Inhalt

VG Augsburg, Beschluss v. 04.10.2023 – Au 9 S 23.30924
Titel:

zur Auslegung von § 71a AsylG im Lichte von Art. 33 Abs. 2 lit. d, Art. 2 lit. q Verfahrens-RL

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a
VwVfG § 51
Verfahrens-RL Art. 2 lit. q, Art. 33 Abs. 2 lit. d
Leitsatz:
Fraglich ist, ob ein Zweitantrag iSd § 71a AsylG vorliegt, wenn ein in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführtes Asylverfahren zum Zeitpunkt der Antragstellung im Bundesgebiet bereits rechtskräftig abgeschlossen ist, mithin ob § 71a AsylG mitgliedsstaatenübergreifend anzuwenden ist. (Rn. 27 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, erfolgreicher Eilantrag, Zweitantrag, erfolgloses Asylverfahren in Griechenland, ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, mögliche Unionswidrigkeit der Ablehnung als unzulässig, Abschiebungsandrohung, RL 2013/32/EU, Auslegung, Unionswidrigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 28704

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller (Az. Au 9 K 23.30923) gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. September 2023 (Gz. ...) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller wenden sich im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine sofortvollziehbare Androhung der Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat unter Setzung einer Ein- und Ausreisefrist.
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Der am ... 1980 in ... (Irak) geborene Antragsteller zu 1, die ebenfalls am ... 1982 in ... (Irak) geborene Antragstellerin zu 2 sind irakische Staatsangehörige mit arabischer Volkszugehörigkeit und muslimisch-sunnitischem Glauben.
3
Die Antragsteller zu 3 bis 6 sind die in den Jahren 2007, 2014, 2016 und 2020 geborenen Kinder der Antragsteller zu 1 und 2.
4
Die Antragsteller reisten am 30. Juli 2022 erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie unter dem 12. September 2022 Asylanträge stellten.
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Aufgrund der für die Antragsteller vorliegenden EURODAC-Treffer konnte festgestellt werden, dass die Antragsteller am 23. November 2015 in Österreich und am 26. Oktober 2018 in Griechenland erkennungsdienstlich registriert wurden.
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Am 29. September 2022 fand beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) eine Anhörung der Antragsteller nach § 25 Asylgesetz (AsylG) statt. Dort trug der Antragsteller zu 1 vor, er habe am 9. Juni 2022 eine Ablehnung seines Asylgesuchs in Griechenland erhalten. Weiter gab er an, dass er immer noch die gleichen Gründe geltend mache, wie in Griechenland. Diese Gründe würden auch für seine Kinder gelten. Er habe Griechenland verlassen, da er nach der Ablehnung keine Leistungen mehr erhalten habe. Er habe in Griechenland eine Abschiebungsandrohung in den Irak erhalten. Österreich hätten er und seine Familie freiwillig verlassen, da sie in der Unterkunft von einer dritten Person diskriminiert worden seien.
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Auf den weiteren Vortrag des Antragstellers zu 1 bei der persönlichen Anhörung wird auf die vom Bundesamt hierüber gefertigte Niederschrift verwiesen.
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Die Antragstellerin zu 2 verwies ebenfalls auf die vom Antragsteller zu 1 angeführten Gründe. Sie machte geltend, keine eigenen Asylgründe zu haben. Auch ihre älteste Tochter (Antragstellerin zu 3) habe keine eigenen Asylgründe.
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Auf Anfrage des Bundesamts teilte die Hellenistische Republik Griechenland dem Bundesamt unter dem 29. September 2022 mit, dass das Verfahren der Antragsteller zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz in Griechenland erfolglos abgeschlossen worden sei. Die Asylanträge der Antragsteller seien in Griechenland mit Bescheid vom 25. November 2020 abgelehnt worden. Die von den Antragstellern hiergegen eingelegte Klage sei erfolgslos geblieben. Sie sei am 9. Mai 2022 abgewiesen worden.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 21. September 2023 (Gz. ...) lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Antragsteller als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids) und stellte in Nr. 2 fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 u. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen. In Nr. 3 des Bescheids wurden die Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde den Antragstellern die Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 4. des Bescheids ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt u.a. aus, dass die Anträge unzulässig seien, da die Voraussetzungen für die Durchführung von weiteren Asylverfahren nicht vorlägen. Ein Asylantrag sei unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrages nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen sei (§ 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Ein weiteres Asylverfahren gem. § 71a Abs. 1 AsylG sei nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) erfüllt seien. Zugunsten der Antragsteller müssten daher Wiederaufgreifensgründe vorliegen. Die Antragsteller hätten keine Gründe vorgetragen, die zu der Annahme führten, dass eine Änderung der Sachlage vorliege, die zum Erfolg ihrer Asylanträge führen würde. Die geschilderten Geschehnisse hätten sämtlich vor der Ausreise der Antragsteller aus dem Irak stattgefunden. Somit sei der Asylantrag gem. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Antragsteller eine Verletzung des Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Die Abschiebungsandrohung sei gem. § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG und § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Diese Befristung sei vorliegend angemessen. Die Antragsteller verfügten über keine wesentlichen persönlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen gewesen seien.
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Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 21. September 2023 wird ergänzend verwiesen.
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Der vorbezeichnete Bescheid wurde den Antragstellern mit Postzustellungsurkunde am 26. September 2023 bekanntgegeben.
14
Die Antragsteller haben mit Schreiben vom 28. September 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben (Az. Au 9 K 23.30923). Über die vorbezeichnete Klage ist noch nicht entschieden worden.
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Ebenfalls mit Schreiben vom 28. September 2023 haben die Antragsteller im Wege vorläufigen Rechtsschutzes beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anzuordnen.
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Zur Begründung bezogen sich die Antragsteller auf ihre bisherigen Angaben.
18
Das Bundesamt hat dem Gericht die elektronische Verfahrensakte vorgelegt.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Antragsgegnerin vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag ist begründet.
21
1. Gegenstand des Antrags ist die kraft Gesetzes (vgl. § 75 Abs. 1 AsylG) sofort vollziehbare Androhung der Abschiebung in den Irak (Nr. 3 des Bescheids vom 21. September 2023). Die Antragsfrist von einer Woche (§ 71a Abs. 4 i.V.m. §§ 34, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) wurde eingehalten.
22
2. Der Antrag ist auch begründet. Die im Verfahren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) erforderliche Interessenabwägung fällt zugunsten der Antragsteller aus. Denn es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Abschiebungsandrohung.
23
a) Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Entscheidung über die Aussetzung bzw. die Aufhebung der Vollziehung auf Grund der sich ihm im Zeitpunkt seiner Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) darbietenden Sach- und Rechtslage. Das Gericht hat dabei die Interessen der Antragsteller und das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung gegeneinander abzuwägen. Besondere Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu, soweit sie im Rahmen der hier nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung bereits beurteilt werden können. Nach § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf eine Aussetzung der Abschiebung nur dann angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Mit dem Verweis in § 71a Abs. 4 AsylG hat der Gesetzgeber den Fall des Zweitantrags, der nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führt, demjenigen des unbeachtlichen und offensichtlich unbegründeten Asylantrags gleichgestellt.
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b) Gemessen an diesen Grundsätzen fällt die vom Gericht anzustellende Interessenabwägung vorliegend zu Gunsten der Antragsteller aus. Nach derzeitigem Kenntnisstand bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach § 71 a Abs. 4 i.V.m. § 34 AsylG mit der Folge einer Ausreisefrist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylG)
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aa) Stellt ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag), so ist gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Ist kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, erlässt das Bundesamt gemäß § 71a Abs. 4 i.V.m. §§ 34, 35, 36 Abs. 1 AsylG eine Abschiebungsandrohung mit einer gesetzlichen Ausreisefrist von einer Woche.
26
Ein Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 Asylgesetz liegt hier vor. Denn die Antragsteller haben – wie die griechischen Behörden mit Schreiben vom 29. September 2022 mitteilten – in Griechenland (einem sicheren Drittstaat gemäß § 26a AsylG) erfolglos ein Asylverfahren durchgeführt. Dies deckt sich im Übrigen mit den eigenen Angaben der Antragsteller.
27
bb) Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG i.V.m. § 71a AsylG mit der Folge der einwöchigen Ausreisefrist setzt jedoch die mitgliedsstaatenübergreifende Anwendbarkeit von § 71a AsylG voraus. Diese hier somit entscheidungserhebliche und grundsätzliche Rechtsfrage, ob eine nationale Regelung wie § 71a AsylG mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) und Art. 2 Buchst. q) RL 2013/32/EU vereinbar ist, ist bislang in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 26) und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 22.09.2022 – C-497/21 – juris Rn. 43 ff., 46) ausdrücklich offengelassen worden. Die Europäische Kommission hat in einem früheren Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Auffassung vertreten, dass der weitere Antrag auf internationalem Schutz nur dann als „Folgeantrag“ (bzw. Zweitantrag mit einwöchiger Ausreisefrist) eingestuft werden könne, wenn er in demjenigen Mitgliedsstaat gestellt werde, dessen zuständige Stellen einen früheren Antrag desselben Antragsstellers mit einer bestandskräftigen Entscheidung abgelehnt haben (EuGH, U.v. 20.5.2021 – C-8/20 – juris Rn. 29).
28
Die Frage der mitgliedsstaatenübergreifenden Anwendbarkeit des § 71a AsylG kann wegen der oben dargestellten Rechtsauffassung der Europäischen Kommission auch nicht als „acte clair“ beurteilt werden (so auch OVG NW, B.v. 31.03.2022 – 1 B 375/22.A – juris Orientierungssatz; a.A. NdsOVG, B.v.28.12.2022 – 11 LA 280/21 – juris Leitsatz und Rn. 11 m.w.N. und Dickten in Kluth/Heusch: BeckOK Ausländerrecht, 28. Ed. Stand 1.7.2023, § 71a AsylG Rn. 1b). Weiterhin hat das Verwaltungsgericht Minden mit Beschluss vom 28. Oktober 2022 diese Frage dem EuGH zur Vorabscheidung vorgelegt (VG Minden, B.v. 1 K 1829/21.A. – juris). Eine Entscheidung steht noch aus.
29
Im vorliegenden Verfahren, das allein die Sicherung des Rechts der Antragsteller auf einstweiligen Verbleib im Bundesgebiet zum Gegenstand hat, ist daher wegen Zweifel an der unionsrechtlichen Vereinbarkeit der Unzulässigkeitsentscheidung mit Abschiebungsandrohung ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen (so auch: BayVGH, B.v. 26.01.2023 – 6 AS 22.31155 – juris; VG Gießen, B.v. 17.05.2023 – 1 L 1029/23.GI.A – abgerufen unter: https://www.asyl.net/rsdb/m31726; VG Köln, B.v. 12.07.2023 – 15 L 747/23.A – juris; VG München, B.v. 14.08.2023 – M 26b S 23.31151 – juris; VG Augsburg, B.v. 11.9.2023 – Au 5 S 23.30840).
30
3. Die Kostenentscheidung für das gerichtliche Verfahren folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterlegener Teil hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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