Inhalt

VG Augsburg, Beschluss v. 20.09.2023 – Au 9 S 23.30872
Titel:

Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen Ablehnung eines Asylfolgeantrags als offensichtlich unbegründet

Normenketten:
AsylG § 30, § 36, § 71
Rückführungs-RL Art. 3, Art. 5, Art. 6, Art. 7
Leitsätze:
1. Ernstliche Zweifel an der Rechtsmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts iSv § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG BeckRS 1996, 21472). Angegriffener Verwaltungsakt und damit alleiniger Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist dabei gem. § 36 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 AsylG die nach § 36 Abs. 3 S. 1 AsylG iVm § 34 AsylG erlassene Abschiebungsandrohung. (Rn. 25) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. § 71 Abs. 1 AsylG ist auch auf Asylanträge anwendbar, die im Anschluss an eine Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidung gestellt werden, jedenfalls in den Fällen, in denen sich die Rücknahmeentscheidung nicht allein auf eine abweichende Bewertung der der ursprünglichen Anerkennungsentscheidung tragenden Gründen beschränkt, sondern auch eine Aussage zur Schutzgewähr aus anderen Gründen trifft (VG Berlin BeckRS 2002, 31141680). (Rn. 27) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Nach § 30 Abs. 1 AsylG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes iSv § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG offensichtlich nicht vorliegen. Dies ist dann der Fall, wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Ablehnung des Asylantrags geradezu aufdrängt (BVerfG BeckRS 2019, 2694). (Rn. 30) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Die Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung iSv Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) dar und muss daher unionsrechtlichen Anforderungen genügen (vgl. BVerwG BeckRS 2022, 16987).  (Rn. 33) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen ist maßgeblich auf die Sicht des (minderjährigen) Kindes abzustellen, wenn durch sie der Umgang mit einem Kind berührt wird, und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen, insbesondere in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (BVerfG BeckRS 2005, 31114). (Rn. 35) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Irak, vorläufiger Rechtsschutz, Eilrechtsschutz gegen eine Abschiebungsandrohung, offensichtliche Unbegründetheit eines Asylantrags (verneint), irakischer Staatsangehöriger, Asylwiderruf, Terrorismus, Asylfolgeantrag, offensichtliche Unbegründetheit, Abschiebungsandrohung, Rückführungsrichtlinie, familiäre Situation, Eltern-Kind-Beziehung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 28025

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (Az. Au 9 K 23.30869) gegen Nr. 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. September 2023 (Gz. ...) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt Eilrechtsschutz gegen die ihm in Folge der Ablehnung seines Asylfolgeantrags als offensichtlich unbegründet angedrohte Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat.
2
Der am ... 1980 in ... (Irak) geborene Antragsteller ist irakischer Staatsangehöriger mit arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischem Glauben. Seinen Angaben zufolge reiste er im Februar 2000 erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland ein.
3
Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 26. Juli 2000 (Gz. ...) wurde auf der Grundlage des damaligen § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG) festgestellt, dass für den Antragsteller ein Abschiebungshindernis besteht.
4
Unter dem 18. April 2007 wurde für den Antragsteller ein Widerrufsverfahren eingeleitet. Mit Bescheid des Bundesamts vom 10. Mai 2007 (Gz. ...) wurde die mit Bescheid vom 26. Juli 2000 getroffene Feststellung widerrufen und weiter festgestellt, dass die Voraussetzungen für eine Schutzgewährung beim Antragsteller nicht vorlägen und auch Abschiebungsverbote nicht gegeben seien. Die Klage gegen den vorgenannten Bescheid wurde mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 5. Oktober 2007 abgewiesen (Az. Au 5 K 07.30164). Mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Juli 2018 wurde die zunächst zugelassene Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 5. Oktober 2007 zurückgewiesen (Az. 20 B 18.30800). Die gegen die Nichtzulassung der Revision zum Bundesverwaltungsgericht erhobene Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. November 2018 abgelehnt (Az. BVerwG 1 B 78.18).
5
Mit Bescheid des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen vom 25. September 2020 wurde für den Antragsteller das Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und auf 20 Jahre befristet. Die gegen den vorbezeichneten Bescheid zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhobene Klage wurde mit Urteil vom 16. November 2021 abgewiesen (Az. Au 1 K 20.1918).
6
Unter dem 25. August 2023 stellte der Antragsteller einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag). Zur Begründung seines Folgeantrages trug der Antragsteller u.a. vor, dass er sich seit 23 Jahren in Deutschland befinde, verheiratet sei und hier drei minderjährige Kinder habe. Die Umstände im Irak seien ihm unbekannt und er habe Angst davor, in sein Heimatland zurückzukehren, weil es dort keine Menschenrechte gebe. Seine Kinder seien 12, 14 und 16 Jahre alt.
7
Mit Bescheid des Bundesamts vom 4. September 2023 (Gz. ...) wurden die Anträge des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Asylanerkennung als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). Nr. 3 des Bescheids lehnt den Antrag auf Gewährung subsidiären Schutzes ebenfalls als offensichtlich unbegründet ab. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) liegen nicht vor (Nr. 4). In Nr. 5 wird der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Antragsteller die Abschiebung in den Irak bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht.
8
Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt aus, dass im Falle des Antragstellers die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gegeben seien. Da das vorangegangene Asylverfahren des Antragstellers vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG entschieden worden sei, machten die nunmehr anzuwendenden Rechtsvorschriften eine für den Antragsteller günstigere Entscheidung zumindest möglich. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen aber offensichtlich nicht vor. Ein Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter offensichtlich nicht vorlägen. Die Beurteilung als offensichtlich unbegründet sei gerechtfertigt, wenn nach der vollständigen Erforschung des Sachverhaltes zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise kein Zweifel bestehen könne und sich beim solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Ablehnung des Asylantrags geradezu aufdränge. Der Antragsteller sei offensichtlich kein Flüchtling i.S.d. § 3 AsylG. Dem Antragsteller drohe bei einer Rückkehr in den Irak offensichtlich kein ernsthafter Schaden. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Es drohe dem Antragsteller auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Art. 5 Abs. 1 Buchst. b der RL 2008/115/EG sehe vor, dass familiäre Bindungen im Rahmen einer Rückkehrentscheidung in gebührender Weise zu berücksichtigen seien. Daraus folge indes keine absolute Beachtungspflicht, sondern ein die Abwägung beeinflussendes Berücksichtigungsgebot. Auch gewichtige familiäre Bindungen setzten sich danach nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durch. Im vorliegenden Fall sei das staatliche Interesse am Vollzug der Rückkehrverpflichtung gegenüber dem Individualinteresse des Antragstellers am Erhalt seiner familiären Bindungen (Ehefrau und minderjährige Kinder) eindeutig höher zu gewichten. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 36 Abs. 1 AsylG.
9
Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 4. September 2023 wird ergänzend verwiesen.
10
Der vorbezeichnete Bescheid wurde dem Antragsteller mit Postzustellungsurkunde am 7. September 2023 bekanntgegeben.
11
Der Antragsteller hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 13. September 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben (Az. Au 9 K 23.30869). Über die vorbezeichnete Klage ist noch nicht entschieden worden.
12
Ebenfalls mit Schriftsatz vom 13. September 2023 hat der Antragsteller im Wege vorläufigen Rechtsschutzes beantragt,
13
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
14
Zur Begründung ist ausgeführt, dass beim Antragsteller eine neue Sach- und Rechtslage vorliege, weil die gesamte Familie des Antragstellers nunmehr aufenthaltsberechtigt sei, was die Abschiebungsandrohung in den Irak beträfe. Das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts sei inhaltlich verfehlt. Eine offensichtliche Sach- und Rechtslage sei nicht zu erkennen. Aufgrund der Tatsache, dass der Kläger aufgrund der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden sei, mache deutlich, dass eine Ablehnung des Asylfolgeantrags als offensichtlich unbegründet fehlerhaft sei. Vielmehr hätte sich eine genauere Prüfung des Antrags aufdrängen müssen. Sofern es sich bei Antragsteller tatsächlich um einen Verschwörer bezüglich des Attentats gegen den damaligen irakischen Präsidenten handeln würde, dann bestehe auch die Gefahr der politischen Verfolgung seitens des irakischen Staats. Bei einer Rückkehr in den Irak drohe dem Antragsteller politische Verfolgung bzw. eine strafrechtliche Verfolgung, die mit der Todesstrafe enden könne und auch hinreichend wahrscheinlich sei. Zudem drohe dem Antragsteller eine menschenrechtswidrige und unmenschliche Behandlung bei der Rückkehr in den Irak, da man davon ausgehen müsse, dass er als Staatsverräter und Terrorist gefoltert und hingerichtet werden würde. Es sei bekannt, dass die Menschenrechtslage im Irak äußerst angespannt sei und dass es zu Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen gegen vermutete Staatsfeinde komme. Eine Abschiebung des Antragstellers in den Irak sei deshalb ausgeschlossen. Über dies sei aufgrund der neuen rechtlichen Situation bei der Familie des Antragstellers die Abschiebungsandrohung im Klageverfahren aufzuheben. Die aufschiebende Wirkung der Klage sei anzuordnen, da die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtswidrig sei. Das Bundesamt habe sich mit den streiterheblichen Fragen nicht hinreichend auseinandergesetzt. Eine Interessenabwägung ergebe, dass das Aussetzungssinteresse des Antragstellers gegenüber dem Interesse am Vollzug der getroffenen Regelung Vorrang genieße.
15
Auf den weiteren Inhalt im Klage- und Eilantragsschriftsatz vom 13. September 2023 wird ergänzend verwiesen.
16
Das Bundesamt ist dem Antrag für die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 19. September 2023 entgegengetreten und beantragt,
17
den Antrag abzulehnen.
18
Zur Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die vom Bundesamt vorgelegten elektronischen Verfahrensakten verwiesen.
II.
20
Das Gericht entscheidet gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
21
Der Antrag hat Erfolg.
22
Der zulässige Antrag ist in der Sache begründet.
23
Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthafte Antrag ist auch im Übrigen zulässig. Die nach §§ 34, 36 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung ist kraft Gesetzes sofort vollziehbar, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Die einwöchige Antragsfrist gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 AsylG, wurde ersichtlich gewahrt.
24
Der Antrag ist auch begründet. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung.
25
Gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG – und Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG – darf das Gericht die Aussetzung der Abschiebung in den Fällen der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nur anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 –, juris Rn. 99). „Angegriffener Verwaltungsakt“ und damit alleiniger Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 Hauptsatz 1 AsylG die nach § 36 Abs. 1 i. V. m. § 34 AsylG erlassene Abschiebungsandrohung (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt/Bergmann, 14. Aufl. 2022, AsylG, § 36 Rn. 21). Unmittelbarer Bezugspunkt der Prüfung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ist daher zwar nicht der materielle Asylanspruch als solcher (vgl. BVerfG, B. v. 2.5.1984 – 2 BvR 1413/83 – juris Rn. 37). Als wesentliche Elemente der Abschiebungsandrohung sind deren Erlassvoraussetzungen gemäß § 34. Abs. 1 AsylG bei der gerichtlichen Prüfung jedoch zwingend mit in den Blick zu nehmen. Dazu gehört neben der Rechtmäßigkeit der Versagung des beantragten Schutzstatus auch das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes (vgl. BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 –, juris Rn. 94). Der Inhalt der Entscheidung des Bundesamtes ist damit mittelbar Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle.
26
Hiervon ausgehend bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der ausgesprochenen Abschiebungsandrohung in den Irak.
27
Zwar hat das Bundesamt zunächst zutreffend angenommen, dass es sich bei dem erneuten Asylgesuch des Antragstellers um einen Folgeantrag i.S.d. § 71 Abs. 1 AsylG handelt. Zwar wird teilweise vertreten, dass ein nach der Rücknahme einer im ersten Asylverfahren erfolgten Anerkennungsentscheidung gestellter weiterer Asylantrag kein Folgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylG sei, da die Vorschrift nach ihrem Wortlaut ausschließlich für Fälle der Rücknahme oder unanfechtbaren Ablehnung des früheren Asylantrags gelte (vgl. Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71 AsylVfG Rn. 13; Marx, Asylgesetz, 10. Auflage 2019, § 71 Rn. 18 f.; BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, 5. Edition Stand: 1.7.2020, § 71 AsylG Rn. 4, jedoch offengelassen bei zusätzlicher Aussage zu Anerkennung aus anderen Gründen; wohl auch VG Frankfurt, U.v. 16.7.2008 – 7 K 325/08.F.A – juris Rn. 25, im Ergebnis aber offengelassen; für Zweitantrag wohl auch VG Aachen, B.v. 28.1.2019 – 2 L 5/19.A – juris Rn. 11 ff., im Ergebnis aber offengelassen). Nach gegenteiliger Ansicht ist § 71 Abs. 1 AsylG allerdings auch auf Asylanträge anwendbar, die im Anschluss an eine Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidung nach § 73 AsylG gestellt werden (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Oktober 2017, § 71 Rn. 96 f.). Dieser Ansicht folgt das Gericht jedenfalls für die Fälle, in denen sich die Rücknahmeentscheidung nicht allein auf eine abweichende Bewertung der die ursprüngliche Anerkennungsentscheidung tragenden Gründe beschränkt, sondern auch eine Aussage zur Schutzgewährung aus anderen Gründen trifft (so auch VG Berlin, G.v. 6.6.2002 – 34 X 130.02 – juris Rn. 14). Dies ist vorliegend mit der Entscheidung des Bundesamts vom 10. Mai 2007 der Fall.
28
Dass das Bundesamt zugunsten des Antragstellers vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) ausgegangen ist, bedarf keiner gerichtlichen Überprüfung, da es insoweit an einer rechtlichen Beschwer des Antragstellers fehlt.
29
Die aufschiebende Wirkung der vom Antragsteller am 13. September 2023 erhobenen Klage (Az. Au 9 K 23.30869) war jedoch anzuordnen, da erhebliche Gründe dafürsprechen, dass das Bundesamt den erneuten Asylantrag des Antragstellers nicht als offensichtlich unbegründet ablehnen und daher auch die kurze Ausreisefrist von einer Woche aus § 36 Abs. 1 AsylG nicht verfügen durfte.
30
Nach § 30 Abs. 1 AsylG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes – also der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) – offensichtlich nicht vorliegen. Dies ist der Fall, wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Ablehnung des Asylantrags geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, B. v. 25.2.2019 – 2 BvR 1193/18 –, juris Rn. 19 ff. = InfAuslR 2020, 256).
31
Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für eine qualifizierte Ablehnung des erneuten Asylantrags gemäß § 30 Abs. 1 AsylG nicht gegeben. Sofern das Bundesamt einerseits darauf abstellt, dass der Antragsteller aufgrund seiner angenommenen Beteiligung an einem Terrorakt gegen den damaligen irakischen Präsidenten aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen ist und aus diesen Gründen ein erhebliches gesteigertes Vollstreckungsinteresse folgert, ist es andererseits zugunsten des Antragstellers nicht auszuschließen, dass für diesen bei der angenommenen Sachlage eine begründete Verfolgungsfurcht bei einer Rückkehr in den Irak bestehen kann. Bei dieser Sachlage kann nicht darauf geschlossen werden, dass allein aufgrund des vergangenen Zeitraums seit dem Attentat (20 Jahre) kein Verfolgungsinteresse mehr seitens des irakischen Staats besteht. Jedenfalls hätte dieser Umstand besonderer Aufklärung seitens des Bundesamts bedurft. Die erfolgte lapidare Ablehnung des erneuten Asylantrags des Antragstellers innerhalb weniger Tage als offensichtlich unbegründet erweist sich jedenfalls bei summarischer Prüfung als rechtswidrig.
32
Daneben bestehen aber auch erhebliche Bedenken gegen die ausgesprochene Abschiebungsandrohung aufgrund der gebotenen Anwendung von Unionsrecht.
33
Die Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die gemeinsamen Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98 ff.) – Rückführungsrichtlinie – dar (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage-B.v. 8.6.2022 – 1 C 24/21 – juris Rn. 18 unter Verweis auf U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 41, 45 und 56 m.w.N.) und hat somit unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen (vgl. Pietzsch in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2023, § 34 AsylG Rn. 5a).
34
Nach Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie sind das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in gebührender Weise zu berücksichtigen. Diese Regelung ist dahingehend auszulegen, dass das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen sind und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen (erst) im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung des Vollzugs zu erwirken (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 28).
35
Zwar betrifft die gegenständliche Abschiebungsandrohung – anders als in dem vorgelegten Fall (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 2) – nicht die gegenüber einem Minderjährigen erlassene Rückkehrentscheidung. Jedoch ist bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen maßgeblich auf die Sicht des (minderjährigen) Kindes abzustellen, wenn durch sie der Umgang mit einem Kind berührt wird, und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen, insbesondere in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 25 f. m.w.N.). Da Art. 5 Buchst. a der Rückführungsrichtlinie unter anderem die Gewährleistung der Grundrechte eines Kindes nach Art. 24 GRCh bezweckt und daher nicht eng ausgelegt werden darf (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 23 m.w.N.), kann er nicht dahingehend verstanden werden, dass das Wohl des Kindes nur im Verfahren des Kindes selbst zu berücksichtigen ist. Zudem ist das Kindeswohl bei der Entscheidung über den Erlass einer Abschiebungsandrohung gegen den Antragsteller im Rahmen der Beurteilung der familiären Bindungen nach Art. 5 Buchst. b der Rückführungsrichtlinie zu berücksichtigen (VG München, U.v.26.4.2023 – M 27 K 22.31189 – juris Rn. 22). Denn Art. 5 der Rückführungsrichtlinie verwehrt den Erlass einer Rückkehrentscheidung, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er zur Verhinderung des Erlasses einer solchen Entscheidung geltend macht (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 25 m.w.N.).
36
Ob zwischen Elternteil und Kind eine familiäre Gemeinschaft besteht, hängt im Wesentlichen von den konkret-individuellen Umständen des Familienlebens ab. Hier ist in Ermangelung entgegenstehender Erkenntnisse von einer bestehenden häuslichen Gemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seinen drei minderjährigen Kindern auszugehen.
37
Damit bestehen aber auch erhebliche Zweifel, ob sich die ausgesprochene Abschiebungsandrohung aufgrund des Aufenthaltsstatus der minderjährigen Kinder des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland als unionsrechtskonform erweist.
38
Nach allem war daher die aufschiebende Wirkung der Klage antragsgemäß anzuordnen.
39
Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
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