K., … auf. Unabhängig vom Angeklagten und dessen Bekannten … und … hielt sich der zum damaligen Zeitpunkt 19-jährige Zeuge und Adhäsionskläger … – dieser war nicht in der Asylbewerberunterkunft wohnhaft – ebenso im siebten Stockwerk der Asylbewerberunterkunft aufgrund eines Besuchs in den Räumlichkeiten seiner Tante bzw. seiner Cousins – den Zeugen … und … – auf.
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Gegen 20:45 Uhr verließ der Adhäsionskläger das in der Nähe der Gemeinschaftsküche des siebten Stockwerks gelegene Zimmer seiner Tante, woraufhin der Angeklagte dem Adhäsionskläger auf dem Flur vor der Gemeinschaftsküche – der Angeklagte hatte den Adhäsionskläger offensichtlich abgepasst – unvermittelt, anlasslos und ohne rechtfertigenden Grund mit der rechten Hand einen wuchtigen Faustschlag in das Gesicht versetzte, wobei der Angeklagte hierbei einen länglichen und spitzen – möglicherweise metallenen – Gegenstand in der Hand hielt und diesen dem Adhäsionskläger bewusst in dessen linkes Auge stach. Nachdem der Geschädigte … daraufhin blutend und schreiend zu Boden ging, versetzte der Angeklagte dem auf dem Boden liegenden Geschädigten noch mindestens zwei wuchtige Faustschläge in das Gesicht.
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Aufgrund der Schreie des Geschädigten … eilten die Zeugen … und … aus ihren jeweiligen Zimmern in den Flur des siebten Stockwerks und fanden den Geschädigten … schreiend und stark blutend auf dem Boden des Flurs vor, während sich der Angeklagte stehend neben dem Geschädigten befand. Auf Veranlassung des Zeugen … verließ der Angeklagte sodann das siebte Stockwerk und begab sich wieder zurück in sein Zimmer im ersten Stockwerk, wo er durch die herbeigerufenen Polizeibeamten der Polizeiinspektion K. festgenommen werden konnte.
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Durch die wuchtigen Schläge des Angeklagten erlitt der Geschädigte … eine zentrale Mittelgesichtsfraktur links (Le Fort II) mit Beteiligung des orbitalen und maxillären Pfeilers (Orbitabodenfraktur, Fraktur der medialen Orbitawand, Fraktur der ventralen und medialen Kieferhöhlenwand, Nasenbeinimpressionsfraktur), periorbitale Hämatome, eine Einblutung in die Vorderkammer des linken Auges mit traumatischer Entgleisung des Augeninnendrucks, Schnitt- und Stichverletzungen der Augenlider, eine schwere Augapfelprellung, massive Schwellungen des Unter- und Oberlids links mit Abriss des Unterlids medial, eine teilluxierte Linse aufgrund einer verletzten Vorderkapsel sowie teils erhebliche Schmerzen über mehrere Wochen und Monate.
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Aufgrund der schweren Verletzungen befand sich der Geschädigte … zunächst im Zeitraum vom 02.12.2019 bis 09.12.2019 stationär im Klinikum K. sowie im Bundeswehrkrankenhaus Ulm, wo bei dem Geschädigten … noch am Morgen des 03.12.2019 eine Augapfelexploration mit Unterlidrekonstruktion und Versorgung der Schnittwunden sowie eine Intubation der Tränenwege erfolgte.
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Im Rahmen eines weitere stationären Aufenthaltes im Zeitraum vom 17.12.2019 bis 23.12.2019 wurde dem Geschädigten … im Bundeswehrkrankenhaus Ulm aufgrund der teilluxierten Linse in Intubationsnarkose eine Kunstlinse im linken Auge eingesetzt und am 20.12.2019 operativ die Reposition der Nasoethmoidalfraktur und der Nasenbeinfraktur mittels Osteosynthese durch Platten vorgenommen. Sechs Monate später erfolgte wiederum in Intubationsnarkose die Entfernung der zuvor eingesetzten Platten.
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Durch das gewaltsame Vorgehen des Angeklagten kam es bei dem Geschädigten … der eine vorbestehende Narbe im Randbereich der Makula des linken Auges hat, zu massiven Sehbeeinträchtigungen auf dessen linkem Auge. Der Visus des linkes Auges beim Geschädigten liegt nurmehr bei 0,25. Umrisse von Personen kann der Geschädigte noch erkennen, schwarz/weiß noch sehen bzw. unterscheiden. Eine Verbesserung des Zustandes ist zukünftig nicht zu erwarten, vielmehr besteht die Gefahr einer zeitnahen vollständigen Erblindung auf dem linken Auge.
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Aufgrund der Schwere der Augenverletzung mit Schnittverletzungen der Augenlider und schwerer Prellung des Augapfels mit Beeinträchtigung der Linse und anderer Augenbestandteile war es letztlich nur dem Zufall geschuldet, dass das linke Auge erhalten werden konnte. Ohne weiteres hätte es auch zu einer vollständigen Zerstörung des Augapfels und/oder auch zu verletzungsbedingten Netzhautablösungen aufgrund der Druckverhältnisse im Augeninneren kommen können. Die wuchtigen Schläge gegen den Kopf des Geschädigten … waren zudem geeignet, lebensgefährdende Verletzungen beim Geschädigten herbeizuführen. Infolge der Schläge hätte es unter anderem zu Blutungen im Schädelinneren (Kontusionsblutungen in der Hirnrinde) kommen können, die zu einem zentralen Regulationsversagen hätten führen können. Auch hätten Gefäße verletzt werden können, sodass es zu Blutungen unter die harte Hirnhaut (Subduralhämatom) hätte kommen können, mit der Folge einer Volumenzunahme im Schädelinneren und damit zu einer Hirndrucksteigerung. Eine solche hätte wiederum zu einem Regulationsversagen und damit zum Tode führen können.
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Die schweren Verletzungen des Geschädigten … nahm der Angeklagte – der zuvor keine alkoholischen Getränke oder illegale Betäubungsmittel zu sich genommen hatte – ebenso billigend in Kauf, wie den Umstand, dass die Tathandlungen geeignet waren lebensgefährliche Verletzungen beim Geschädigten … herbeizuführen, als auch den Umstand, dass der Geschädigte das Sehvermögen auf dem linken Auge gänzlich verliert.
Die Beweistatsachen und die Beweiswürdigung:
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1. Die Feststellungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten beruhen auf dessen im Rahmen der öffentlichen Sitzung am 20.04.2023 gemachten Angaben. Die Feststellung dahingehend, dass der Angeklagte nicht vorbestraft ist, beruht auf der Verlesung des Bundeszentralregisterauszuges vom 15.03.2023.
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2. Die Feststellungen zum Sachverhalt unter III. beruhen auf der ausweislich der Protokolle über die Hauptverhandlung vom 29.03.2023, 20.04.2023, 11.05.2023 und 24.05.2023 durchgeführten Beweisaufnahme.
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Der Angeklagte gab an, dass er am Abend des 02.12.2019 in der Asylbewerberunterkunft in K. im achten Stock mit dem Zeugen … habe kochen wollen. Im achten Stock sei zwar eine Küche vorhanden, jedoch sei der Herd defekt gewesen. Sie seien dann zusammen in die Küche des siebten Stocks gegangen und hätten ihre Sachen dorthin mitgenommen. Dort habe man den Zeugen … getroffen und vereinbart, in dessen Zimmer im siebten Stock zu essen. Nachdem das Essen noch nicht fertig gewesen sei und er sein Handy in seinem Zimmer im ersten Stock vergessen hatte, habe er sich vom Zeugen … den Schlüssel geben lassen und sei in den ersten Stock zurückgegangen um sein Handy zu holen. Anschließend sei er in das Zimmer des Zeugen … zurückgegangen und dann habe er aus der Küche den Reis geholt und sei später nochmal in die Küche zurück, um noch zwei Töpfe mit Essen zu holen. Dabei habe er im Gang vor der Küche den Zeugen … gesehen. Dieser habe ihn gefragt, was er hier mache und warum er hier kochen würde. Er habe ihm erklärt, dass der Herd im achten Stock defekt sei. Der Zeuge … habe ihm gesagt, dass er hier nicht kochen dürfe, wobei er ihm entgegnet habe, dass ihn das nichts angehen würde. Daraufhin sei er vom Zeugen … angegriffen worden, dieser habe ihn schlagen wollen. Drei bis vier Mal habe der Geschädigte ihn „geschlagen, jedoch nicht getroffen“. Er selbst habe sich auch gewehrt und habe den Zeugen … auch schlagen wollen, jedoch „auch nicht getroffen“. Warum keiner von ihnen beiden getroffen habe, könne er nicht sagen. Daraufhin habe sich der Zeuge … umgedreht und sei in die Gemeinschaftsküche des siebten Stocks gegangen. Der Zeugen habe etwas metallenes aus der Küche holen wollen. Daraufhin habe er dem Zeugen in den unteren Rückenbereich getreten, wobei der Tritt aber nicht so stark gewesen sei. Eine Reaktion darauf habe der Zeuge … nicht gezeigt. Der Zeuge habe dann aus dem Regal neben der Tür der Küche ein Metallstück geholt und sei damit auf ihn „losgegangen“. Um was für ein Metallstück es sich genau gehandelt habe, wisse er nicht, es könne sich aber um einen Schlossriegel handeln. Er wisse aber nicht, wo dieser gelegen habe. Da der Zeuge … nur noch ca. 2 m von ihm entfernt gewesen sei, habe er dann sein Smartphone auf den Zeugen geworfen. Ob – und wenn ja wo – er getroffen habe, wisse er nicht, er habe da nicht hingeschaut. Der Zeuge habe sich aber dann mit beiden Händen die Augen gehalten. Der Geschädigte sei dann auf dem Boden gelegen und weiter habe niemand etwas gemacht. Der Geschädigte habe immer wieder geschrien „mein Auge, mein Auge“ und dass er sein Auge kaputt gemacht habe. Nach dem Handywurf habe er dieses auch wieder aufgehoben. Er habe dem Geschädigten helfen wollen, wobei auch der Zeuge … und die Zeugen … aus den Zimmern gekommen seien. Er selbst sei durcheinander gewesen und von der Tante des Geschädigten geschlagen worden. Auch die Zeugen … hätten ihn geschlagen und aus dem Raum herausgezogen. Er sei dann in sein Zimmer im 1. Stock zurückgegangen und ca. 1/4 Stunde später sei die Polizei gekommen. Es könne sein, dass sich der Zeuge die Verletzungen selbst zugefügt hat um ihm zu schaden. Er glaube die Angaben des Geschädigten nicht, denn „wenn man in Auge sticht, ist Auge weg!“. Wahrscheinlich sei der Zeuge … davon ausgegangen, dass wenn ihm geglaubt werde, er – der Angeklagte – dann abgeschoben werde.
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Der Adhäsionskläger … schilderte, dass er am Abend des 02.12.2019 bei seiner Tante im siebten Stock in der Gemeinschaftsunterkunft im Freudental in K. zu Besuch gewesen sei. Bei seiner Ankunft habe er den Angeklagten kurz in der Küche des siebten Stocks festgestellt, man habe sich sogar noch gegrüßt. Er sei dann zu seiner Tante in eines ihrer Zimmer und habe später das Zimmer im siebtem Stock wechseln wollen. Seine Tante habe dort zwei Zimmer. Er sei aus dem Zimmer herausgekommen und habe im Flur vor der Gemeinschaftsküche sofort einen Faustschlag in das Gesicht bekommen. Er habe zunächst überhaupt nicht mitbekommen, wer ihn da geschlagen habe, sondern sofort etwas metallenes in seinem linken Auge gespürt. Er sei sofort zu Boden gegangen und habe dort liegend noch mehrere Schläge in das Gesicht abbekommen. Wie viele Schläge genau könne er nicht sagen. Er habe zu keinem Zeitpunkt etwas metallenes gesehen, sondern nur in seinem Auge derartiges gespürt. Er habe sein linkes Auge sofort nicht mehr aufmachen können, habe sofort stark geblutet und nur noch vor Schmerzen geschrien. Er habe auch geschrien, dass er blind geworden sei und dass der Angeklagte sein Auge kaputt gemacht habe. Er selbst habe am Abend des 02.12.2019 keinerlei Gewalt gegen den Angeklagten angewendet. Er habe diesen nicht geschlagen, dieses nicht versucht und der Angeklagte habe ihn auch nicht in den Rücken getreten. Er selbst habe den Angeklagten zu keinem Zeitpunkt angegriffen. Auch einen Schlossriegel oder derartiges habe er zu keinem Zeitpunkt in den Händen gehabt. Der Angeklagte habe auch kein Handy auf ihn geworfen. Er selbst habe den ersten Schlag gar nicht kommen sehen, er wisse auch nicht, ob es sich um ein spitzes oder breites Stück Metall gehandelt habe. Es seien dann mehrere Personen aus den Zimmern gekommen, wobei er nicht sagen könne, wer gekommen sei.
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Er habe durch die Schläge in sein Gesicht und in das Auge mehrere Frakturen im Gesicht erlitten. Seine Nase und seine Wange seien gebrochen gewesen. Eine künstliche Linse sei bei ihm im linken Auge eingesetzt worden und an den Tränensäcken habe er genäht werden müssen. Mehrmals sei er in Ulm operiert worden, wobei bei der dritten Operation auch die Platten in seinem Gesicht entfernt worden seien. Er habe damals „sehr sehr starke Schmerzen“ gehabt und habe diese teils immer noch in seinem Gesicht. Er sehe auf dem linken Auge kaum noch etwas, vielleicht 20 %. Er könne zwar Umrisse von Personen erkennen, jedoch die Personen selbst nicht. Es werde alles immer schlimmer, wobei er Farben auch nicht mehr unterscheiden könne. Schwarz/weiß könne er noch sehen bzw. unterscheiden. Er benötige oft Augentropfen, da er sehr stark auf Staub reagiere. Auf der linken Wange komme es oft zu Taubheitsgefühlen und Schwellungen. Nachts könne er nicht mehr Auto fahren. Auch hätten ihm die Ärzte gesagt, dass der Zustand bei seinem linken Auge sich in Zukunft verschlechtern werde. Vor dem Vorfall habe er zu keinem Zeitpunkt Probleme mit seinen Augen gehabt. Er habe immer sehr gut gesehen und zu keinem Zeitpunkt eine Brille oder Kontaktlinsen getragen. Er habe Farben immer sehen können und zu keinem Zeitpunkt eine Sehschwäche gehabt. Im Jahr 2018 habe er noch einen Sehtest für seine Führerscheinprüfung gemacht, wobei er den Sehtest bestanden und den Führerschein bekommen habe.
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Der Zeuge … berichtete, dass der Geschädigte … am 02.12.2019 in die Asylbewerberunterkunft gekommen sei und sie besucht habe. Er und sein Bruder seien Cousins vom Geschädigten … und hätten sich im siebten Stock aufgehalten. Der Geschädigte sei dann zu irgendeinem Zeitpunkt rausgegangen und habe die Tür zugemacht. Nur ganz kurze Zeit danach habe er Schreie vom Geschädigten gehört und sei dann auch aus dem Ziffer herausgerannt. Er habe seinen Cousin am Boden liegen sehen, wobei alles voller Blut gewesen sei. Der Geschädigte habe um Hilfe geschrien und geschrien, dass sein Auge „geplatzt sei“. Der Angeklagte sei zu diesem Zeitpunkt rechts neben dem Kopf des Geschädigten gestanden: Er glaube, dass sein Cousin kurz bewusstlos gewesen sei. Er habe gesehen, dass der Angeklagte in der rechten Hand etwas gehalten habe, er könne jedoch nicht genau angeben, was dies gewesen sei. Er glaube, dass es sich um einen metallenen Gegenstand gehandelt habe. Er selbst sei auch unter Schock gestanden und habe dem Angeklagten gesagt, dass er gehen soll. Gegenstände am Boden habe er nicht gesehen, auch ein Handy beim Angeklagten habe er nicht wahrgenommen. Der Geschädigte … selbst habe nichts in der Hand gehabt.
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Der Zeuge … schilderte, dass er zusammen mit seinem Bruder … und dem Geschädigten in einem Zimmer im siebten Stock gewesen sei. Der Geschädigte sei aus dem Zimmer hinaus gegangen und habe die Tür zugemacht. Unmittelbar darauf habe er Schreie gehört und sei nach seinem Bruder aus dem Zimmer gerannt. Sein Cousin sei auf dem Boden gelegen und habe furchtbar geblutet und der Angeklagte sei ca. einen Meter neben dem Geschädigten auf der rechten Seite gestanden. Er selbst habe ein Handy beim Angeklagten nicht wahrgenommen, er habe auch nicht gesehen, ob der Angeklagte sonst etwas in den Händen gehalten habe. Er glaube zwar, dass der Angeklagte etwas in der Hand gehalten habe, wisse dies jedoch nicht mehr genau. Er und sein Bruder hätten den Angeklagten dann angeschrien, warum er das gemacht habe. Daraufhin habe der Angeklagte nur gemeint, dass er – der Geschädigte – das verdient habe.
22
Der Zeuge … berichtete, dass er zusammen mit dem Angeklagten und dem Zeugen … am 02.12.2019 im siebten Stock der Gemeinschaftsunterkunft im Freudental in K. gekocht habe. Man habe im achten Stock nicht kochen können, da der Herd dort kaputt gewesen sei. Er sei dann zusammen mit dem Angeklagten und dem Zeugen … in seinem Zimmer gewesen, wobei der Angeklagte sein Handy habe holen wollen. Der Angeklagte sei dann nochmal wiedergekommen und habe dann das Zimmer erneut verlassen. Plötzlich habe man den Geschädigten … schreien gehört und er sei aus dem Zimmer rausgerannt. Der Geschädigte sei auf dem Boden gelegen und der Angeklagte sei daneben gestanden. Er glaube, dass der Angeklagte ein weißes Handy in der Hand gehalten habe. Der Geschädigte habe geblutet und geschrien. Schläge oder Tritte habe er nicht gesehen. Der Angeklagte habe später zu ihm gesagt, dass der den Geschädigten mit dem Handy geschlagen habe. Alkohol habe der Angeklagte an dem Abend nicht getrunken.
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Der Zeuge … gab an, dass er zusammen mit dem Angeklagten und dem Zeugen … im siebten Stock der Gemeinschaftsunterkunft in K. gekocht habe. Der Herd im achten Stock sei kaputt gewesen und deshalb habe man im siebten Stock gekocht. Der Angeklagte habe das Zimmer einmal verlassen, um sein Handy aus dem ersten Stock zu holen, sei dann jedoch zurückgekommen. Der Angeklagte habe dann das Zimmer erneut verlassen, um das Essen zu holen. Nachdem der Angeklagte rausgegangen sei, habe er sofort danach plötzlich Schreie gehört. Er sei dann zusammen mit dem Zeugen … aus dem Zimmer gegangen und der Geschädigte … sei auf dem Boden gelegen. Auch die Zeugen … seien aus dem Zimmer gekommen. Er selbst habe beim Angeklagten weder einen Gegenstand in der Hand noch ein Handy gesehen. Der Geschädigte habe auf dem Boden gelegen und stark geblutet. Die Zeugen … hätten den Angeklagten später auch angegriffen. Genaueres könne er jetzt jedoch nicht mehr sagen.
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Die Polizeibeamtin … berichtete, dass sie die Sachbearbeitung hinsichtlich der Auseinandersetzung vom 02.12.2019 in der Asylbewerberunterkunft in K. übernommen habe. Am 02.12.2019 sei es im 7. Stock der Asylbewerberunterkunft zu einem tätlichen Angriff gekommen, wobei das Tatwerkzeug im Zuge der Ermittlungen nicht habe aufgefunden werden können. Eine Täterbeschreibung sei von dem Zeugen … gekommen, so dass der Angeklagte dann habe festgenommen werden können. Sämtliche Bekleidungsstücke des Angeklagten sowie des Geschädigten seien sichergestellt worden. Nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft sei aber nur die Oberbekleidung des Geschädigten … untersucht worden. DNA-Spuren des Angeklagten seien auf dieser nicht festgestellt worden. Ein beim Angeklagten durchgeführter Alkohol- und Drogentest sei negativ ausgefallen. Während des Transports des Angeklagten zur Dienststelle habe der Angeklagte auch geäußert, dass er mit seinem Mobiltelefon zugeschlagen habe. Der Angeklagte habe sich nach der Tat in die Schweiz abgesetzt und sei dann über eine Dublin-Überstellung wieder nach Deutschland gekommen. Aufgrund des dann auch bestehenden Haftbefehls sei der Angeklagte an der Grenze am 03.12.2021 festgenommen und in die JVA verbracht worden.
25
Der Polizeibeamte … schilderte, dass er vom Kriminaldauerdienst augrund einer Auseinandersetzung am 02.12.2019 in die Asylbewerberunterkunft gerufen worden sei. Der Angeklagte sei zu diesem Zeitpunkt bereits festgenommen gewesen und der Geschädigte habe sich im Krankenhaus befunden. Hauptaufgabe sei gewesen, das Tatwerkzeug zu suchen. Nach Angaben von Zeugen habe es sich um ein ca. 10 cm langes schwarzes Werkstück gehandelt. Von welchen Zeugen diese Angaben herrührten, könne er nicht mehr sagen. Trotz des Einsatzes eines Diensthundeführers habe das Tatwerkzeug jedoch nicht aufgefunden werden können.
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Der Polizeibeamte … gab an, dass am 02.12.2019 mehrere Streifen in die Asylbewerberunterkunft in K. gerufen worden seien. Er sei zusammen mit der Kollegin … die erste Sreife beim Geschädigten … im 7. Stock gewesen. Der Geschädigte sei blutend am Boden gelgen, habe sich mit einem Tuch o. ä. das Gesicht gehalten und vor Schmerzen geschrien. Er habe versucht den Geschädigten zu beruhigen, als man auf den gerufenen Rettungsdienst gewartet habe. Einen Tatzeugen habe man nicht ausfindig machen können, auch seien keine Gegenstände am Tatort herumgelegen. Der Geschädigte habe mit Ausnahme des Tuches auch nichts in den Händen gehalten. Einen Kontakt mit dem Angeklagten habe es nicht gegeben.
27
Die Polizeibeamtin … schilderte, dass ihre Streife aufgrund einer Körperverletzung durch ein Messer in die Asylbewerberunterkunft nach K. gerufen worden sei. Streifen der Verkehrspolizeiinspektion seien bereits vor Ort gewesen und einer von den … Brüdern. Der Zeuge … habe sie und Kollegen von der Verkehrspolizei zum Zimmer des Angeklagten im ersten Stock der Unterkunft geführt. Man habe dort dann geklopft und der Angeklagte habe die Tür geöffnet. Da man nicht gewusst habe, ob der Angeklagte bewaffnet ist, habe man diesen dann an den Armen aus dem Zimmer gezogen und gefesselt. Den Angeklagten habe man dann einer anderen Streife übergeben, die den Angeklagten in die Dienststelle verbracht habe. An den Händen des Angeklagten sei ihr nichts aufgefallen. Aus den Angaben der Zeugen habe sich später ergeben, dass es sich bei der Tatwaffe um einen selbst gefertigten Metallstift handeln soll. Da sie noch vor Ort gewesen sei, habe sie auch nach diesem gesucht, einen solchen aber nicht gefunden.
28
Aus den verlesenen Angaben des Zeugen … ergab sich, dass der Angeklagte nach Belehrung bei der Fahrt zur Dienststelle der Polizeiinspektion K. geäußert haben soll, dass er bei der Auseinandersetzung kein Messer bei sich gehabt habe, sondern den Geschädigten mit der rechten Faust geschlagen, und dabei sein Mobiltelefon – ein weißes iPhone – in der Hand gehabt habe. Daraufhin sei das Mobiltelefon sichergestellt worden. Die Bekleidung des Angeklagten sei sichergestellt worden, auch habe der Angeklagte angegeben, dass er weder Alkohol noch sonstige berauschende Mittel konsumiert habe. Der freiwillige Atemalkoholtest habe um 21:25 Uhr einen Wert von 0,00 mg/l ergeben.
29
Der einvernommene Sachverständige … – Medizinaldirektor und Gerichtsarzt an dem Oberlandesgericht München – erläuterte, dass es am 02.12.2019 zu ganz erheblichen Gesichtsverletzungen des Adhäsionsklägers gekommen ist. Man könne angesichts der Art der erlittenen Gesichtsverletzungen eine scharfe Gewalteinwirkung und zumindest zwei weitere stumpfe Gewalteinwirkungen in das Gesicht des Adhäsionsklägers feststellen bzw. unterscheiden. Hinsichtlich des Verletzungsbildes des linken Auges müsse zunächst von einem scharfen, relativ spitzen Gegenstand ausgegangen werden. Nur so seien die Schnitt- und Stichverletzungen an den Augenlidern des Adhäsionsklägers zu erklären. Durch den Wurf eines Smartphones – wie vom Angeklagten angegeben – wäre allenfalls die diagnostizierte schwere Augapfelprellung mit Beeinträchtigung der Linse zu erklären. Gleiches gelte für einen Schlossriegel. Diese doch eher breiteren – und auch teils in Augenschein genommenen Gegenstände (Smartphone) – seien aber nicht geeignet, um Schnitt- und Stichverletzungen der Augenlider zu verursachen. Weiter sei angesichts der zentralen Mittelgesichtsfraktur links mit Beteiligung des orbitalen und maxillären Pfeilers (Orbitabodenfraktur, Fraktur der medialen Orbitawand, Fraktur der ventralen und medialen Kieferhöhlenwand, Nasenbeinimpressionsfraktur) von zumindest zwei weiteren massiven stumpfen Gewalteinwirkungen in das Gesicht des Adhäsionsklägers auszugehen. Angesichts der Ausführungen des Adhäsionsklägers dahingehend, dass er am Boden liegend weiter geschlagen worden sei, müsse angesichts der Vielzahl der feststellbaren Frakturen von mindestens zwei – weiteren – massiven Tätlichkeiten ausgegangen werden. Alleine mit der ersten Tätlichkeit seien die Verletzungen des Adhäsionsklägers nicht zu erklären, schon gar nicht durch den Wurf eines Mobiltelefons.
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Auch seien die mittlerweile vorhandenen erheblichen Sehbeeinträchtigungen des Adhäsionsklägers auf die am 02.12.2019 erlittene schwere Verletzung des linken Auges zurückzuführen. Die Angaben des Adhäsionsklägers, er habe vor dem Vorfall am 02.12.2019 an keinerlei Sehbeeinträchtigungen gelitten, keine Sehhilfen benötigt und noch im November 2018 den Sehtest für die Führerscheinprüfung bestanden – als richig unterstellt – gebe es keine medizinische Erklärung dafür, warum der Adhäsionskläger nun an derartigen Sehbeeinträchtigungen leiden sollte. Die bereits vorbestehende Narbe auf der Makula müsse angesichts deren Randlage bei dem Adhäsionskläger bislang keine Beeinträchtigungen hervorgerufen haben.
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Die Kammer hat letztlich angesichts der glaubhaften und nachvollziehbaren Angaben der einvernommenen Zeugen … und … sowie der nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen … – dessen Ausführungen macht sich die Kammer nach eigener kritischer Prüfung zu Eigen – keine Zweifel daran, dass der Angeklagte am 02.12.2019 den Geschädigten … auf dem Flur vor der Gemeinschaftsküche im siebten Stock der Asylbewerberunterkunft in K. unvermittelt und anlasslos mittels eines spitzen – wohl metallenen – Gegenstandes zunächst attackiert und anschließend durch weitere Faustschläge schwer verletzt hat.
32
Die durch den Adhäsionskläger im Rahmen der öffentlichen Sitzung am 29.03.2023. getätigten Angaben sind insoweit im wesentlichen identisch mit den im Rahmen der polizeilichen Vernehmungen am 18.12.20219 und 12.02.2020 sowie mit den im Rahmen der öffentlichen Sitzung vor dem Amtsgericht K. am 03.06.2022 gemachten Äußerungen. Der Adhäsionskläger gab jeweils an, dass er den ersten Schlag des Angeklagten – und damit auch den Täter – zunächst gar nicht habe kommen sehen, er aber sofort bei dem ersten Schlag „etwas metallenes“ in seinem linken Auge gespürt habe. Der Angeklagte habe danach noch weiter zugeschlagen und er habe gedacht, sein Auge sei „geplatzt“.
33
Trotz der erlittenen, massiven Verletzungen und des sich wohl zukünftig eher verschlechternden gesundheitlichen Zustandes konnte ein Belastungseifer des Adhäsionsklägers bei dessen Angaben durch die Kammer letztlich nicht erkannt werden. Vielmehr bemühte sich der Geschädigte … um eine genaue Wiedergabe der schon längere Zeit zurückliegenden Ereignisse.
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Auch konnte die Kammer im Rahmen der Würdigung der Angaben der einvernommenen Zeugen … und … keine relevanten Widersprüche zu den Angaben des Geschädigten ausmachen. Vielmehr äußerte sich der Zeuge … im Rahmen der ersten polizeilichen Vernehmung dahingehend, dass der Angeklagte ein Messer in der Hand gehalten und damals auf den Vorhalt der Brüder … warum er den Adhäsionskläger verletzt habe, geäußert habe, dass dies der Adhäsionskläger verdient gehabt hätte. Der Zeuge E. … gab im Rahmen seiner ersten polizeilichen Vernehmung am 02.12.2019 an, dass der Angeklagte am 02.12.2019 einen Schlüsselbund in der Handfläche gehalten habe, aus der ein schwarzer Metallstift herausgeschaut habe. Dieser Metallstift sei bei der Festnahme des Angeklagten nicht mehr am Schlüsselbund gewesen. Dies habe er sehen können, da er den Polizeibeamten das Zimmer des Angeklagten gezeigt habe.
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Die Angaben des Adhäsionsklägers sowie die Angaben des Zeugen … korrespondieren letztlich aber gerade auch mit den Feststellungen des Sachverständigen … wonach ein scharfer, relativ spitzer Gegenstand bei der Tat verwendet worden sein müsse, um die bei dem Adhäsionskläger festgestellten Verletzungen an den Lidern des linken Auges herbeiführen zu können.
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Demgegenüber vermag die Kammer den Angaben des Angeklagten keinen Glauben zu schenken. Abgesehen davon, dass das Verletzungsmuster hinsichtlich der Verletzungen des Adhäsionsklägers nicht mit den Ausführungen des Angeklagten in Einklang zu bringen ist, sind die wenig nachvollziehbaren und bereits in sich widersprüchlichen Angaben des Angeklagten nicht geeignet, ein vergangenes Geschehen nachvollziehbar darzustellen. Der Angeklagte vermochte weder zu erklären, warum der ihn angreifende Adhäsionskläger ihn nicht getroffen hat, noch warum er selbst – obwohl er sich gewehrt habe – den Angeklagten mit den offensichtlich ausgeführten Schlägen auch nicht getroffen hat. Erstmals im Rahmen der Berufungshauptverhandlung schilderte der Angeklagte, dass der angeblich vom Adhäsionskläger in der Hand gehaltene Gegenstand ein Schlossriegel gewesen sein könne, ohne näher darlegen zu können, wieso diese an sich fest montierte Verriegelung in einem Regal in der Küche der Gemeinschaftsunterkunft verwahrt werden sollte. Auch konnte der Angeklagte nicht erklären, warum er gewusst habe, dass der Adhäsionskläger etwas metallenes aus der Küche habe holen wollen. Auch die Darstellung des Angeklagten, er habe nach dem Wurf seines Smartphone nicht gesehen, ob – und wenn ja wo – das Smartphone den Adhäsionskläger getroffen hat, da „er da nicht hingeschaut habe“, vermag angesichts des durch den Angeklagten geschilderten – wohl – emotionalen Geschehens und des angeblich aggressiven Adhäsionsklägers nicht zu überzeugen, zumal hierdurch auch die weiteren massiven Gesichtsverletzungen des Adhäsionsklägers nicht erklärt werden können.
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Weiter wies auch das in Augenschein genommene Smartphone des Angeklagten keinerlei Beschädigungen auf, die die durch den Angeklagten vorgetragene Sachverhaltsschilderung plausibel hätte machen können. Einzig in den winzigen Spalten der „runden Ecken“ des Mobiltelefons konnten teils „innenliegende“ minimale Absplitterungen festgestellt werden.
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Dass an den Händen des Angeklagten keine Spuren von den zuvor stattgefundenen Tätlichkeiten zu erkennen waren, vermag den Angeklagten ebenso wenig zu entlasten wie der Umstand, dass DNA-Spuren des Angeklagten auf der Oberbekleidung des Geschädigten nicht festgestellt werden konnten. Abgesehen davon, dass der Angeklagte nach dem Übergriff auf den Adhäsionskläger noch alleine in sein Zimmer der Asylbewerberunterkunft gehen und sich dort hätte waschen können und dass auch angesichts der Ausführungen des Sachverständigen nicht zwingend Spuren an den Händen des Angeklagten nach erfolgten Faustschlägen zu sehen sein müssen, richteten sich die Tätlichkeiten des Angeklagten ausschließlich gegen das Gesicht des Adhäsionsklägers.
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Hinzu kommt, dass die einvernommenen Zeugen … und … allensamt davon berichtet haben, dass entweder der Adhäsionskläger (Zeugen … oder der Angeklagte (Zeugen … und … das jeweilige Zimmer verlassen hatten und bereits sehr kurze Zeit danach Schmerzensschreie des Adhäsionsklägers zu vernehmen waren. Dass vom Angeklagten isoweit geschilderte, zwangsläufig länger andauernde Geschehen, ist mithin mit den Angaben der Zeugen … und … nicht in Einklang zu bringen.
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Die weitergehenden Feststellungen zur potentiellen Lebensgefährlichkeit der Tätlichkeiten des Angeklagten, zur Ursächlichkeit der schweren Sehbeeinträchtigungen des Adhäsionsklägers und einer möglichen Erblindung auf dem linken Auge beruhen auf den in sich schlüssigen, fundierten, widerspruchsfreien und nachvollziehbaren Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen … denen sich die Kammer nach eigener kritischer Würdigung unter Berücksichtigung der nach Ansicht der Kammer in jeder Hinsicht glaubhaften Angaben des Adhäsionsklägers anschließt und zu Eigen macht.
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Der Sachverständige erklärte nachvollziehbar, dass die am 02.12.2019 erlittene schwere Verletzung des linken Auges bei dem Geschädigten … zu einer akuten Verminderung der optimalen Sehschärfe führte. Der Visus des linkes Auges beim Geschädigten … liege mittlerweile nurmehr bei 0,25. Die bei dem Geschädigten vorbestehende Narbe auf der Makula habe bei dem Geschädigten bis zu dem gegenständlichen Vorfall keinerlei Schwierigkeiten verursacht und zu keinerlei Sehbeeinträchtigen geführt, so dass die ganz erhebliche Augenverletzung vom 02.12.2019 die einzige nachvollziehbare Ursache für die schwerwiegenden Sehbeeinträchtigungen des Adhäsionsklägers darstellen würde. Vorbestehende Krankheiten des Adhäsionsklägers oder Traumata seien nicht bekannt. Auch habe der Adhäsionskläger bislang nach eigenen Angaben keine Beeinträchtigungen der Sehfähigkeit festgestellt und sei zudem bislang weder auf Kontaktlinsen noch auf eine Brille angewiesen gewesen. Auch den Sehtest für die Führerscheinprüfung im November 2018 habe der Adhäsionskläger bestanden. Eine zukünftige Verbesserung dieses Zustandes sei trotz des noch jungen Alters des Adhäsionsklägers nicht zu erwarten, vielmehr bestehe die realistische Gefahr einer zeitnahen vollständigen Erblindung auf dem linken Auge.
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Aufgrund der Schwere der Augenverletzung mit Schnittverletzungen der Augenlider und Prellung des Augapfels mit Beeinträchtigung der Linse und anderer Augenbestandteile sei es nur dem Zufall geschuldet, dass das linke Auge habe erhalten werden können. Ohne weiteres hätte es auch zu einer vollständigen Zerstörung des Augapfels und/oder auch zu verletzungsbedingten Netzhautablösungen aufgrund der Druckverhältnisse im Augeninneren kommen können.
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Die wuchtigen Schläge gegen den Kopf des Adhäsionsklägers seien geeignet gewesen, lebensgefährliche Verletzungen bei diesem herbeizuführen. Infolge der Schläge hätte es unter anderem zu Blutungen im Schädelinneren (Kontusionsblutungen in der Hirnrinde) kommen können, die zu einem zentralen Regulationsversagen hätten führen können. Auch hätten Gefäße verletzt werden können, sodass es zu Blutungen unter die harte Hirnhaut (Subduralhämatom) hätte kommen können, mit der Folge einer Volumenzunahme im Schädelinneren und damit zu einer Hirndrucksteigerung. Eine solche hätte wiederum zu einem Regulationsversagen und damit zum Tode führen können.
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Im Übrigen ergaben sich die getroffenen Feststellungen aus den in Augenschein genommenen Lichtbildern der Polizeiinspektion K. vom 02.12.2019 und den in Augenschein genommenen, ausgedruckten Lichtbildern eines Schlossriegels, den verlesenen Arztberichten des Klinikum K. vom 02.12.2019, des Bundeswehrkrankenhauses Ulm vom 03.12.2019, 23.12.2019 und 02.01.2020 und der Augenklinik K. vom 22.01.2020, sowie aus der verlesenen Sehtest-Bescheinigung des Allgäuer Bildungswerks vom 24.11.2018.
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Der Angeklagte hat sich daher der versuchten schweren Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß den §§ 226 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, 223 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 52 StGB strafbar gemacht. Eine vollendete schwere Körperverletzung lag angesichts des Visus des linkes Auges beim Geschädigten von derzeit 0,25 und der teils noch vorhandenen Sehleistung nicht vor.
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Die Kammer hat angesichts des brutalen Vorgehens des Angeklagten und der festgestellten wuchtigen Tätlichkeiten in das Gesicht des Adhäsionsklägers keine Zweifel daran, dass der – zum Tatzeitpunkt in keinster Weise beeinträchtigte – Angeklagte die schweren Verletzungen des Geschädigten A. ebenso billigend in Kauf genommen hat, wie den Umstand, dass die Tathandlungen geeignet waren, lebensgefährdende Verletzungen beim Geschädigten herbeizuführen.
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Der Angeklagte hat aber ebenso zumindest billigend in Kauf genommen, dass der Adhäsionskläger das Sehvermögen auf dem linken Auge gänzlich verliert. Abgesehen davon, dass der Angeklagte wuchtig bewusst einen – wohl metallenen – spitzen Gegenstand in das linke Auge des Adhäsionsklägers gestochen hat, wobei möglicherweise allein die Dynamik des Geschehens noch schwerwiegendere Verletzungen des Geschädigten verhinderte, zeigt gerade auch die Äußerung des Angeklagten im Rahmen der Hauptverhandlung: „Wenn man in Auge sticht, ist Auge weg!“, dass dem Angeklagten die Gefährlichkeit der festgestellten ersten Tätlichkeit durchaus bewusst war.
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Der Kammer stand unter Berücksichtigung von § 52 Abs. 2 StGB gemäß § 226 Abs. 1 StGB ein Strafrahmen zur Verfügung, der Freiheitsstrafe von 1 Jahr bis zu 10 Jahren vorsieht. In minder schweren Fällen sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 5 Jahren vor.
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Nach Abwägung und Gewichtung sämtlicher zu Gunsten und zu Lasten des Angeklagten zu berücksichtigender Umstände war vorliegend nicht von einem solchen Überwiegen der zu seinen Gunsten zu wertenden Aspekte auszugehen, dass die Bestrafung der Tat unter Heranziehung des Regelstrafrahmens aus Sicht der Kammer unangemessen erschien. Ein minder schwerer Fall lag somit nicht vor.
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Insoweit hat die Kammer bei der Prüfung des minder schweren Falls zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass
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der Angeklagte strafrechtlich bislang nicht in Erscheinung getreten ist;
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die Tat mittlerweile über 3 Jahre und 5 Monate zurückliegt;
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sich der Angeklagte seit dem 03.12.2021 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt K. befindet.
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Zu Lasten des Angeklagten hat die Kammer hierbei berücksichtigt, dass
- der Angeklagte mit mehreren massiven Tätlichkeiten auf den Adhäsionskläger eingewirkt und diesem hierbei eine Vielzahl an schweren Gesichtsverletzungen zugefügt hat, die mittels mehrerer stationärer Klinikaufenthalte und Operationen ärztlich versorgt werden mussten, wobei der Adhäsionskläger auch über drei Jahre nach der Tat noch unter Schmerzen leidet.
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Bei Abwägung dieser zu berücksichtigenden Aspekte überwogen die für den Angeklagten sprechenden Umstände den Umstand der gegen den Adhäsionskläger gerichteten massiven Tätlichkeiten unter Berücksichtigung der erlittenen schweren Gesichtsverletzungen nach Ansicht der Kammer nicht derart, dass der Regelstrafrahmen unangemessen hoch erschien. Die Annahme eines minder schweren Falls kam daher nicht in Betracht.
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Auch unter Berücksichtigung des vertypten Milderungsgrundes des § 23 Abs. 2 StGB, dass die Tat des Angeklagten hinsichtlich des Verlustes des Sehvermögens auf dem linken Auge des Geschädigten nicht zur Vollendung gelangte, da der Visus diesbezüglich trotz der Stichverletzung noch bei 0,25 liegt, kommt die Annahme eines minder schweren Falls unter Berücksichtigung des unvermittelten massiven Gewaltausbruchs des Angeklagten und des Umstandes, dass eine vollständige Zerstörung des Augapfels oder weitergehende Netzhautablösungen letztlich nur zufällig unterblieben sind, nicht in Betracht.
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Eine Strafrahmenverschiebung gemäß den §§ 22, 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB hat die Kammer abgelehnt. Grundsätzlich hat die Strafrahmenwahl bei einem Versuch unter Berücksichtigung aller schuldrelevanten Umstände zu erfolgen, wobei das Tatgericht neben der Persönlichkeit des Täters die Tatumstände im weitesten Sinne und dabei vor allem die versuchsbezogenen Gesichtspunkte, namentlich die Nähe zur Tatvollendung, die Gefährlichkeit des Versuchs und die eingesetzte kriminelle Energie in einer Gesamtschau umfassend zu würdigen hat.
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Eine Verminderung des Strafrahmens nach den §§ 22, 23 Abs. 2 und 49 Abs. 1 StGB war nach Ansicht der Kammer vorliegend gerade nicht veranlasst, da es angesichts der brutalen und perfiden Vorgehensweise des Angeklagten allein dem Zufall geschuldet war, dass sich der Geschädigte A. nicht noch schwerere Gesichtsverletzungen zugezogen hat.
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Innerhalb des damit zur Verfügung stehenden Strafrahmens war unter Abwägung sämtlicher zu Gunsten und zu Lasten des Angeklagten zu berücksichtigender Umstände – hierzu wird auf die obigen Ausführungen zur Anwendung des Regelstrafrahmens Bezug genommen – die Verhängung einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren tat- und schuldangemessen, aber auch unerlässlich, um entsprechend nachdrücklich auf den Angeklagten einwirken zu können.
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Die Kammer hat angesichts des völlig unvermittelt brutalen Vorgehens des Angeklagten unter Berücksichtigung der ganz erheblichen Verletzungen des noch jungen Adhäsionsklägers, insbesondere der massiven Sehbeeinträchtigungen auf dem linken Auge, trotz der nicht vorfallsursächlichen, vorbestehenden Narbe auf der Makula des linken Auges des Adhäsionsklägers, die Verhängung einer deutlich höheren Freiheitsstrafe als die durch das Amtsgericht Kempten (Allgäu) am 03.06.2022 verhängten 2 Jahre für erforderlich erachtet.
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Dem Adhäsionskläger war gemäß § 406 Abs. 1 StPO ein angemessenes Schmerzensgeld dem Grunde nach zuzusprechen.
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Gemäß den §§ 823 Abs. 2, 253 Abs. 2 BGB hat der Adhäsionskläger gegen den Angeklagten aufgrund der festgestellten versuchten schweren Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung einen Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes. Da die Höhe eines solchen angemessenen Schmerzensgeldes jedoch nach Ansicht der Kammer nicht allein auf die Angaben des Adhäsionsklägers gestützt werden kann, sondern angesichts der immer noch bestehenden massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Adhäsionsklägers unter Berücksichtigung einer möglichen zeitnahen Erblindung auf dem linken Auge eine weitergehende, umfassendere Beweisaufnahme mit Erstellung eines fachärztlichen Gutachtens erforderlich macht, war die Verpflichtung zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes nur dem Grunde nach auszusprechen.
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Weiter war festzustellen, dass der Angeklagte verpflichtet ist, dem Adhäsionskläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die in ursächlichem Zusammenhang mit dem tätlichen Übergriff des Angeklagten am 02.12.2019 – einer unerlaubten vorsätzlichen Handlung i.S. von § 823 I BGB – stehen.
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Die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens hat die Kammer nicht für angezeigt erachtet, da die vorgetragene Behauptung des Angeklagten gerade durch die Ausführungen des einvernommenen Sachverständigen – diese hat sich die Kammer nach umfassender kritischer gerade zu Eigen gemacht – widerlegt werden konnte.
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Dass die beim Adhäsionskläger festgestellten Augenverletzungen und Nasen-, Nasenbein –, Orbita – und Jochbeinfrakturen gerade nicht durch einen mit Wucht ausgeführten Wurf des beschlagnahmten Handys verursacht worden sein können, folgt aus den beim Adhäsionskläger nach dem tätlichen Übergriff am 02.12.2019 an den Lidern des linken Auges festgestellten Stich- und Schnittverletzungen sowie dem durch den Sachverständigen … nachvollziehbar erklärten Umstand, dass angesichts der Vielzahl der im Gesicht des Adhäsionsklägers festgestellten – auf eine nicht nur unerhebliche Fläche verteilten – Frakturen nach der zunächst erfolgten schweren Verletzung des linken Auges von zwei weiteren massiven stumpfen Gewalteinwirkungen ausgegangen werden muss.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 464 Abs. 1, Abs. 2, 465 Abs. 1, 472 Abs. 1, 472 a Abs. 1, Abs. 2, 473 Abs. 1 StPO.
Kempten (Allgäu), 20.10.2023