Titel:
Aufhebung der Briefüberwachung des Untersuchungsgefangenen
Normenkette:
StPO § 119 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei haftgrundbezogenen Beschränkungen während der Untersuchungshaft handelt es sich um besonders begründungsbedürftige Eingriffe und nicht etwa um standardisiert mit einer vorläufigen Inhaftierung in der Untersuchungshaft einhergehende Begleitmaßnahmen. (Rn. 7 – 9)
2. Es ist fortlaufend die Prüfung geboten, ob nicht einer bestehenden, begründungsbedürftigen Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr bereits durch die Inhaftierung des Beschuldigten ausreichend begegnet wird. (Rn. 9)
Die Anordnung der Überwachung des Schriftverkehrs während der Untersuchungshaft ist aufzuheben, wenn nach mehrmonatiger Untersuchungshaft insbesondere keine konkreten Anhaltspunkte für Verdunkelungsbemühungen bestehen (Ergänzung zu OLG Celle BeckRS 2022, 14685). (Rn. 11 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Untersuchungshaft, Haftbeschränkung, Beschränkungen, Haftstatut, Briefüberwachung, Verdunkelungsgefahr
Fundstelle:
BeckRS 2023, 28470
Tenor
Der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 04.09.2023 gegen den Beschluss vom 31.08.2023 wird nicht abgeholfen, § 306 Abs. 2 StPO.
Gründe
1
Die Angeklagten befinden sich seit 31.01.2023 (Angeklagter N.) sowie seit 24.02.2023 (Angeklagte K. und Ke.) in Untersuchungshaft aufgrund entsprechender Haftbefehle des Amtsgerichts Nürnberg. Mit Beschlüssen vom 31.01.2023 (Angeklagter N.) sowie vom 24.02.2023 (Angeklagter K. und Angeklagter Ke.) ordnete das Amtsgericht Nürnberg unter anderem an, dass anlässlich des Vollzugs der Untersuchungshaft der Schrift- und Paketverkehr zu überwachen sei. Zur Begründung führte das Amtsgericht Nürnberg aus, dass die getroffenen Anordnungen wegen des Vorliegens des Haftgrundes/der Haftgründe erforderlich und zumutbar seien und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprächen. Insbesondere wurde durch Ankreuzen ausgeführt, dass die Gefahr bestehe, dass Fluchtversuche unternommen würden, da eine hohe Straferwartung gegeben sei, und Verdunkelungshandlungen vorgenommen würden durch Einwirken auf Zeugen und Absprachen mit Mitbeschuldigten, da eine hohe Straferwartung gegeben sei und gleichzeitig Mitbeschuldigte inhaftiert seien. Für die Angeklagten K. und Ke. wurde ergänzend noch die Gefahr der Vernichtung von Beweismitteln, eines konspirativen Vorgehens der Beschuldigten und die gleichzeitige Inhaftierung von Zeugen angekreuzt.
2
Mit Anklageschrift vom 20.07.2023 erhob die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth Anklage zur großen Strafkammer. Mit Beschluss vom 31.07.2023 ordnete die 20. Strafkammer unmittelbar nach Eingang der Akten die einstweilige Fortgeltung der vom Ermittlungsrichter beschlossenen Beschränkungen an.
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Am 17.08.2023 fand ein Erörterungsgespräch nach § 202a StPO statt. Im Nachgang hierzu haben die Verteidiger der Angeklagten N. und K. für ihre Mandanten geständige Einlassungen angekündigt. Man wolle zudem die von der Kammer vorgeschlagene Verständigung abschließen. Mit Schreiben vom 31.08.2023 hat auch die Verteidigerin des Angeklagten Ke. nach zwischenzeitlich erfolgter Rücksprache mit ihrem Mandanten eine Einlassung zur Sache angekündigt.
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Mit Beschluss vom 28.08.2023 hat die 20. Strafkammer das Hauptverfahren eröffnet und Termine zur Hauptverhandlung bestimmt. Mit Beschluss vom 31.08.2023 hat die 20. Strafkammer die bislang angeordnete haftgrundbezogene Überwachung des Schriftverkehrs während der Untersuchungshaft bis auf Weiteres aufgehoben, weil diese zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr nicht länger erforderlich erscheine.
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Gegen diesen Beschluss wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Beschwerde.
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Der Beschluss zur Aufhebung der haftgrundbezogenen Beschränkung während der Untersuchungshaft nach § 119 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 StPO entspricht der Sach- und Rechtslage, weshalb der Beschwerde nicht abzuhelfen ist.
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1. Nach der eindeutigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, die im Wortlaut des § 119 Abs. 1 Satz 1 StPO auch zum Ausdruck kommt („soweit … erforderlich“), handelt es sich um besonders begründungsbedürftige Eingriffe und nicht etwa um standardisiert mit einer vorläufigen Inhaftierung in der Untersuchungshaft einhergehende Begleitmaßnahmen (OLG Düsseldorf 25.01.2021 – 3 Ws 7-9/21, BeckRS 2021, 14810 Rn. 6; BT-Drs. 16/11644, 24).
„Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage von § 119 StPO ist eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten Haftzwecke (…), der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann. Das Gericht muss deshalb stets prüfen, ob für das Vorliegen einer solchen Gefahr im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte bestehen (…). Die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht bei einer den Grundrechten Rechnung tragenden Auslegung des § 119 I StPO nicht aus, um Beschränkungen anzuordnen“ (BVerfG 15.11.2022 – 2 BvR 1139/22, NJW 2023, 286 (287) Rn. 26).
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Die Überwachung des Schriftverkehrs stellt auch in der Untersuchungshaft eine in das Grundrecht nach Art. 10 Abs. 1 GG eingreifende Maßnahme dar (BVerfG 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14, NStZ-RR 2015, 79 (80); BVerfG 25.10.2011 – 2 BvR 979/10, BVerfGK 19, 140 = BeckRS 2011, 55884 Rn. 18 f.). § 119 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO bietet zwar eine zulässige Ermächtigungsgrundlage, jedoch muss seine Auslegung im Lichte des Grundrechts und bei Untersuchungsgefangenen ebenso im Lichte der Unschuldsvermutung erfolgen, sodass der Untersuchungsgefangene allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (BVerfG 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14, NStZ-RR 2015, 79 (80); KG 20.10.2022 – 5 Ws 41/22, BeckRS 2022, 38740 Rn. 23; OLG Celle 18.02.2022 – 3 Ws 49/22 (UVollz), BeckRS 2022, 14685 Rn. 7; OLG Stuttgart 08.02.2022 – 1 Ws 21/22, BeckRS 2022, 2423 Rn. 8). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss den Vollzug der Untersuchungshaft schließlich in besonderem Maße prägen (BVerfG 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14, NStZ-RR 2015, 79 (80)).
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Das bloße Vorliegen der Haftgründe allein kann Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO schon deshalb nicht rechtfertigen, weil diese bereits Voraussetzung der Untersuchungshaft als solcher und deshalb für sich genommen nicht geeignet sind, die Erforderlichkeit darüber hinausgehender Beschränkungen zu begründen (BVerfG 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14, NStZ-RR 2015, 79 (80); KG 20.10.2022 – 5 Ws 41/22, BeckRS 2022, 38740 Rn. 24; OLG Celle 18.02.2022 – 3 Ws 49/22 (UVollz), BeckRS 2022, 14685 Rn. 8). Das gilt für die Postkontrolle ebenso wie es für Besuchsbeschränkungen oder für eine akustische Überwachung der Telekommunikation zutrifft, die gleichfalls die Vertraulichkeit des Wortes zwischen dem Untersuchungsgefangenen und seinen Gesprächspartnern berührt (BVerfG 15.11.2022 – 2 BvR 1139/22, NJW 2023, 286 Rn. 23). Es ist fortlaufend die Prüfung geboten, ob nicht einer bestehenden, begründungsbedürftigen Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr bereits durch die Inhaftierung des Beschuldigten ausreichend begegnet wird.
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Die Kammer hat ihre Eröffnungsentscheidung zum Anlass genommen, die weitere Verhältnismäßigkeit der bestehenden haftgrundbezogenen Beschränkungen während der Untersuchungshaft zu überdenken.
11
Da eine Flucht aus der Untersuchungshaft anderer Planungen und Anstrengungen bedarf als das Untertauchen eines Beschuldigten, der sich auf freiem Fuß befindet, wird der Gefahr der Flucht ohne konkrete Anhaltspunkte für Fluchtplanungen allein durch die Inhaftierung hinreichend begegnet (OLG Stuttgart 08.02.2022 – 1 Ws 21/22, BeckRS 2022, 2423 Rn. 11; OLG Düsseldorf 25.01.2021 – 3 Ws 7-9/21, BeckRS 2021, 14810 Rn. 6). Konkrete Anhaltspunkte für Fluchtplanungen sind vorliegend nicht gegeben.
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Für das Vorliegen einer Verdunkelungsgefahr müssen ebenfalls konkrete, real-erhöhte Anhaltspunkte bestehen; auch hier reicht die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, explizit nicht aus (OLG Celle 18.02.2022 – 3 Ws 49/22 (UVollz), BeckRS 2022, 14685 Rn. 8; OLG Düsseldorf 25.01.2021 – 3 Ws 7-9/21, BeckRS 2021, 14810 Rn. 7). Ebenso scheitern allgemein gehaltene Erwägungen des Inhalts, dass die mit der vorgeworfenen Tat einhergehende hohe Straferwartung die Einschränkungen rechtfertige, an den oben genannten Grundsätzen (OLG Celle 18.02.2022 – 3 Ws 49/22 (UVollz), BeckRS 2022, 14685 Rn. 10). Die besonderen Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für den Vollzug der Untersuchungshaft ergeben, begrenzen die Möglichkeit der Verallgemeinerung von Beschränkungen; vielmehr ist nachdrücklich die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls geboten (BVerfG 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14, NStZ-RR 2015, 79 (80)).
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Zwar darf auf tatsachengestützte allgemeine Erfahrungssätze zurückgegriffen werden, wonach etwa der unkontrollierte Informationsaustausch zwischen nicht geständigen mutmaßlichen Tatbeteiligten untereinander die Gefahr der Erschwerung oder sogar Vereitelung der Wahrheitsfindung mit sich bringe (KG 20.10.2022 – 5 Ws 41/22, BeckRS 2022, 38740 Rn. 25; OLG Bremen 10.05.2022 – 1 Ws 30/22, BeckRS 2022, 11339 Rn. 15). Es ist aber auch zu beachten, dass „nicht die (etwaige) Abstimmung des Einlassungsverhaltens in der Hauptverhandlung per se unzulässig ist, sondern konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen müssen, dass auf das Aussageverhalten von Mitbeschuldigten oder Zeugen in unlauterer Weise Einfluss genommen werden soll“ (KG 20.10.2022 – 5 Ws 41/22, BeckRS 2022, 38740 Rn. 25). D. h. auch die allgemeinen Erfahrungssätze müssen fortlaufend einer Abwägung mit den grundrechtlich geschützten Positionen des als unschuldig geltenden Untersuchungshäftlings unterzogen und mit den Umständen des Einzelfalls abgeglichen werden (vgl. KG 20.10.2022 – 5 Ws 41/22, BeckRS 2022, 38740 Rn. 32; OLG Bremen 10.05.2022 – 1 Ws 30/22, BeckRS 2022, 11339 Rn. 19). Dass ein entsprechendes, konkretes Verhalten, welches auf Verdunkelungshandlungen schließen ließe, bei den Angeklagten bislang – trotz nunmehr über sechsmonatiger Untersuchungshaft – nicht zutage getreten ist, ist demnach zu würdigen (OLG Celle 18.02.2022 – 3 Ws 49/22 (UVollz), BeckRS 2022, 14685 Rn. 10). Etwaige Bemühungen zu unerlaubter Kommunikation (etwa der unerlaubte Besitz eines Smartphones in der JVA o. Ä.) sind der Kammer nicht bekannt.
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Die Verteidiger der Angeklagten haben ferner eine geständige Einlassung angekündigt. Darauf kann es bei richtiger Sichtweise zwar gar nicht ankommen, denn ein zulässiges Verteidigungsverhalten, wozu es gehört, sich schweigend oder bestreitend zum Tatvorwurf zu verhalten, dürfte nicht zur Bejahung der Annahme konkreter Verdunkelungsbemühungen herangezogen werden (OLG Celle 18.02.2022 – 3 Ws 49/22 (UVollz), BeckRS 2022, 14685 Rn. 10). Umso mehr muss diese Ankündigung der geständigen Einlassung hier jedoch gegen eine weitere Beschränkung wirken.
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Auch im Übrigen verfängt eine konkrete, erhöhte Gefahr von Verdunkelungsbemühungen vorliegend nicht. In ihrem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen trägt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth zum Tatnachweis vor, dass dieser namentlich mittels der Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung möglich sei. Sie führt hierzu im Einzelnen die einschlägige Telekommunikation unter Bezugnahme auf die korrelierenden Ziffern der Anklageschrift an. Ergänzend hinzu kommen Erkenntnisse aus der Sicherstellung von Betäubungsmitteln bei vollzogenen Durchsuchungen sowie DNA-Spurenauswertungen. Hinsichtlich der von der Staatsanwaltschaft angeführten Zeugen T. und Na. ist zu sehen, dass Ersterer im Wesentlichen lediglich durchgeführte Taxi-Fahrten angegeben und Zweitere mit ihren eigeninitiativen Angaben gegenüber der Polizei überhaupt erst die Sicherstellung der Betäubungsmittel am (…) in (…) ermöglicht hat. Diese Angaben sind entsprechend niedergelegt und dahingehend valide überprüft, dass die nachfolgende Durchsuchung zu einem entsprechend großen Betäubungsmittelfund geführt hat. Die Strafkammer teilt auf der Basis ihrer Eröffnungsentscheidung die staatsanwaltschaftliche Wertung zum hinreichenden Tatverdacht und stützt diesen ebenfalls auf das Ergebnis der Telekommunikationsüberwachung sowie die Erkenntnisse aus den Wohnungsdurchsuchungen samt erfolgten Sicherstellungen. Auf welche zum Tatnachweis bedeutsamen Zeugen die Angeklagten einwirken sollten oder welche der genannten Beweismittel die Angeklagten vernichten sollten, ist nicht ersichtlich.
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Was eine potenziell mögliche Absprache etwaiger Einlassungen oder des weiteren prozessualen Vorgehens per Brief nach Aufhebung der Briefüberwachung angeht, so teilt die Kammer die diesbezüglichen Bedenken auch insofern nicht, als eine Abstimmung prozessualen Vorgehens, was Art und Umfang etwaiger Einlassungen beinhaltet, bereits zuvor und losgelöst davon jederzeit möglich war, weil sich die Verteidiger der Angeklagten (wie im Rahmen des Erörterungsgesprächs zutage trat, was im Übrigen auch naheliegend und nicht zu beanstanden ist) untereinander nach der jeweiligen Verteidigungsstrategie erkundigt haben. Schließlich sind der Zusammenschluss und die Absprache mehrerer Verteidiger unterschiedlicher Beschuldigter über Strategie und Taktik im Verfahren, sei es für das gesamte Verfahren oder auch nur punktuell, anerkanntermaßen zulässig (sog. Sockelverteidigung).
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c) Eine Briefkontrolle ist auch nicht zur Abwehr einer Wiederholungsgefahr geboten. Gegenteilige Anhaltspunkte sind nicht ersichtlich.
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2. Die Staatsanwaltschaft bemängelt zu Recht, dass die Kammer vor dem Erlass ihres Beschlusses am 31.08.2023 keine Anhörung der Staatsanwaltschaft unternommen hat. Auch wenn es sich insofern nicht um eine Verletzung des grundrechtlich geschützten rechtlichen Gehörs handelt, weil die Staatsanwaltschaft als Vertreterin des Staates nicht Betroffene des Strafverfahrens ist und sich somit nicht auf das Justizgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG berufen kann (Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl. 2023, § 33 Rn. 10; MüKo-StPO/Valerius, 2. Aufl. 2023, § 33 Rn. 25), liegt gleichwohl ein versehentlicher Verstoß gegen § 33 Abs. 2 StPO vor, den die Kammer bedauert.
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Die Erwägungen der Strafkammer, die zum – lediglich äußerst knapp in einem Halbsatz begründeten – Beschluss vom 31.08.2023 geführt haben, werden folglich im Rahmen der vorliegenden Nichtabhilfeentscheidung umfangreich ausgeführt, sodass die Staatsanwaltschaft hiernach immerhin noch hinreichend Gelegenheit hat, ihre Beschwerde zurückzunehmen oder hierzu im Rahmen des ablaufenden Beschwerdeverfahrens Stellung zu nehmen.