Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 02.01.2023 – W 8 K 22.30758
Titel:

Subsidiärer Schutz für alleinstehende Frauen im Iran

Normenkette:
AsylG § 3
Leitsatz:
Alleinstehenden unverheirateten Frauen ohne familiäre Bindungen oder sonstige Unterstützung droht bei einer Rückkehr in den Iran eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung iSv Art. 3 EMRK. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, alleinstehende Frau, Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Spionage für Freund bzw. für Geheimdienst, Sepah, Bedrohung wegen Weigerung zur Fortsetzung und Intensivierung der geforderten Spionageaktivitäten:, keine Verfolgungsgefahr von staatlicher Seite, Opfer krimineller Handlungen, Gewährung des subsidiären Schutzes, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen Behandlung aufgrund der ökonomischen und humanitären Lebensbedingungen für alleinstehende Frau im Iran, Sicherung des Existenzminimums für alleinstehende unverheiratete Frau ohne familiäre Bindungen und ohne Unterstützung nicht gewährleistet, eingeholte Auskunft des Auswärtigen, Amtes, menschenwürdige Existenz
Fundstelle:
BeckRS 2023, 284

Tenor

I. Die Nrn. 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Mai 2020 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den subsidiären Schutz zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin und die Beklagte je zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
...

Tatbestand

I.
1
Die Klägerin, iranische Staatsangehörige, reiste am 22. Mai 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 8. August 2019 einen Asylantrag. Zur Begründung ihres Asylantrages gab die Klägerin im Wesentlichen an: Sie habe eine Beziehung zu einem Vorstandsmitglied ihres Unternehmens gehabt, der enge Verbindungen zur Sepah und dem Geheimdienst gehabt habe. Dieser habe von ihr verlangt, eine Beziehung mit jemandem einzugehen, um Videos und belastendes Material gegen diesen zu sammeln. Sie habe sich mit der anderen Person getroffen, aber sie habe es nicht mit dem Gewissen vereinbaren können, mit dieser intim zu werden. Es sei deswegen zum Streit mit ihrem Freund gekommen. Sie sei bedroht worden. Ihre Wohnung sei verwüstet worden. Sie habe Droh-SMS erhalten. Daraufhin habe sie den Iran verlassen.
2
Mit Bescheid vom 27. Mai 2020 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder einen anderen Staat wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Eine Vorverfolgung sei nicht glaubhaft. Die Schilderung der Klägerin erscheine wenig plausibel. Selbst einprägsamste Erlebnisse habe sie nicht detailliert, empathisch und plausibel nachvollziehbar geschildert. Sie führe die Mitgliedschaft ihres Freundes bei der Sepah lediglich darauf zurück, dass dieser eine Waffe und mehrere Telefone besessen haben. Die Klägerin sei weder in asylrechtlich geschützten Belangen betroffen, noch sei eine Verfolgungshandlung von flüchtlingsrechtlich erheblicher Intensität zu erkennen. Der Klägerin drohten bei einer Rückkehr nicht mit erforderlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch den iranischen Staat. Offenbar sei es der Klägerin gelungen, ihr Heimatland auf legalem Wege mit dem Flugzeug zu verlassen. Ihr Vorbringen zu dem Einbruch beziehe sich auf kriminelles Unrecht.
II.
3
1. Am 7. Juni 2020 ließ die Klägerin Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben.
4
Mit Schriftsatz vom 29. Juli 2020 ließ die Klägerin zur Klagebegründung im Wesentlichen ausführen: Hintergrund ihrer Flucht sei gewesen, dass sie von einem mutmaßlichen Mitglied der Sepah verschiedentlich bedroht und auch geschlagen worden sei, nachdem sie von ihm zunächst zum Ausspähen eines Regime-Kritikers angeworben worden sei, aber sich letztlich geweigert habe, hierfür mit diesem eine intime Beziehung einzugehen. Es liege in der Natur der Sache, dass die Klägerin die von der Beklagtenseite angesprochenen Details nicht breiter auffächern könne, nachdem sie ihr Handy im Iran zurückgelassen habe. Für die Klägerin stehe zu Buche, dass sie das wesentliche und sicher auch emotional affizierende Kerngeschehen, welches sie zu ihrer Flucht veranlasst habe, schlüssig, lebensnah und ohne Aggravationstendenzen wiedergegeben habe. Die Klägerin habe insbesondere zu berichten vermocht, wie sich das Geschehen immer weiter gesteigert und sich sukzessive ihrer Kontrolle entzogen habe. Aufgrund der Nähe ihres Freundes zur Sepah und dem Geheimdienst habe sie sich nicht an die Polizei wenden können. Der ganze Auftrag, Informationen über eine andere Person zu gewinnen, mache keinen Sinn, wenn ein solcher Hintergrund, wie Mitglied der Sepah zu sein, bei ihrem Freund nicht bestanden hätte. Hinsichtlich der problemlosen Ausreise blende die Beklagte zum einen aus, dass die Klägerin wegen ihrer beruflichen Tätigkeit in der Ölfirma ein für zwei Jahre gültiges Visum aus dem Jahr 2017 besessen habe und zum anderen die Flucht nach zehn Tagen sehr schnell umgesetzt worden sei. Bei einer Rückkehr sei zu beachten, dass ihr Freund über Einfluss, zumindest über diesbezügliche Kontakte, verfüge. Im Besonderen trete hinzu, dass die gegenwärtige Corona-Pandemie zu zusätzlichen und intensiveren Kontrollen im Falle einer Wiedereinreise führe. Ein interner Schutz sei nicht ersichtlich. Bei einer Rückkehr dürfte sie höchstwahrscheinlich mittlerweile gesucht werden und müsste, um der Folter zu entgehen, in völliger Anonymität leben. Auch ihre Verwandtschaft könne ihr nicht helfen, da sie bei einer Kontaktaufnahme Gefahr liefe, in den Fokus der Behörden zu geraten.
5
Der Klägerbevollmächtigte nahm zur eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 16. September 2022 mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2022 im Wesentlichen wie folgt Stellung: Die genannten Fluchtgründe bestünden fort. Die Klägerin habe nochmals betont, dass sie aus Angst vor dem betreffenden Herrn und dessen Verbindung zur Sepah aus dem Iran geflohen sei. Soweit nun der von einer Mitarbeiterin der Botschaft in Teheran am letzten Montag angetroffene vorgebliche Verlobte die Hintergründe der Ausreise anders darstelle, entspreche dies nicht der Wahrheit. Es handele sich um den Ex-Freund der Klägerin, welcher den Umstand, dass sich diese von ihm getrennt habe, nie akzeptiert habe. Nachdem sie sich im Herbst 2015 oder 2016 kennen gelernt hätten, sei Hintergrund der Trennung im Jahr 2018 gewesen, dass er fortlaufend Opium konsumiert und die Beziehung daher nicht funktioniert habe. Es sei regelmäßig zu Streit, teils auch zu Gewalt gekommen. Der Ex-Freund habe keine Therapie wegen seines Opiumkonsums antreten wollen. Aufgrund der vielen schlechten Erinnerungen sei die Klägerin froh gewesen, ihn vergessen zu haben, weswegen sie auf Nachfrage in der letzten Besprechung in der Kanzlei ihn nie zuvor erwähnt habe. Es sei unwahr, dass es sich bei dem Freund um den Eigentümer der Wohnung handele. Der Mietvertrag habe zwischen den Vermieter und dem Ex-Freund bestanden, wobei dieser überwiegend tagsüber bei seiner Mutter gelebt und die Klägerin die Wohnung bis zu ihrer Ausreise allein bewohnt habe. Es stimme auch nicht, dass ihre Mutter im Zuge des letzten Iran-Aufenthalts bei ihrem Ex-Freund gewohnt habe. Ihre Mutter sei im letzten Jahr für einige Wochen im Iran gewesen und habe auch kurzen Kontakt zum Ex-Freund gehabt, als sie für die Klägerin einige persönliche Dinge aus der Wohnung, insbesondere einen kleinen Gebetsteppich abgeholt habe. Hierfür habe die Klägerin auch im vergangenen Jahr letztmalig telefonisch Kontakt zum Ex-Freund aufgenommen, bevor er sie dann in seinem Mobiltelefon blockiert habe. Danach habe dann nochmals die Mutter der Klägerin bei ihm angerufen und mit ihm vereinbaren können, dass dieser ihr die persönlichen Dinge der Klägerin in einen Karton aushändige.
6
Mit Schriftsatz vom 11. November 2022 ließ die Klägerin noch die Rechnung anlässlich des Fluges der Mutter vorlegen, wonach deren letzter Aufenthalt lediglich rund zwei Wochen gewesen sei.
7
2. Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 12. Juni 2020,
die Klage abzuweisen.
8
Die Beklagte führte mit Schriftsatz vom 19. September 2022 zur eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes im Wesentlichen aus: Am streitgegenständlichen Bescheid werde weiterhin festgehalten. Der Auskunft des Auswärtigen Amtes seien keine Erkenntnisse zu entnehmen, die zu einer abweichenden Entscheidung führen könnten.
9
3. Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 9. Juni 2020 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
10
In der mündlichen Verhandlung am 7. Dezember 2020 beantragte die Klägerbevollmächtigte,
die Beklagte unter Aufhebung der Nrn. 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Mai 2020 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise, der Klägerin den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
11
Das Gericht hörte die Klägerin informatorisch an.
12
Des Weiteren erließ das Gericht aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 2020 einen Beweisbeschluss zur Einholung einer sachverständigen Auskunft des Auswärtigen Amtes.
13
Nach Erteilung der gewünschten Auskunft durch das Auswärtige Amt mit Datum vom 16. September 2022 nahm das Gericht das ruhend gestellte Verfahren W 8 K 20.30607 wieder auf und führte es unter dem neuen Aktenzeichen W 8 K 22.30758 fort.
14
In der mündlichen Verhandlung am 2. Januar 2023 hörte das Gericht die Klägerin ergänzend informatorisch an.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16
Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und - im tenorierten Umfang - begründet. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
17
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Mai 2020 ist in Nummer 1 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
18
Das Gericht folgt insoweit - bezogen auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - im Ergebnis sowie in der wesentlichen Begründung dem angefochtenen Bescheid vom 27. Mai 2020 auf den Seiten 3 bis 7 (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat insofern schon zutreffend ausgeführt, dass die Klägerin die Mitgliedschaft ihres Freundes bei der Sepah im Prinzip darauf zurückgeführt habe, dass dieser eine Waffe trage und mehrere Telefone besessen habe. Weiter ist zurecht ausgeführt, dass weder die Klägerin in asylrechtlich geschützten Belange betroffen ist, noch eine staatliche Verfolgungshandlung von flüchtlingsrechtlicher Intensität zu erkennen ist. Ebenso wie die Beklagte ist das Gericht nicht der Überzeugung, dass der Klägerin bei Rückkehr in den Iran mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen aus politischen Gründen durch den iranischen Staat drohen. Abgesehen davon, dass sie ihr Heimatland auf legalem Weg mit dem Flugzeug verlassen hat, was nach Aussage des Auswärtigen Amtes für ein fehlendes Verfolgungsinteresse des iranischen Staates spricht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand: 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 28), bezieht sich das Vorbringen der Klägerin - selbst bei Wahrunterstellung - im Kern auf kriminelles Unrecht.
19
Im Übrigen ist die Klage - wie tenoriert - begründet.
20
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Mai 2020 ist in seinen Nummern 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG. Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid in den Nummern 3 bis 6 insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
21
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes, weil ihr als alleinstehender Frau im Iran bei Rückkehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Bei einer Rückkehr der Klägerin besteht die begründete tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 2 AsylG), weil die Sicherung des Existenzminimums für eine alleinstehende, unverheiratete Frau ohne familiäre Bindungen und ohne sonstige Unterstützung nicht gewährleistet ist. Stichhaltige Gründe (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG) resultieren aus dem Vorbringen der Klägerin in Verbindung mit der allgemeinen Erkenntnislage betreffend alleinstehende Frauen im Iran.
22
Der Klägerin droht im Iran als alleinstehende Frauen ohne Unterstützung bei einer Rückkehr eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, die auch von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG erfasst wird. Eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung kann auch durch schlechte ökonomischen und humanitären Lebensbedingungen begründet sein, wenn sie - wie hier - im Einzelfall die Schwelle des Art. 3 EMRK überschreiten. Dies ist der Fall, wenn die Betreffende nicht in der Lage ist, im Zielland ihre elementaren Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen und keine Aussicht auf Besserung der Lage besteht. Die Klägerin als alleinstehende Frau ohne familiäre Anbindung wäre bei einer Rückkehr auf Unterstützung angewiesen, um sich eine menschenwürdige Existenz zu sichern, die sie aber nicht erhalten kann. Sie befände sich dauerhaft in einer gravierenden Mangel- und Notsituation. Das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere ist erreicht, wenn die Rückkehrende ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht selbst sichern kann, etwa kein Obdach finden kann. Soweit im Anwendungsbereich von § 4 AsylG die Benennung eines verantwortlichen Akteurs als erforderlich angesehen wird, ist auf den iranischen Staat und das dortige Rechts- und Gesellschaftssystem zu verweisen, auch in seiner Auswirkung auf die tägliche Praxis, das strukturell bewusst darauf zielt zu verhindern, dass eine alleinstehende Frau im Iran ohne männliche Unterstützung allein lebt und sich in menschenwürdiger Weise versorgt. Insofern geht die Gefahr auch zielgerichtet von einem Akteur aus (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Dezember 2022, § 4 AsylG, Rn. 28 ff.; Wittmann in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 13. Ed. Stand: 15.10.2022, § 4 AsylG, Rn. 42, 50 und 52.5; Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 4 AsylG, Rn. 33 ff., 43).
23
Nach der Erkenntnislage sind die Voraussetzungen für die Annahme einer tatsächlich begründeten ernsthaften Gefahr gegeben, weil die Klägerin bei einer Rückkehr als alleinstehende Frau ihre elementaren Bedürfnisse zur Existenzsicherung, also Essen, Obdach, Hygiene („Brot, Bett, Seife“), nicht alleine befriedigen könnte.
24
Das Auswärtige Amt hat in der eigens eingeholten Auskunft vom 16. September 2022 ausdrücklich ausgeführt, dass die Aussage der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 2. August 2006 weiterhin Gültigkeit hat, wonach alleinstehende oder geschiedene Frauen auch bei guter Ausbildung äußerst schwer ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können und auch zu wenig Geld haben, um eine Wohnung zu mieten, eine solche auch aus moralischen Gründen selbst bei genügender finanzieller Lage kaum mieten können und als alleinstehende Frauen Stigmatisierungen ausgesetzt sind. Denn grundsätzlich ist es im Iran nicht üblich, dass Frauen alleine wohnen. Dies gilt zum Teil sogar für verwitwete und geschiedene Frauen. Auch Vermieter vermieten in der Regel nicht gerne an alleinstehende Frauen. Dass die Zahl der allein lebenden Frauen im Iran nicht hoch sein kann, zeigt sich auch am Anteil der Frauen am Arbeitsmarkt. Nur wenige Frauen sind überhaupt beruflich tätig und können sich eine Wohnung leisten. Wäre es normal, dass Frauen auch alleine lebten, müsste der Anteil an der Erwerbstätigkeit höher sein. Es ist eine gewisse Tendenz zu erkennen, dass sich die Generation langsam verändert, insbesondere in Großstädten. Nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes empfinden Frauen, die alleine wohnen, Druck von behördlicher und familiärer Seite. Auch modern wirkende Iraner denken in diesem Bereich häufig noch sehr konservativ. Alleinlebenden Frauen wird „Schlüpfrigkeit“ oder gar Prostitution vorgeworfen. Letztes kann für sie sehr gefährlich sein. Ohne die Einwilligung der Familie ist ein alleinstehendes Leben für Frauen fast undenkbar. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es dann zu massiven Übergriffen durch Familienangehörige kommt, die Angst um die „Familienehre“ oder ihren Ruf haben. Auf dem Land scheint es fast unmöglich, dass Frauen alleine wohnen (siehe Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16.9.2022 an das VG Würzburg, S. 5 f.).
25
Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes ist zur Situation von Frauen im Wesentlichen weiter ausgeführt: In rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht sind Frauen in Iran vielfältigen weitreichenden Diskriminierungen unterworfen. Bei Verstößen gegen die Bekleidungsvorschriften müssen Frauen mit Strafen rechnen. Bei Kontrollen wendet die Sittenpolizei regelmäßig Gewalt an. Laut offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosenrate bei Frauen bei 17,7%, unter Frauen mit höherer Bildung liegt sie noch deutlich darüber. Die ultrakonservative Regierung wird die Integration von gut ausgebildeten Frauen in den Arbeitsmarkt nicht vorantreiben, weil sie die traditionelle Rolle der Frau in der islamischen Familie stärken und die Geburtenrate erhöhen will. Das iranische Recht ist vom Bild einer dem (Ehe-)Mann untergeordneten (Ehe-)Frau geprägt, was sowohl in Fragen der Selbstbestimmung, des Sorgerechtes, der Ehescheidung als auch des Erbrechts zu erkennen ist. Verschiedene gesetzliche Verbote machen es Frauen unmöglich, im gleichen Maße wie Männer am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Frauen, die ehelicher oder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, können nach Einschätzung des Auswärtigen Amts nicht uneingeschränkt darauf vertrauen, dass effektiver staatlicher Schutz gewährt wird. Gesetze zur Verhinderung und Bestrafung geschlechtsspezifischer Gewalt existieren nicht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand: 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 12 f.).
26
Nach dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022, S. 66 ff.) werden Frauen benachteiligt und diskriminiert. Die Erwerbsquote liegt nur bei 12% seit Beginn der Covid-19-Krise. Frauen sind stärker vom Verlust des Arbeitsplatzes betroffen. Aufgrund der von Männern dominierten Gesellschaft sind die Möglichkeiten von Frauen besonders eingeschränkt. Bei Frauen mit höherer Bildung sind die Aussichten noch schlechter. Aufgrund der Schwierigkeiten von Frauen, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist der familiäre Rückhalt für alleinstehende Frauen umso bedeutender. Erhalten Frauen keine familiäre Unterstützung, haben sie oft Schwierigkeiten eine Wohnung oder Arbeit zu finden und werden für Prostituierte gehalten. Der Zugang zum Arbeitsmarkt und die beruflichen Möglichkeiten für Frauen sind durch soziale und rechtliche Regelungen eingeschränkt mit dem Ziel der Beschränkung der Rolle von Frauen als Mutter und Ehefrau (siehe auch Österreichische Botschaft Teheran, Asylländerbericht - Islamische Republik Iran, November 2021, S. 15 ff.).
27
Auch nach der Rechtsprechung ist es auf der Basis der vorliegenden Erkenntnisse einer alleinstehenden Frau ohne familiärer Unterstützung nicht zuzumuten, in den Iran zurückzukehren und sie darauf zu verweisen, als Alleinstehende sich selbst das Existenzminimum zu sichern und die notwendige medizinische Versorgung zu gewährleisten. Frauen sind im Iran strukturell noch vielfältigen Diskriminierungen sowie moralisch-sittlichen Traditionen unterworfen, deren Einhaltung sowohl staatlicherseits als auch seitens der Gesellschaft überwacht und geahndet wird. Einer alleinstehender Frau droht bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zudem, sowohl von staatlichen Stellen als auch von Seiten der Zivilgesellschaft in alltäglichen Situationen einer diskriminierenden, übergriffigen und sie drangsalierenden Behandlung ausgesetzt zu sein, die geeignet ist, Gefühle von Furcht und Minderwertigkeit zu verursachen und darauf abzielt, die Klägerin zu erniedrigen oder zu entwürdigen und ihr die Berechtigung ihrer Lebensweise abzusprechen (so ausdrücklich VG Aachen, U.v. 15.12.2022 - 5 K 507/19 A - juris Rn. 30 ff., 44 m.w.N.).
28
Alleinstehenden Frauen ist es außerhalb des schützenden Familienverbandes nicht möglich, eine zumutbare Beschäftigung aufzunehmen, gerade angesichts der allgemeinen schwierigen Situation auf dem iranischen Arbeitsmarkt, die sich allgemein für Frauen und nochmals für alleinstehende Frauen verstärkt (vgl. VG Berlin, U.v. 18.10.2022 -- VG 3 K 964.19 A, 7656867 - juris S. 7 f. mit Verweis auf BFA, Länderinformationsblatt für die im Iran vom 29.1.2021, S. 66 f. und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Iran, Frauen, rechtliche Stellung und gesellschaftliche Teilhabe, Juli 2020, S. 11 ff.; m.w.N.). Es besteht auch für eine alleinstehende Frau nicht die Möglichkeit, eigenständig zu leben. Alleinstehende Frauen haben im Iran Schwierigkeiten ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Selbst wenn sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügen würden, hätten sie Schwierigkeiten, selbstständig eine Wohnung zu mieten und alleine zu wohnen, da die gesellschaftlichen Normen verlangen, dass eine (unverheiratete) Frau im Schutz ihrer Familie oder eines männlichen Familienmitglieds lebt (VG Frankfurt, U.v. 15.3.2022 - 12 K 1906/20.F.A, 7902421 - juris S. 7 und 8 f. mit Bezug auf VG Düsseldorf, U.v. 18.11.2020 - 22 K 3635/18.A - juris Rn 62 ff., 117 ff.; siehe auch VG Wiesbaden, U.v. 21.2.2022 - 6 K 667/19.WI.A, 7389746 - juris S. 14).
29
Eine alleinstehende Frau ist im Iran erheblichen und letztlich durchgreifenden Schwierigkeiten ausgesetzt, sozial isoliert und ohne Unterstützung eine zumutbare Beschäftigung aufzunehmen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Des Weiteren ist es im Iran kaum möglich, ohne Mitwirkung einer männlichen Person eine Wohnung zu mieten und zu heiraten und so nach iranischen Maßstäben ein normales Leben zu führen. Einer alleinstehenden Frau wäre es nicht zuzumuten, alleine und auf sich gestellt zu leben (VG Potsdam, U.v. 27.5.2021 - VG 5 K 4045/16.A, 6122138 - juris S. 12 f. m.w.N.).
30
Nach der Erkenntnislage hat eine alleinstehende Frau im Iran Schwierigkeiten, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, eine Beschäftigung zu finden oder sie sonst über ausreichende finanzielle Mittel verfügen würde, hätte sie Schwierigkeiten eine Wohnung zu mieten und alleine zu wohnen, da gesellschaftliche Normen verlangen, dass eine unverheiratete Frau im Schutze ihrer Familie oder eines männlichen Familienmitglieds lebt. Weiterhin dürfen Frauen ihren Wohnsitz nicht selbstständig wählen. Die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen und Schutzeinrichtungen befolgen insgesamt einen bevormundenden Ansatz. Eine Alleinstehende wäre sozial isoliert. Sie könnte ohne Zustimmung des Vaters oder eines sonstigen männlichen Verwandten keine Wohnung mieten, nicht heiraten und kein normales Leben führen (vgl. VG Düsseldorf, U.v. 18.11.2020 - 22 K 3635/18.A - juris Rn. 62 ff., 117 ff. m.w.N.).
31
Das Gericht merkt an, dass sich die vorliegende Fallgestaltung einer alleinstehenden Frau von anderen vom erkennenden Gericht entschiedenen Fällen unterscheidet, bei denen die Frauen in zumutbarer Weise auf Verwandte (Bruder, Sohn bzw. Lebensgefährte, Ehemann) zurückgreifen konnten (vgl. VG Würzburg, U.v. 1.2.2021 - W 8 K 20.31049 - juris Rn. 30 ff.; U.v. 30.10.2017 - W 8 K 17.31240 - juris Rn. 35 und 43 ff.; anderer Ansicht offenbar VG Magdeburg, U.v. 22.1.2019 - 3 A 276/17 - juris Rn.24, 42).
32
Nach alledem wäre die Klägerin als alleinstehende Frau ohne nennenswerte Unterstützung im Iran aufgrund der dortigen im iranischen System strukturell bewusst angelegten Lebensverhältnisse nicht in der Lage, in zumutbarer Weise durch eigene Erwerbstätigkeit ihr Existenzminimum zu sichern und alleine eine Wohnung nehmen, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, sodass ihr wegen der unmenschlichen Lebensbedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich ein ernsthafter Schaden im Sinne von Art. 3 EMRK und § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, und damit eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung droht, zumal sie zusätzlich mit Übergriffen Dritter rechnen müsste. Die Klägerin hat glaubhaft angegeben, dass sie keinen direkten Kontakt zu eventuellen entfernteren Verwandten im Iran hat (nähere Verwandte leben ohnehin nicht mehr im Iran), geschweige denn ist zu ersehen, dass diese Verwandte ihr im Iran ihr auf Dauer helfen könnten und würden. Weiter ist nicht ersichtlich, dass sie dauerhaft hinreichende Hilfe von im Ausland lebenden Verwandten erlangen könnte.
33
Ob der Klägerin daneben auch wegen Ehebruchs bzw. wegen ihrer außerehelichen Beziehung zu einem verheirateten Mann bzw. infolge der vorgebrachten Vorfluchtgeschichte sonst ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG droht (vgl. dazu etwa VG Aachen, U.v. 15.12.2022 - 5 K 507/19.A - juris Rn. 18 ff.; VG Frankfurt, U.v. 15.3. 2022 - 12 K 1906/20.F.A, 7902421 - juris S. 6 ff.; U.v. 16.2.2022 - 3 K 1911/19.F.A, 7743363 - juris S. 6 f.; VG Wiesbaden, U.v. 21.2.2022 - 6 K 667/19.WI.A, 7389746 - juris S. 13 f.; VG Potsdam, U.v. 27.5.2021 - VG 5 K 4045/16.A, 6122138 - juris S. 7 ff.), braucht nicht mehr entschieden zu werden, sondern kann offen bleiben.
34
Demnach liegen jedenfalls die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG vor, so dass der Klägerin unter Aufhebung der betreffenden Antragsablehnung in Nummer 3 des streitgegenständlichen Bescheides der subsidiäre Schutz gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen ist. In Folge dessen besteht auch kein Anlass für eine weitere Entscheidung - wie hilfsweise beantragt - über sonstige nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG - wobei das Gericht anmerkt, dass nach den vorstehenden Ausführungen auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorlägen -, so dass die Nummer 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben war (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG).
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Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn anders als hier kein subsidiärer Schutz gewährt wird (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a AsylG).
36
Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidung entfallen sind (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
37
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG und entspricht dem Gewicht des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.