Titel:
Erfolgreiche baurechtliche Nachbarklage gegen eine der beigeladenen Bauherrin erteilte Baugenehmigung samt Tekturgenehmigung für einen Dachgeschossausbau und den Umbau bestehender Wohnungen
Normenketten:
BayBO Art. 6 Abs. 2 S. 3
BGB § 1018
VWGO § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 34 Abs. 2
Leitsätze:
1. Das Bauvorhaben macht eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung des Bestandsgebäude, das an dieser Stelle seit Jahrzehnten bereits vorhanden ist, erforderlich. Das Vorhaben hält die erforderlichen Abstandsflächen nicht ein. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Nicht-Überbaubarkeit einer Teilfläche des Nachbargrundstücks, auf welche die Abstandsfläche sich erstrecken kann, kann durch privatrechtlich vereinbarte Grunddienstbarkeit nach § 1018 BGB durch die ein entsprechendes Bauverbot festgelegt ist, gesichert werden. Die konkrete Absicherung erfolgt dadurch, dass das in Anspruch genommene Grundstück mit einer Grunddienstbarkeit nach § 1018 BGB belastet wird, mit dem Inhalt, dass die Abstandsflächen nicht überbaut werden dürfen. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbaranfechtungsklage, Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts (bejaht), Nicht-Überbaubarkeit einer Teilfläche des Nachbargrundstücks, Auslegung einer Grundbucheintragung, Bestimmtheit einer Abstandsflächendienstbarkeit (verneint)
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 01.12.2023 – 15 ZB 23.1692
Fundstelle:
BeckRS 2023, 27991
Tenor
I. Der Bescheid des Landratsamts ... vom 1. August 2022 (Az.: ...) in der Fassung des Tekturgenehmigungsbescheids vom 7. Juni 2023 (Az.: ...) wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen der Beklagte und die Beigeladene je zur Hälfte. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich als Nachbar gegen eine der beigeladenen Bauherrin erteilte Baugenehmigung samt Tekturgenehmigung für einen Dachgeschossausbau und den Umbau bestehender Wohnungen.
2
Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. ... der Gemarkung ... (nachfolgende Fl.Nrn. beziehen sich auf dieselbe Gemarkung), das mit einem Wohngebäude bebaut ist (Adresse: ...weg, ...).
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Die Beigeladene ist Eigentümerin des westlich an das Klägergrundstück angrenzenden Grundstücks Fl.Nr...., das mit einem Mehrfamilienhaus samt Garage bebaut ist (Adresse: ...weg,, im Folgenden: Baugrundstück).
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Die vorbezeichneten Grundstücke liegen im unbeplanten Innenbereich.
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Im Hinblick auf das klägerische Grundstück ist im Grundbuch (Amtsgericht, Band, Blatt ...) eine Baubeschränkung gemäß Bewilligung vom 17. März 1966 zugunsten des jeweiligen Eigentümers des Baugrundstücks sowie zugunsten der Gemeinde ... eingetragen. In der notariellen Urkunde vom 17. März 1966 heißt es auszugsweise:
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„Eheleute A. [Anmerkung: Voreigentümer des Baugrundstücks] beabsichtigen, das in einem Abstand von 70 cm ab der gemeinschaftlichen Grundstücksgrenze zu Fl.Nr. ... stehende Wohnhaus zu erweitern und aufzustocken. Nach der bayer. BO. ist ein Grenzabstand von vier Meter vorgesehen.
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Die Herren J. J. und S. J. [Anmerkung: Voreigentümer des Klägergrundstücks] erklären sich mit der Nichteinhaltung der Abstandsflächen für die Breite des Wohnhauses einverstanden, übernehmen die von den Eheleuten A. nicht eingehaltene Abstandsfläche von 3,30 Meter insoweit gemäß Art. 7 Abs. 4 der bayer. BO. auf ihr eigenes Flurstück ... und verpflichten sich für sich und ihre Rechtsnachfolger im Eigentum des Grundstücks Fl.Nr., neben der gesetzlich vorgesehenen Abstandsfläche auch die hienach zusätzlich übernommene Abstandsfläche von 3,30 Meter entlang des aufzustockenden Wohnhauses nicht zu überbauen. (…)“
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Für das Anwesen auf dem Baugrundstück wurde im Jahr 1955 ein Anbau genehmigt, der ausweislich der vorliegenden Planunterlagen einen Abstand zum klägerischen Grundstück von 0,50 m aufweist. Mit Bauantrag vom 3. März 1966 wurde unter dem Az. ... eine Aufstockung und Erweiterung des Wohnhauses auf dem Baugrundstück beantragt. In den Planunterlagen ist das zu erweiternde Wohnhaus auf dem Baugrundstück in einem Abstand von 0,70 m zum klägerischen Grundstück eingezeichnet. Die geplante Erweiterung umfasste zum einen die Erweiterung des Wohnhauses an der nord-östlichen Gebäudeseite, zum anderen einen 8,70 m langen und 5,20 m breiten Anbau an der östlichen Gebäudeseite in Richtung Süden. Von dem südlichen Anbau wurde im Laufe des Baugenehmigungsverfahrens Abstand genommen; dieser war nicht mehr Antragsgegenstand. Mit Bescheid vom 23. Mai 1966 wurde das Vorhaben – ohne den südlichen Anbau – genehmigt. Im Jahr 1968 wurde sodann eine Tektur zum Baugesuch ... beantragt. Diese beinhaltete den südlichen Anbau, von dem im Jahr 1966 Abstand genommen worden war. Mit Bescheid vom 5. März 1969 wurde der 8,70 m lange und 5,20 m breite Anbau genehmigt. In den mit Genehmigungsvermerk vom 5. März 1969 versehenen Planunterlagen sind das Bestandsgebäude sowie der südliche Anbau mit einem Abstand von 0,70 m zur Grundstücksgrenze des klägerischen Grundstücks dargestellt.
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Mit Formblattantrag vom 24. November 2021 beantragte die Beigeladene eine Baugenehmigung für einen Dachgeschossausbau eines Mehrfamilienhauses mit Gauben und den Umbau der bestehenden Wohnungen auf dem Baugrundstück.
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Der Kläger hat die Baupläne nicht unterzeichnet.
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Mit Schreiben vom 6. Juli 2022 beantragte die Beigeladene eine Abweichung hinsichtlich der östlichen Abstandsfläche, nachdem das Landratsamt mitgeteilt hatte, dass die Abstandsflächen nicht eingehalten würden.
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Aus dem Aktenvermerk des Landratsamts vom 22. Juli 2022 ergibt sich, dass das Landratsamt zwischenzeitlich zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die Abstandsflächendienstbarkeit für die Ostgrenze bestehe und eingehalten werde.
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Am 1. August 2022, dem Kläger zugestellt am 4. August 2022, erteilte das Landratsamt folgenden Bescheid (Az. ...):
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I. Die bauaufsichtliche Genehmigung zum Dachgeschossausbau und Umbau der bestehenden Wohnungen auf dem Grundstück Fl.Nr. ... wird entsprechend den mit Genehmigungsvermerk vom 1. August 2022 versehen Unterlagen erteilt.
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II. Abweichungen werden zugelassen:
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1. Hinsichtlich des Erfordernisses der Barrierefreiheit.
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2. Hinsichtlich der nicht ausreichenden Abstandsflächen zur Südgrenze.
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3. Hinsichtlich der Anforderungen einer Brandwand an der Ostseite des Gebäudes.
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Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen.
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Am 29. August 2022 hat der Kläger gegen diesen Bescheid Klage erhoben und mit Schriftsatz vom 7. November 2022 sodann beantragt,
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den Bescheid des Landratsamts vom 1. August 2022 (Az. ...) aufzuheben.
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Zur Klagebegründung wird ausgeführt, dass das Vorhaben bereits hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung Bedenken begegne. Es verstoße gegen den Gebietsprägungsanspruch. Vorliegend sei das Gebiet, in dem sich das Baugrundstück befinde, als Dorfgebiet im Sinne des § 34 Abs. 2 Baugesetzbuch (BauGB) i.V.m. § 5 Baunutzungsverordnung (BauNVO) einzustufen. Zwar sei unzweifelhaft, dass das Vorhaben mit seiner Wohnnutzung im Dorfgebiet grundsätzlich zulässig sei. Allerdings sei vorliegend die nähere Umgebung von Einfamilien- und Zweifamilienhäusern geprägt. Mit dem Vorhaben solle nun jedoch ein Wohnhaus mit fünf Wohneinheiten entstehen. Hier schlage die „Quantität in Qualität“ um. Im Übrigen befänden sich in der näheren Umgebung überwiegend landwirtschaftliche Betriebe. Auf deren Belange sei vorrangig Rücksicht zu nehmen. Die Errichtung eines Wohnhauses mit fünf Wohneinheiten laufe diesem Ziel zuwider. Dem Kläger stehe zudem ein Abwehranspruch wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme zu. Die Erschließungssituation des Klägergrundstücks werde durch das Vorhaben erheblich verschlechtert, da eine Überbelastung des das klägerische Grundstück erschließenden Sommerwegs zu befürchten sei. Dies gelte insbesondere mit Blick auf die genehmigten fünf Wohneinheiten und der damit einhergehenden, deutlich steigenden Bewohner- und auch Besucheranzahl. Der Verkehr auf dem Sommerweg werde sich mehr als verdoppeln. Aufgrund der beengten Park- bzw. Stellplatzsituation auf dem Baugrundstück bestehe die Befürchtung, dass Anwohner oder Besucher aufgrund nicht vorhandener Park- und Wendemöglichkeiten rückwärts auf die Hauptstraße (= Staats straße) ausfahren würden, was aufgrund er Nähe zur Bundesstraße ... als gefährlich angesehen werde. Der Kläger sei wegen der Lage seines Grundstücks in besonderer Weise den zu erwartenden Gefahren ausgesetzt. Das Vorhaben verstoße zudem gegen die bauordnungsrechtliche Abstandsflächenvorschrift des Art. 6 Bayerische Bauordnung (BayBO). Die einzuhaltenden Abstandsflächen in östlicher Richtung kämen nicht auf dem Vorhabengrundstück selbst, sondern größtenteils auf dem klägerischen Grundstück zum Liegen. Der Abstandsflächenverstoß könne nicht mit der im Grundbuch als Grunddienstbarkeit eingetragenen Baubeschränkung bzw. der notariellen Grenzabstandsvereinbarung vom 17. März 1966 gerechtfertigt werden. Diese entfalte keine Wirkung, da die Baubeschränkung bauvorhabenbezogene Beschränkungen enthalte. Beim Abschluss der Grenzabstandsvereinbarung sei von einem Abstand des Bestandsgebäudes auf dem Baugrundstück zur klägerischen Grundstücksgrenze von 0,70 m ausgegangen worden. Tatsächlich halte das Bestandsgebäude den vorgenannten Abstand jedoch nicht ein. Der geringste Grenzabstand im nördlichen Bereich liege ausweislich des genehmigten Abstandsflächenplans lediglich bei 0,36 m. Schon aus diesem Grund könne die geschlossene Grenzabstandsvereinbarung zu Gunsten des nunmehr streitgegenständlichen Bauvorhabens keine Wirkung mehr entfalten. Die Bestandskraft der streitgegenständlichen Baugenehmigung hätte eine gestattende Wirkung, durch die eine im Hinblick auf die Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück baurechtswidrige Bauausführung letztendlich legalisiert würde. Tatsächlich genieße das Bestandsgebäude auf dem Vorhabengrundstück in seiner derzeitigen Form aufgrund der baurechtswidrigen Zustände keinen Bestandsschutz. Zudem sei nicht klar, in welchem Umfang überhaupt Abstandsflächen übernommen und eine Baubeschränkung vereinbart worden seien. Hierbei sei von Bedeutung, dass sich die Rechtsvorgänger des Klägers mit der Nichteinhaltung der Abstandsfläche lediglich für die „Breite des Wohnhauses“ einverstanden erklärt und nur insoweit eine Abstandsfläche von 3,30 m übernommen hätten. Was die „Breite des Wohnhauses“ betreffe, sei die Baugenehmigung vom 23. Mai 1966 heranzuziehen. Deren Erteilung habe sich unmittelbar an den Abschluss der Grenzabstandsvereinbarung angeschlossen und stünde somit mit dieser in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang. Mit der Baugenehmigung vom 23. Mai 1966 sei lediglich die Aufstockung des Bestandsgebäudes genehmigt worden, nicht aber der Anbau in südlicher Richtung. Dieser sei erst Gegenstand der knapp drei Jahre später erteilten Baugenehmigung vom 5. März 1969 gewesen. Eine Auslegung der Grenzabstandsvereinbarung ergebe daher, dass sich diese nur auf das dabei gegenständliche Bauvorhaben beziehe. Deshalb seien Abstandsflächen auch nur für die „Breite des Wohnhauses“, welches Gegenstand der Genehmigung aus dem Jahre 1966 war, übernommen worden, nicht hingegen für die Breite des erst im Jahre 1969 genehmigten Anbaus in südlicher Richtung.
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Mit Beschluss vom 1. September 2022 wurde die Bauherrin zum Verfahren notwendig beigeladen.
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Mit Schriftsatz vom 20. September 2022 hat das Landratsamt für den Beklagten beantragt,
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Zur Klageerwiderung wird ausgeführt, dass durch die Zulassung von fünf Wohneinheiten im Gebäude keine nachbarschützenden Rechte verletzt würden. Die Zulassung der Umbaumaßnahmen an dem bestehenden Wohnhaus führe nicht zu einem Umschlagen von „Quantität in Qualität“ und berühre daher auch nicht die Art der baulichen Nutzung. Grundsätzlich sei die Anzahl der Wohneinheit kein Merkmal, das die Art der baulichen Nutzung präge. Bei der hier gegebenen Differenz von drei Wohnungen könne jedenfalls nicht davon gesprochen werden, dass dies zu einer andersartigen Nutzung führe. Eine Unzulässigkeit nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sei nicht ersichtlich, da der Umfang der Umbaumaßnahmen der Eigenart eines Dorfgebiets nicht widerspreche. Die verkehrliche Erschließung eines Grundstückes sei grundsätzlich nicht drittschützend. Jedenfalls führe das streitgegenständliche Vorhaben nicht zu unzumutbaren Beeinträchtigungen aufgrund der Erschließungs- bzw. der Parkplatzsituation. So habe der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, dass bei einer Errichtung eines Fünffamilienhauses und einer Erschließungssituation durch eine Anwohner straße als Sackgasse ohne Wendehammer, ohne Gehweg und mit nur 5 m Breite, keine so erhebliche Beeinträchtigung der Belange des Nachbarn vorliege, dass sich das Vorhaben als rücksichtslos darstellen würde. Vorliegend werde der Verkehr nicht in hohem Maße zunehmen. Auf dem Baugrundstück selbst seien ausreichend Stellplätze nachgewiesen worden. Auch die vom Kläger behauptete „Gefahrensituation“ – unterstellt sie läge vor – könne der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Diese beträfe allenfalls die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs (Art. 14 Abs. 2 BayBO). Dieser öffentliche Belang sei jedoch weder Prüfungsumfang im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren, noch drittschützend. Die Abstandsflächen nach Osten würden eingehalten. Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO dürften sich Abstandsflächen ganz oder teilweise auf andere Grundstücke erstrecken, wenn rechtlich oder tatsächlich gesichert sei, dass sie nicht überbaut würden, oder wenn der Nachbar gegenüber der Bauaufsichtsbehörde schriftlich zustimme. Vorliegend sei von der ersten Variante Gebrauch gemacht worden. So habe Art. 7 Abs. 4 Satz 1 BayBO in der Fassung vom 1. Oktober 1962 nur die Möglichkeit der rechtlichen Sicherung der Nichtüberbaubarkeit vorgesehen. Ein solches, dinglich gesichertes Bauverbot sei mit der „Grenzabstandsvereinbarung“ vom 17. März 1966 und der Eintragung einer „Baubeschränkung“ als Grunddienstbarkeit sowie als beschränkt persönliche Dienstbarkeit vereinbart worden. Inhalt der im Grundbuch eingetragenen Baubeschränkung sei die Verpflichtung, neben der gesetzlich vorgesehenen Abstände die zusätzliche Abstandsfläche von 3,30 m in der Länge des Wohnhauses nicht zu überbauen. Die Abstandsflächen des streitgegenständlichen Bauvorhabens gingen über diesen Bereich nicht hinaus, weshalb kein abstandsflächenrechtlicher Verstoß vorliege. Der Wortlaut der als „Grenzabstandsvereinbarung“ titulierten Eintragungsbewilligung halte fest, dass die damaligen Eigentümer das bestehende Wohnhaus auf dem Baugrundstück sowohl aufstocken als auch erweitern wollten. Dass an anderer Stelle der Vereinbarung nur vom aufzustockenden Wohnhaus gesprochen werde, sei angesichts der allgemein erkennbaren Begleitumstände als eine bloße Ungenauigkeit in der Formulierung zu verstehen. Denn damaliger Konsens sei gewesen, dass das Vorhaben so errichtet werden sollte, wie es im ursprünglichen Bauantrag mit dem Az. ... dargestellt gewesen sei. Zu dieser Darstellung habe auch der südliche Anbau gehört, der erst im Baugenehmigungsverfahren durch Roteintrag gestrichen worden sei. Der Konsens zeige sich zudem darin, dass sich auf dem Bauantrag jedenfalls die Unterschrift eines der betroffenen Miteigentümer des Nachbargrundstücks befinde und es im zeitlichen Zusammenhang damit zu der Grenzabstandsvereinbarung gekommen sei. Ebenfalls für die hier vertretene Auslegung spreche, dass auch die damalige Verkehrsauffassung die Grenzabstandsvereinbarung als das gesamte Vorhaben umfassend angesehen habe. Zum einen äußere sich diese Verkehrsauffassung in der Ziffer 4 der Baugenehmigung für den südlichen Anbau vom 5. März 1969, der die übernommenen Abstandsflächen thematisiere. Zum anderen zeige sich diese Auffassung darin, dass auch der Eingabeplan für die Erweiterung wieder von einem Miteigentümer des Nachbargrundstücks unterzeichnet worden sei. Dies bekräftige ebenfalls den Konsens zum Umfang der übernommenen Baubeschränkung für das gesamte Vorhaben. Dass das Bestandsgebäude nicht den in der Vereinbarung genannten (parallel verlaufenden) Abstand von 0,70 m zur westlichen Grundstücksgrenze einhalte, sei ohne Belang. Grundlage der Grenzabstandsvereinbarung sei das vorhandene Bestandsgebäude gewesen. Es habe Einigkeit zwischen den damaligen Vertragsparteien zur Lage des Bestandsgebäudes bestanden. Die Abstandsflächen seien auch nicht nur für das damalige Vorhaben übernommen worden.
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Mit Formblattantrag vom 23. Februar 2023 beantragte die Beigeladene eine Tektur zu dem mit Bescheid vom 1. August 2022 (Az. ...) genehmigten Vorhaben. Dem Tekturantrag war u.a. ein Antrag auf Befreiung von den Abstandsflächen nach Osten beigefügt.
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Mit Bescheid vom 7. Juni 2023 (Az. ...), dem Kläger zugestellt am 15. Juni 2023, erteilte das Landratsamt die bauaufsichtliche (Tektur-)Genehmigung zum Vorhaben „Verschiedene bauliche Änderungen beim Dachgeschossausbau eines Mehrfamilienhauses“ des bereits mit Bescheid vom 1. August 2022, Az., genehmigten Vorhabens auf dem Baugrundstück entsprechend den mit Genehmigungsvermerkt vom 7. Juni 2023 versehenen Unterlagen.
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Unter dem Punkt „Auflagen“ ist geregelt, dass die Bedingungen, Auflagen, Abweichungen und Hinweise der Erstgenehmigung vom 1. August 2022 in vollem Umfang weitergelten, soweit sie nicht durch diese Genehmigung geändert werden. In der Begründung des Bescheids heißt es, dass die beantragten Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Vorschriften, soweit erforderlich, bereits mit Bescheid vom 1. August 2022 gewährt worden seien.
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Mit Schriftsatz vom 3. Juli 2023 beantragte die Klägerbevollmächtigte die Einbeziehung des Bescheids vom 7. Juni 2023 in das laufende Verfahren. Durch die Tekturgenehmigung ändere sich nichts, was die klägerischen Bedenken gegenüber dem Vorhaben ausräumen könnte.
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Mit Schriftsatz vom 1. August 2023 hat der Bevollmächtigte der Beigeladenen beantragt,
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass keine nachbarschützenden Vorschriften verletzt seien. Eine Verletzung des Gebietsprägungsanspruchs sei nicht ersichtlich. Auch eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots sei nicht ersichtlich. Ferne verstoße das Vorhaben nicht gegen Abstandsflächenvorschriften. Aus Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO in Verbindung mit der im Grundbuch eingetragenen Grenzabstandsvereinbarung vom 17. März 1966 ergebe sich, dass die östliche Abstandsfläche auf dem Klägergrundstück liegen dürfe. Abstandsflächendienstbarkeiten und sonstige Grunddienstbarkeiten seien regelmäßig nicht auf ein bestimmtes Bauvorhaben beschränkt. Aufgrund des dinglichen, abstrakten Inhaltes dieser Grunddienstbarkeit komme es somit weder darauf an, dass das Bestandsgebäude nicht exakt mit dem damals vorgesehenen Grenzabstand von 0,70 m zum Klägergrundstück errichtet worden sei, noch, dass die Beigeladene nunmehr bauliche Änderungen an dem Bestandsgebäude vornehme. In der Klagebegründung werde dem Grunde nach zutreffend ausgeführt, dass bei der Auslegung einer Grunddienstbarkeit auf den Wortlaut und den Sinn der Grundbucheintragung abzustellen sei, wie er sich aus der Grunddienstbarkeit und aus der in Bezug genommenen Eintragsbewilligung für den unbefangenen Betrachter als nächstliegende Bedeutung des Eingetragenen ergebe. Der Grundbucheintrag laute vorliegend „Baubeschränkung“ und nehme somit in keiner Weise Bezug auf ein bestimmtes Bestandsgebäude auf dem herrschenden Grundstück und/oder auf ein bestimmtes Bauvorhaben. Die Klägerseite mache geltend, dass sich die Grunddienstbarkeit allein auf das mit Genehmigungsbescheid vom 23. Mai 1966 genehmigte Vorhaben der Wohnhausaufstockung beziehe und dass sich nur danach die „Breite des Wohnhauses“ gemäß der Baubeschränkung bestimme. Dies sei nicht zutreffend und werde im Übrigen auch der bisherigen offensichtlichen Handhabung der Grunddienstbarkeit durch die Beteiligten nicht gerecht. Die Bewilligungsurkunde bringe klar zum Ausdruck, dass die Baubeschränkung nicht allein zur Aufstockung des Wohngebäudes bestellt werden sollte. Dem entspreche, dass der damalige Bauantrag des damaligen Eigentümers des Baugrundstücks vom 3. März 1966 auf der Südseite des Bestandswohnhauses einen zweigeschossigen Anbau vorgesehen habe. Dieses Bauvorhaben sei als Wohnhausaufstockung und Erweiterung bezeichnet worden. Von dem Anbau sei dann Abstand genommen worden. Diese Entscheidung sei im Genehmigungsverfahren und vor Erteilung der Baugenehmigung vom damaligen Bauherrn getroffen worden, jedoch nicht Gegenstand der Baubeschränkung gewesen. Andernfalls wäre in der Baubeschränkung nicht ausdrücklich auch von der Erweiterung des damals bestehenden Wohnhauses die Rede gewesen. Den damaligen Eigentümern des Klägergrundstücks seien die damaligen Baupläne bekannt gewesen, wie sich aus den Unterschriften auf den damaligen Planunterlagen ergebe. Die Baubeschränkung beziehe sich damit auch auf den südlichen Anbau, der dann 1969 genehmigt und ausgeführt worden sei. Damit sei auch für das streitgegenständliche Vorhaben in der nunmehr maßgeblichen Fassung die Verlagerung der Abstandsflächen auf das Klägergrundstück in ausreichender Weise gesichert.
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Am 3. August 2023 wurde in der Sache mündlich verhandelt. Auf das hierbei gefertigte Protokoll wird ergänzend verwiesen, ebenso wegen der weiteren Einzelheiten auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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1. Die Klage ist zulässig.
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Der Kläger ist klagebefugt, § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Als direkt angrenzender Nachbar kann er sich auf die Möglichkeit einer Verletzung in drittschützenden Normen berufen.
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2. Die Klage ist begründet. Der Bescheid des Landratsamts vom 1. August 2022 in der Fassung des Tekturgenehmigungsbescheids vom 7. Juni 2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Dritte – wie hier der Kläger als Nachbar – können sich mit einer Anfechtungsklage nicht schon dann gegen einen Baugenehmigungsbescheid zur Wehr setzen, wenn dieser lediglich (objektiv) rechtswidrig ist. Vielmehr muss mit Blick auf § 42 Abs. 2, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO für den Erfolg der Nachbarklage eine subjektive Rechtsverletzung des Nachbarn vorliegen. Hierfür muss eine Norm verletzt worden sein, die gerade dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt ist (BayVGH, B.v. 13.9.2022 – 15 CS 22.1851 – juris Rn. 8; B.v. 11.10.2022 – 15 ZB 22.868 – juris Rn. 70).
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a) Dies vorausgeschickt, liegt eine Rechtsverletzung des Klägers vor, da die Baugenehmigung gegen nachbarschützende Rechte des Bauordnungsrechts verstößt. Das Vorhaben hält die erforderlichen Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO nicht ein.
41
aa) Art. 6 BayBO stellt mit seinem Zweck, im nachbarlichen Verhältnis insbesondere eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung zu gewährleisten, eine Schutznorm dar, die subjektive Abwehrrechte des Eigentümers des unmittelbar angrenzenden Grundstücks, in dessen Richtung die Abstandsfläche auf dem Baugrundstück selbst nicht eingehalten werden kann, begründet (BayVGH, B.v. 13.9.2022 – 15 CS 22.1851 – juris Rn. 10). Der Nachbar hat ein subjektiv-öffentliches Recht darauf, dass die im Einzelfall vorgeschriebene Abstandsfläche eingehalten und davon nur im Einklang mit den Ermächtigungen in Bebauungsplänen oder örtlichen Bauvorschriften (Art. 6 Abs. 5 Satz 2, Art. 81 Abs. 1 Nr. 6 BayBO) oder durch Zulassung von Abweichungen (Art. 63 BayBO) abgewichen wird (Hahn/Kraus in Busse/Kraus, BayBO, Stand: 149. EL Januar 2023, Art. 6 Rn. 550).
42
bb) Vorliegend handelt es sich zwar um ein Bestandsgebäude, das an dieser Stelle seit Jahrzehnten bereits vorhanden ist. Das Bauvorhaben beinhaltet im Wesentlichen einen Dachgeschossausbau und den Umbau bestehender Wohnungen. Zwischen den Beteiligten ist jedoch unstreitig, dass das Bauvorhaben eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung erforderlich macht.
43
Die Frage der Beurteilung von Abstandsflächen ergibt sich nicht nur bei Neubauten, sondern kann auch bei Nutzungsänderungen oder baulichen Veränderungen neu aufgeworfen werden. Eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung ist bei der Änderung eines Gebäudes immer dann veranlasst, wenn sich entweder die für die Ermittlung der Abstandsflächentiefe relevanten Merkmale ändern oder wenn sich im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung oder des nachbarlichen „Wohnfriedens“ ergeben können (BayVGH, B.v. 27.2.2015 – 15 ZB 13.2384 – juris Rn. 11).
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Dies ergibt sich vorliegend – unabhängig davon, ob abstandsflächenrechtliche Merkmale des Bestands von der baulichen Änderung betroffen werden – bereits daraus, dass durch die Entstehung zusätzlicher Wohneinheiten und die beantragte Nutzung der Dachterrasse in unmittelbarer Nähe zur Grenze nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass spürbare nachteilige Auswirkungen hinsichtlich des durch das Abstandsflächenrecht u.a. geschützten Belangs des nachbarlichen „Wohnfriedens“ zu Lasten des Klägers möglich sind (zur abstandsflächenrechtlichen Neubetrachtung bei der Entstehung einer zusätzlichen Wohneinheit: BayVGH, B.v. 19.9.2022 – 9 CS 22.1627 – juris Rn. 13).
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cc) Vorliegend ist ferner unstreitig, dass das Vorhaben die Abstandsfläche zum Klägergrundstück nicht einhält. Ausweislich des vorgelegten und genehmigten Abstandsflächenplans zur Tekturgenehmigung kommt die Abstandsfläche der östlichen Wand des Bauvorhabens mit bis zu 3,21 m auf dem klägerischen Grundstück zum Liegen.
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dd) Eine Abweichung nach Art. 63 BayBO hinsichtlich der Abstandsfläche nach Osten wurde weder im Bescheid vom 1. August 2022 noch im Tekturgenehmigungsbescheids vom 7. Juni 2023 erteilt.
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ee) Entgegen der Auffassung des Beklagten und der Beigeladenen kommt die Regelung des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO nicht zur Anwendung. Die Abstandsflächen dürfen sich nicht auf das klägerische Grundstück erstrecken.
48
Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO dürfen sich Abstandsflächen ganz oder teilweise auf andere Grundstücke erstrecken, wenn rechtlich oder tatsächlich gesichert ist, dass sie nicht überbaut werden, oder wenn der Nachbar gegenüber der Bauaufsichtsbehörde schriftlich zustimmt. Die Zustimmung des Nachbarn gilt auch für und gegen seinen Rechtsnachfolger.
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Da unstreitig keine Zustimmungserklärung des Klägers bezüglich des streitgegenständlichen Bauvorhabens vorliegt, scheidet die Anwendung des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 BayBO aus. In Betracht kommt vorliegend also allein die Anwendung des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BayBO, d.h. eine rechtliche oder tatsächliche Sicherung, dass die Fläche, auf der die Abstandsfläche auf dem Klägergrundstück zum Liegen kommt, nicht überbaut wird.
50
(1) Der Beklagte und die Beigeladene berufen sich auf eine Nichtüberbaubarkeit aufgrund der im Grundbuch eingetragenen „Baubeschränkung“ zugunsten des Baugrundstücks gemäß Bewilligung vom 17. März 1966. In der „Grenzabstandsvereinbarung“ in der Bewilligung vom 17. März 1966 heißt es, dass die Abstandsfläche von 3,30 m gemäß Art. 7 Abs. 4 BayBO übernommen werde und dass man sich verpflichte, diese Abstandsfläche nicht zu überbauen. Nach Art. 7 Abs. 4 BayBO i.d.F. vom 1. August 1962 können sich die Abstandsflächen ganz oder teilweise auf das Nachbargrundstück erstrecken, wenn rechtlich gesichert ist, dass sie nicht überbaut werden. Diese Regelung entspricht also dem heutigen Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 Alt. 1 BayBO.
51
(2) Die Nicht-Überbaubarkeit einer Teilfläche des Nachbargrundstücks, auf welche die Abstandsfläche sich erstrecken kann, kann durch privatrechtlich vereinbarte Grunddienstbarkeit nach § 1018 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), durch die ein entsprechendes Bauverbot festgelegt ist, gesichert werden. Die konkrete Absicherung erfolgt dadurch, dass das in Anspruch genommene Grundstück mit einer Grunddienstbarkeit nach § 1018 BGB belastet wird, mit dem Inhalt, dass die Abstandsflächen nicht überbaut werden dürfen (Hahn in Busse/Kraus, BayBO, Stand: 150. EL Februar 2023, Art. 6 Rn. 115). Das Bestimmtheitsgebot erfordert, dass der Umfang der Belastung der Grunddienstbarkeit aus der Eintragung selbst oder aus ihr in Verbindung mit der Eintragungsbewilligung ohne weiteres ersichtlich ist. Nach der Rechtsprechung muss der Rechtsinhalt aufgrund objektiver Umstände erkennbar und für einen Dritten verständlich sein, sodass dieser in der Lage ist, die hieraus folgende, höchstmögliche Belastung des Grundstücks einzuschätzen und zumindest eine ungefähre Vorstellung zu entwickeln, welche Auswirkungen die Dienstbarkeit für das Eigentum haben kann. Das Bestimmtheitsgebot ist nicht schon dann verletzt, wenn die Beteiligten unterschiedlicher Auffassung über den Inhalt des Rechts sind, sondern erst dann, wenn die richterliche Auslegung der Grundbucheintragung und ggf. der in Bezug genommenen Eintragungsbewilligung ergibt, dass der Inhalt der Grunddienstbarkeit mehrdeutig oder nicht vollständig geregelt ist. Die erforderliche Bestimmtheit ergibt sich somit infolge einer Auslegung des Inhalts des Grundbuchs (Mohr in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2023, § 1018 Rn. 13). Bei der Auslegung der Grundbucheintragung sind die Funktionen des Grundbuchs zu berücksichtigen. Es verwirklicht den Publizitätsgrundsatz und soll dem Einsichtnehmenden über den Bestand und die Reichweite der eingetragenen Rechte zuverlässig Auskunft geben. Die Rechtsprechung geht bei der Auslegung der Grundbucheintragung von strengen Auslegungsmaßstäben aus (Kazele in BeckOGK BGB, Stand: 1.5.2023, § 1018 Rn. 319). Zur Ermittlung des Inhalts einer Dienstbarkeit ist nach allgemeiner Ansicht – wovon auch die Beteiligten ausgehen – vorrangig auf Wortlaut und Sinn der Grundbucheintragung und der in Bezug genommenen (§ 874 BGB) Eintragungsbewilligung abzustellen, wie er sich für einen unbefangenen Betrachter als nächstliegende Bedeutung des Eingetragenen ergibt. Im Hinblick auf den öffentlichen Glauben des Grundbuchs (§ 892 BGB) kommt es auf den objektiven Regelungsgehalt der Dienstbarkeit an, für den wiederum allein die sich auf die Grunddienstbarkeit beziehende Grundbucheintragung einschließlich der zulässig in Bezug genommenen Urkunden maßgeblich sind (BayVGH, B.v. 5.3.2007 – 2 CS 07.81 – juris Rn. 5). Umstände außerhalb dieser Urkunden dürfen jedoch insoweit mit herangezogen werden, als sie nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles für jedermann ohne weiteres erkennbar sind (st. Rspr., BGH, U.v. 8.2.2002 – V ZR 252/00 – juris Rn. 10; B.v. 17.1.2019 – V ZB 81/18 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 10.7.2014 – 9 CS 14.998 – juris Rn. 16).
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Die Entstehungsgeschichte des dinglichen Vertrags über die Bestellung der Dienstbarkeit und etwaige Schriftwechsel der Parteien müssen unberücksichtigt bleiben (Mohr in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2023, § 1018 Rn. 19; Kazele in BeckOGK BGB, Stand: 1.5.2023, § 1018 Rn. 326). Nicht berücksichtigungsfähig ist auch die Bezugnahme auf ein Baugesuch, das weder näher beschrieben noch sonst zulässigerweise zum Inhalt der Eintragungsbewilligung gemacht wurde (Kazele in BeckOGK BGB, Stand: 1.5.2023, § 1018 Rn. 326 unter Hinweis auf BayOLG, B.v. 26.10.1983 – BReg. 2 Z 83/83 – BayObLGZ 1983, 255 f.). Nach der Entscheidung des BayOLG muss der Inhalt der Belastung in der dem Eintragungsvermerk zugrundeliegenden Eintragungsbewilligung eindeutig bezeichnet sein. Die wörtliche Beschreibung des Inhalts der Dienstbarkeit in der notariell beglaubigten Erklärung ist dafür nicht ausreichend. Das Baugesuch (samt Plänen) müsste näher beschrieben oder sonst zulässigerweise zum Inhalt der Eintragungsbewilligung gemacht werden, etwa durch Bezugnahme auf einen bestimmten Plan, eine Lageskizze o. ä., aus denen der Ausübungsbereich unmittelbar ersichtlich ist. Dass sich das Baugesuch in den Unterlagen des Berechtigten der beschränkten persönlichen Dienstbarkeit, befindet, vermag die für jedermann erkennbare, erforderliche Bestimmtheit des Inhalts des Grundbuchs nicht zu schaffen (BayOLG, B.v. 26.10.1983 – BReg. 2 Z 83/83 – BayObLGZ 1983, 255 f.).
53
Wird also die Ausübung einer Grunddienstbarkeit auf einen Grundstücksteil beschränkt, muss die Ausübungsstelle als Grundstücksfläche in der Eintragungsbewilligung mit der notwendigen Bestimmtheit (somit eindeutig) bezeichnet (dargestellt) werden. Hierzu kann entweder die Fläche in der Eintragungsbewilligung so genau beschrieben werden, dass sie in der Natur ohne weiteres feststellbar ist, oder in der Eintragungsbewilligung wird auf eine allgemein zugängliche Karte (Flurkarte, Plan, Skizze) Bezug genommen, in die die Ausübungsstelle eingezeichnet ist. Das Bestimmtheitserfordernis verlangt in diesem Fall, dass Karte und Zeichnung über die Lageverhältnisse eindeutig Auskunft geben (OLG Düsseldorf, B.v. 11.8.2020 – I-3 Wx 127/20 – juris Rn. 18).
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(3) Dies zugrundegelegt, genügt die im Grundbuch des Klägergrundstücks eingetragene Grunddienstbarkeit („Baubeschränkung“) nach der Rechtsauffassung der Kammer nicht dem sachenrechtlichen Bestimmtheitsgebot.
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Im Grundbuch des Klägergrundstücks ist zugunsten des jeweiligen Eigentümers des Baugrundstücks eine Baubeschränkung gemäß Bewilligung vom 17. März 1966 eingetragen. Die Bewilligung vom 17. März 1966 ist in der als „Grenzabstandsvereinbarung“ bezeichneten Urkunde enthalten. Hier heißt es auszugsweise:
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„Eheleute A. [Anmerkung: Voreigentümer des Baugrundstücks] beabsichtigen, das in einem Abstand von 70 cm ab der gemeinschaftlichen Grundstücksgrenze zu Fl.Nr. ... stehende Wohnhaus zu erweitern und aufzustocken. Nach der bayer. BO. ist ein Grenzabstand von vier Meter vorgesehen.
57
Die Herren J. J. und S. J. [Anmerkung: Voreigentümer des Klägergrundstücks] erklären sich mit der Nichteinhaltung der Abstandsflächen für die Breite des Wohnhauses einverstanden, übernehmen die von den Eheleuten A. nicht eingehaltene Abstandsfläche von 3,30 Meter insoweit gemäß Art. 7 Abs. 4 der bayer. BO. auf ihr eigenes Flurstück ... und verpflichten sich für sich und ihre Rechtsnachfolger im Eigentum des Grundstücks Fl.Nr., neben der gesetzlich vorgesehenen Abstandsfläche auch die hienach zusätzlich übernommene Abstandsfläche von 3,30 Meter entlang des aufzustockenden Wohnhauses nicht zu überbauen. (…)“
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Der Bewilligungsurkunde ist keine Anlage (Plan, Lageskizze o.ä.) beigefügt, aus der sich der konkrete Umfang der Dienstbarkeit ergibt. Auch auf das – zum Zeitpunkt der Bewilligung bereits eingereichte Baugesuch der vormaligen Eigentümer des Baugrundstücks mit Planunterlagen vom 3. März 1966 – wird in der Bewilligungsurkunde nicht konkret Bezug genommen. Es wird lediglich einleitend vorangestellt, dass die Eigentümer des Baugrundstücks „beabsichtigen“, das Wohnhaus zu erweitern und aufzustocken. Dass bereits ein Bauantrag mit Planunterlagen eingereicht wurde, wird nicht erwähnt.
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Legt man die Behördenakte und den sich daraus ergebenden Zeitablauf zugrunde, könnte man zwar zu dem Ergebnis gelangen, dass mit dem „zu erweiternden und aufzustockenden Wohnhaus“ das Vorhaben gemeint sein sollte, das mit Planunterlagen vom 3. März 1966 zur Genehmigung gestellt wurde, d.h. dass der südliche Anbau erfasst sein sollte. Zum Zeitpunkt der Bewilligung am 17. März 1966 war der südliche Anbau als Erweiterung wohl noch Antragsgegenstand, wobei sich den vorgelegten Behördenakten nicht zweifelsfrei entnehmen lässt, wann von dem südlichen Anbau Abstand genommen wurde. Dafür, dass sich die Baubeschränkung/Abstandsflächenübernahme auf die Fläche des Wohnhauses inklusive dem südlichen Anbau beziehen sollte, spricht, dass der südliche Anbau im Jahr 1969 in gleicher Länge wie im Jahr 1966 zunächst vorgesehen (8,70 m) letztlich genehmigt und im Einvernehmen mit den damaligen Eigentümern des Klägergrundstücks realisiert wurde.
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Gleichwohl geht die Kammer nach den oben genannten Grundsätzen davon aus, dass der Inhalt bzw. Umfang der Grunddienstbarkeit nicht hinreichend bestimmt bezeichnet ist. Wie bereits erwähnt, wurde das zur Genehmigung gestellte Baugesuch weder näher beschrieben noch wurde es sonst zulässigerweise zum Inhalt der Eintragungsbewilligung gemacht. Der Umfang der Grunddienstbarkeit ist damit weder der Grundbucheintragung noch der in Bezug genommenen Bewilligungsurkunde zu entnehmen. Zwar könnte man aus den Inhalten der Behördenakten unter Zugrundelegung der kompletten Historie zu dem Ergebnis gelangen, dass sich die Grunddienstbarkeit auf das Wohnhaus inklusive dem südlichen Anbau beziehen sollte. Umstände außerhalb der Grundbucheintragung und der in Bezug genommenen Bewilligungserklärung – die vorliegend keine Anlage enthält, aus der der Umfang ersichtlich ist – dürfen aber – wie oben ausgeführt – nur insoweit mit herangezogen werden, als sie nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalls für jedermann ohne weiteres erkennbar sind. Das gegebenenfalls zugrundeliegende Baugesuch (Planungsstand: 3. März 1966) ist zwar in den Unterlagen der Gemeinde ... bzw. des Landratsamts enthalten, aber die Bewilligung nimmt hierauf keinen eindeutigen Bezug und die geforderte, für jedermann erkennbare, erforderliche Bestimmtheit des Inhalts des Grundbuchs wäre damit ohnehin nicht zu erreichen.
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Zudem ist auch die „Grenzabstandsvereinbarung“ selbst in ihrem Wortlaut nicht eindeutig: So ist einmal die Rede von einem „zu erweiternden und aufzustockenden Wohnhaus“, dann von der „Breite des Wohnhauses“, wobei nicht klar ist, welche Breite damit gemeint ist, und zuletzt bezieht sich die Verpflichtung, nicht zu überbauen, auf „die Fläche entlang des aufzustockenden Wohnhauses“. Dabei wäre der südliche Anbau kein Teil des „aufzustockenden Wohnhauses“ gewesen, weil er als Ganzes neu hinzukommen sollte. Sofern der Bevollmächtigte der Beigeladenen vorgetragen hat, dass in der Baubeschränkung ausdrücklich auch von einer Erweiterung des damals bestehenden Wohnhauses die Rede gewesen sei, was darauf schließen lasse, dass der südliche Anbau umfasst sein müsse, ist darauf hinzuweisen, dass im Jahr 1966 trotz der Streichung des südlichen Anbaus neben einer Aufstockung des Wohnhauses auch eine Erweiterung desselben tatsächlich realisiert wurde. In den Planunterlagen vom 3. März 1966 (Bl. 107 f. der Behördenakte) ist als Erweiterung zum einen (noch) der südliche Anbau dargestellt. Dieser wurde – wie bereits ausgeführt – im Laufe des Baugenehmigungsverfahrens gestrichen. Zum anderen sehen die Planunterlagen vor, dass das bestehende Wohnhaus an der nord-östlichen Ecke des Gebäudes um einen Anbau von 4,10 m in der Nord-Süd-Ausrichtung und von 6,40 m in der Ost-West-Ausrichtung erweitert werden sollte. Diese nord-östliche Ecke des Gebäudes war nach den Planunterlagen vom 7. März 1955 (Bl. 113 der Behördenakte) zuvor noch nicht vorhanden. Die vorgenannte Erweiterung an der nord-östlichen Gebäudeseite wurde mit Bescheid vom 23. Mai 1966 dann genehmigt und realisiert. Das zeigt sich daran, dass der Anbau an der nord-östlichen Ecke des Wohnhauses in den Planunterlagen zum südlichen Anbau vom 4. Februar 1968 als Bestand eingezeichnet ist. Es ist also nicht so, dass die beantragte Erweiterung des Wohnhauses im Jahr 1966 nur den südlichen Anbau umfassen sollte. Tatsächlich wurde das Wohnhaus auf dem Baugrundstück auf Basis der Baugenehmigung vom 23. Mai 1966 aufgestockt und an der nord-östlichen Ecke des Gebäudes auch erweitert. Da sich den Behördenakten nicht entnehmen lässt, wann von der Realisierung des südlichen Anbaus tatsächlich Abstand genommen wurde, ob dies also ggf. noch vor der „Grenzabstandsvereinbarung“ am 17. März 1966 zwischen den Grundstückseigentümern besprochen wurde, ist nicht ausgeschlossen, dass die in der „Grenzabstandvereinbarung“ angesprochene Erweiterung nur den nord-östlichen Teil des Gebäudes im Blick hatte. Geht man also nach dem Wortlaut der „Grenzabstandsvereinbarung“, in der einleitend ausgeführt wird, dass die Eigentümer des Baugrundstücks das Wohnhaus erweitern und aufstocken wollen, so könnte damit auch die Erweiterung an der nord-östlichen Ecke des Wohnhauses gemeint sein. Bei dieser Erweiterung handelt es sich auch um das Wohnhaus selbst, wohingegen der südliche Anbau im Erdgeschoss Garagen vorgesehen hatte. In der „Grenzabstandsvereinbarung“ finden Garagen allerdings keinerlei Erwähnung, es wird stets nur das Wohnhaus thematisiert. Es ist damit nicht ausgeschlossen, dass der südliche Garagenanbau von der „Breite des Wohnhauses“, für die die Eigentümer des Klägergrundstücks sich mit der Nichteinhaltung der Abstandsfläche einverstanden erklärt haben, nicht umfasst sein sollte. Wie ausgeführt, erfolgte am südlichen Anbau auch keine Aufstockung, sondern dieser sollte als Ganzes neu dazu kommen. Der in der „Grenzabstandsvereinbarung“ verwendete Wortlaut „entlang des aufzustockenden Wohnhauses“ passt hierfür letztlich doppelt nicht (keine Aufstockung und nicht nur Wohnhaus, sondern Garagen im Erdgeschoss).
62
Dabei verkennt die Kammer nicht, dass nach der Rechtsprechung des BGH außerhalb der Urkunden liegende Umstände insoweit mit herangezogen werden dürfen, als sie nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles für jedermann ohne weiteres erkennbar sind, wozu auch die tatsächliche Handhabung bei der Bestellung der Dienstbarkeit zählt (BGH, U.v. 6.2.2009 – V ZR 139/08 – juris Rn. 13; U.v. 20.5.1988 – V ZR 29/87 – juris Rn. 23). Der Wortlaut der in das Grundbuch eingetragenen Dienstbarkeit spricht vorliegend aufgrund der o.g. Punkte jedoch so uneindeutig für die Einbeziehung des südlichen Anbaus, dass die tatsächliche Handhabung nach Rechtsauffassung der Kammer nicht zu einer Auslegung der Dienstbarkeit über den Wortlaut hinaus herangezogen werden kann. Dabei ist auch zu sehen, dass es nach der Rechtsprechung des BGH maßgeblich auf den Zeitpunkt der Bestellung der Dienstbarkeit ankommt. Die „Duldung“ des erst mehr als zwei Jahre nach der Bestellung der Dienstbarkeit genehmigten und realisierten südlichen Anbaus erfolgte insofern erst nach dem maßgeblichen Zeitpunkt. Anders als in den vom BGH entschiedenen Fällen war es im maßgeblichen Zeitpunkt der Bestellung der Dienstbarkeit also gerade nicht für jedermann ohne weiteres erkennbar, dass die Dienstbarkeit womöglich auch den südlichen Anbau umfassen sollte.
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(4) Da die Abstandsflächenübernahme nicht im hinreichend bestimmten Umfang bestellt und in das Grundbuch eingetragen wurde, kann sich das Vorhaben nicht auf Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 Alt. 1 BayBO stützen. Weil die Abstandsfläche der östlichen Wand des Bauvorhabens auf dem klägerischen Grundstück zum Liegen kommt und auch keine (rechtmäßige) Abweichung nach Art. 63 BayBO erteilt wurde, verstößt das Vorhaben zulasten des Klägers gegen die nachbarschützende Vorschrift des Art. 6 BayBO.
64
b) Ob die streitgegenständliche Baugenehmigung darüber hinaus gegen nachbarschützende Rechte des Bauplanungsrechts verstößt, kann dahingestellt bleiben.
65
3. Da die streitgegenständliche Baugenehmigung in der Fassung des Tekturgenehmigungsbescheids nach alldem rechtswidrig ist und den Kläger in seinen nachbarschützenden Rechten verletzt, ist sie gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben.
66
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene hat die Kosten des Verfahrens anteilig mit dem Beklagten zu tragen, weil sie diesen mit einem gleichgerichteten Antrag unterstützt hat, aber mit diesem Antrag unterlegen ist (§ 154 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Der kostenpflichtige Teil besteht i.S.d. § 159 S. 1 VwGO aus mehreren Personen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst, da zwischen Beklagtem und ihr keine Kostenerstattung stattfindet.
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5. Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 11 Zivilprozessordnung (ZPO), § 711 ZPO.