Inhalt

VG Augsburg, Beschluss v. 11.09.2023 – Au 5 S 23.30841
Titel:

Erfolgreicher Eilantrag gegen Abschiebungsandrohung bei Zweitantrag

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 34 Abs. 1, § 36 Abs. 1, § 71a, § 75 Abs. 1
RL 2013/32/EU Art. 2 lit. q, Art. 33 Abs. 2d
Leitsatz:
Die aufschiebende Wirkung einer Asylklage gegen die Abschiebungsandrohung bei einem Zweitantrag ist wegen ernstlicher Zweifel an der unionsrechtlichen Vereinbarkeit der Unzulässigkeitsentscheidung samt Abschiebungsandrohung aufgrund der Auffassung der europ. Kommission über einen Folgeantrag anzuordnen. (Rn. 22 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, Erfolgreicher Eilantrag, Zweitantrag, Erfolgloses Asylverfahren in Griechenland, Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, Mögliche Unionswidrigkeit der Ablehnung als unzulässig, Eilrechtsschutz, Asylverfahren, erstliche Zweifel, unzulässiger Asylantrag, Abschiebungsandrohung, Ausreisefrist, Europäische Kommission, unionsrechtlichen Vereinbarkeit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 27998

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheids des Bundesamtes für ... vom 24. August 2023 (Gz.: ...) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die sofort vollziehbare Androhung der Abschiebung in den Irak.
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Der Antragsteller ist ein am ... 1997 in ... (Irak) geborener irakischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens. Er reiste nach seinen Angaben am 27. Mai 2022 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 22. Juni 2022 Asyl beim Bundesamt für ... (künftig: Bundesamt).
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Im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags am 22. Juni 2022 gab der Antragsteller an, sein Heimatland ca. im November 2018 verlassen zu haben. Er habe sich unter anderem rund drei Jahre in Griechenland aufgehalten, bevor er über Österreich nach Deutschland gereist sei. In Griechenland habe er im Februar 2019 auf der Insel Leros in einem Camp einen Asylantrag gestellt. Danach sei er weiter nach Saloniki gefahren und habe in dem Ort ... ... von der Stadt eine Wohnung zugewiesen bekommen. Nachdem sein Asylantrag 2020 oder 2021 abgelehnt worden sei, habe er die Wohnung verlassen müssen. Er habe gegen die Ablehnung des Asylantrags Widerspruch eingelegt, der aber ebenfalls abgelehnt worden sei. Er habe für das hiesige Asylverfahren keine neuen Gründe oder Beweismittel.
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Am 30. Juni 2022 stellte das Bundesamt ein Aufnahmegesuch an die griechischen Behörden. Mit Schreiben vom 5. Juli 2022 lehnten diese die Übernahme des Antragstellers ab und führten aus, der Antragsteller sei am 4. Februar 2019 in Leros wegen illegalen Grenzübertritts aufgegriffen worden und habe am 18. März 2019 einen Asylantrag gestellt. Dieser sei am 23. April 2020 in erster Instanz abgelehnt worden. Am 11. September 2020 habe der Antragsteller hiergegen Einspruch erhoben, der am 30. Oktober 2020 in zweiter Instanz zurückgewiesen worden sei. Da er angegeben habe, über Albanien, Bosnien und Herzegowina und Serbien weiter nach Österreich und Deutschland gereist zu sein, werde eine Zuständigkeit Griechenlands (nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. c oder d Dublin III-VO) aufgrund Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO abgelehnt. Eine Remonstration des Bundesamtes hiergegen vom 6. Juli 2022 blieb von den griechischen Behörden unbeantwortet.
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Am 11. August 2022 fand die Anhörung nach § 25 Asylgesetz (AsylG) des Antragstellers beim Bundesamt statt. Auf die Niederschrift wird Bezug genommen.
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Mit Bescheid vom 24. August 2023 (Gz.: ...), dem Antragsteller zugestellt am 29. August 2023, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheides). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Antragsteller die Abschiebung nach Irak oder einen anderen zu seiner Übernahme bereiten oder verpflichteten Staat angeordnet. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Nr. 3 des Bescheides). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4 des Bescheides).
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Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen.
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Der Antragsteller hat mit Schreiben vom 31. August 2023, eingegangen bei Gericht am selben Tag, Klage erhoben und beantragt, den Bescheid des Bundesamtes vom 24. August 2023 (Gz.: ...) aufzuheben, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, unter Aufhebung des Bescheids vom 24. August 2023 festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) im Hinblick auf Irak vorliegen.
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Über diese Klage (Au 5 K 23.30840) ist noch nicht entschieden.
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Darüber hinaus hat der Antragsteller in dem Schreiben vom 31. August 2023 beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung des Eilantrags wurde ausgeführt, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids, insbesondere an der in Ziffer 3 enthaltenen Abschiebungsandrohung auf der Grundlage von §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a, 34 Abs. 1, 36 Abs. 1 AsylG. Es bestünden erhebliche Zweifel, ob § 71a AsylG mit Unionsrecht in Einklang stehe; konkret, ob eine nationale Regelung wie § 71a AsylG, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt werden könne, wenn das erfolglose erste Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier: Griechenland) durchgeführt wurde, mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) und Art. 2 Buchst. q) RL 2013/32/EU vereinbar sei (unter Hinweis zum Meinungsstand: BayVGH, B.v.26.1.2023 – 6 AS 22.31155 – juris sowie VG Minden, B.v. 28.10.2022 – 1 K 1829/21.A – juris, mit welchem diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt worden sei). Diese Frage sei in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – BVerwGE 157, 18 Rn. 26) und des Europäischen Gerichtshof (EuGH) bislang offengelassen worden. Die (verneinende) Entscheidung des EuGH vom 22.09.2022 (C-497/21) gründe im Wesentlichen auf der vorherigen Antragstellung in Dänemark und dem Umstand, dass nach dem Abkommen zwischen der Union und Dänemark die RL 2011/95/EU auf Dänemark keine Anwendung finde und deshalb dort kein „Antrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b) RL 2013/32/EU und keine „bestandskräftige Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. e) RL 2013/32/EU getroffen werden könne (EuGH, U.v. 22.09.2022 – C-497/21 – juris Rn. 43 ff.). Die hier streitgegenständliche Frage sei vom EuGH in dieser Entscheidung erneut ausdrücklich offengelassen worden (EuGH, U.v. 22.09.2022 – C-497/21 – juris Rn. 46; zuvor bereits U.v. 20.5.2021 – C-8/20 – juris Rn. 40). Die mitgliedsstaatenübergreifende Anwendbarkeit des § 71a AsylG lasse sich auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des EuGH auch nicht mehr ohne weiteres (als „acte clair“) bejahen (vgl. OVG Münster, B.v. 31.3.2022 – 1 B 375/22.A – juris Rn. 7 ff.; VG Minden, B.v. 28.10.2022 – 1 K 1829/21.A – juris Rn. 59 ff.). Denn die Europäische Kommission habe in einem früheren Verfahren vor dem EuGH die Auffassung vertreten, dass der weitere Antrag auf internationalen Schutz nur dann als „Folgeantrag“ eingestuft werden könne, wenn er in demjenigen Mitgliedsstaat gestellt werde, dessen zuständige Stellen einen früheren Antrag desselben Antragstellers mit einer bestandskräftigen Entscheidung abgelehnt hätten (vgl. EuGH, U.v. 20.5.2021 – C-8/20 – juris Rn. 29).
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Die Antragsgegnerin hat die Akte in elektronischer Form vorgelegt und mit Schreiben vom 5. September 2023 beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Mit Schreiben vom 11. September 2023 wurde antragserwidernd ergänzt, von der Europarechtskonformität des § 71a AsylG sei auszugehen (siehe auch Schlussanträge des Generalanwalts vom 18. März 2021 – C-8/20 – juris Rn. 54 ff.; offen gelassen BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – BVerwGE 157, 18 Rn. 26; EuGH; U.v. 22.9.2022 – C-497/21 – juris Rn. 36 und U.v. 20.5.2021 – C-8/20 – juris Rn. 29,30 und 40). Dies sei trotz der Einwände der EU-Kommission und deren Bedeutung innerhalb der Europäischen Union auch angesichts der jüngsten, diesbezüglichen Ausführungen des Generalanwalts wohl anzunehmen. Zu diesem Schluss komme auch das OVG Lüneburg (B.v.28.12.2022 – 11 LA 280/21 – juris Rn. 13-53), dessen Ausführungen sich die Antragsgegnerin zu eigen mache.
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Ergänzend wird auf die vorgelegte Akte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag ist begründet.
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1. Gegenstand des Antrags ist die kraft Gesetzes (vgl. § 75 Abs. 1 AsylG) sofort vollziehbare Androhung der Abschiebung in den Irak (Nr. 3 des Bescheids vom 24. August 2023). Die Antragsfrist von einer Woche (§ 71a Abs. 4 i.V.m. §§ 34, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) wurde eingehalten.
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2. Der Antrag ist auch begründet. Die im Verfahren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) erforderliche Interessenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Denn es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Abschiebungsandrohung.
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a) Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Entscheidung über die Aussetzung bzw. die Aufhebung der Vollziehung auf Grund der sich ihm im Zeitpunkt seiner Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) darbietenden Sach- und Rechtslage. Das Gericht hat dabei die Interessen des Antragstellers und das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung gegeneinander abzuwägen. Besondere Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu, soweit sie im Rahmen der hier nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung bereits beurteilt werden können. Nach § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf eine Aussetzung der Abschiebung nur dann angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Mit dem Verweis in § 71a Abs. 4 AsylG hat der Gesetzgeber den Fall des Zweitantrags, der nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führt, demjenigen des unbeachtlichen und offensichtlich unbegründeten Asylantrags gleichgestellt.
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b) Gemessen an diesen Grundsätzen fällt die vom Gericht anzustellende Interessenabwägung vorliegend zu Gunsten des Antragstellers aus. Nach derzeitigem Kenntnisstand bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung mit einer Ausreisefrist von einer Woche.
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aa) Rechtsgrundlage für die Entscheidung des Bundesamts ist § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71a Abs. 1 AsylG. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag u.a. dann unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrags nach § 71a ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Nach § 71a Abs. 4 i.V.m. §§ 34 und 36 Abs. 1 AsylG ist die Unzulässigkeitsentscheidung mit einer Abschiebungsandrohung von einer Woche zu verbinden. Dies würde (jedoch) die mitgliedsstaatenübergreifende Anwendbarkeit von § 71a AsylG – abgelehnter Asylantrag in dem einen Mitgliedsstaat (hier: Griechenland), „Folgeantrag“ in einem anderen Mitgliedsstaat (hier: Deutschland) – voraussetzen. Die Europäische Kommission hat jedoch in einem früheren Verfahren vor dem EuGH die Auffassung vertreten, dass der weitere Antrag auf internationalem Schutz nur dann als „Folgeantrag“ (bzw. Zweitantrag mit einwöchiger Ausreisfrist) eingestuft werden könne, wenn er in demjenigen Mitgliedsstaat gestellt werde, dessen zuständige Stellen einen früheren Antrag desselben Antragsstellers mit einer bestandskräftigen Entscheidung abgelehnt haben (EuGH, U.v. 20.5.2021 – c-8/20 – juris Rn. 29).
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bb) Die hier somit entscheidungserhebliche und grundsätzliche Rechtsfrage der mitgliedsstaatenübergreifenden Anwendbarkeit des § 71a AsylG in dem Sinne, ob eine nationale Regelung wie § 71a AsylG mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) und Art. 2 Buchst. q) RL 2013/32/EU vereinbar ist, ist bislang in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – Rn. 26) und des EuGH (U.v. 22.09.2022 – C-497/21 – juris Rn. 43 ff., 46) ausdrücklich offengelassen worden. Die Frage kann wegen der oben dargestellten Rechtsauffassung der Europäischen Kommission auch nicht als „acte clair“ beurteilt werden (so auch OVG Münster, B.v. 31.03.2022 – 1 B 375/22.A – juris Orientierungssatz; a.A. OVG Lüneburg, B.v.28.12.2022 – 11 LA 280/21 – juris Leitsatz und Rn. 11 m.w.N. und Dickten in Kluth/Heusch: BeckOK Ausländerrecht, 28. Ed. Stand 1.7.2023, § 71a AsylG Rn. 1b).
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Wegen ernstlicher Zweifel an der unionsrechtlichen Vereinbarkeit der Unzulässigkeitsentscheidung samt Abschiebungsandrohung ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen (so auch: BayVGH, B.v. 26.01.2023 – 6 AS 22.31155 – juris; VG Gießen, B.v. 17.05.2023 – 1 L 1029/23.GI.A – abgerufen unter: https://www.asyl.net/rsdb/m31726; VG Köln, B.v. 12.07.2023 – 15 L 747/23.A – juris; VG München, B.v. 14.08.2023 – M 26b S 23.31151 – juris).
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3. Die Kostenentscheidung für das gerichtliche Verfahren folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterlegener Teil hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).