Titel:
Eintritt der Rücknahmefiktion – erfolgloses Rechtsmittel
Normenkette:
VwGO § 84 Abs. 4, § 86 Abs. 1, § 92 Abs. 2 S. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 5, § 124a Abs. 4 S. 4
Leitsätze:
1. Die Rücknahmefiktion setzt aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 103 Abs. 1 GG) voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Anforderung eines substantiellen Vorbringens genügt es jedenfalls nicht, wenn ein Antragsteller auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteilt, er wolle das Verfahren weiter betreiben, oder bei mehreren erbetenen Verfahrenshandlungen nur diejenige vornimmt, die zur Erfüllung seiner prozessualen Mitwirkungspflicht offensichtlich von nur untergeordneter Bedeutung ist. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rücknahmefiktion, Betreibensaufforderung, Aufforderung zur Klagebegründung, Zulassungsantrag, Verfahrensfehler, Klagebegründung, verfassungsrechtliche Anforderungen, Desinteresse, substanzielles Vorbringen, Rechtsschutzbedürfnis, Amtsermittlungsgrundsatz
Vorinstanz:
VG Bayreuth, Urteil vom 15.12.2021 – B 8 K 21.964
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2793
Tenor
I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 15. Dezember 2021 – B 8 K 21.964 – wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 1.000,00 € festgesetzt.
Gründe
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg
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Mit den fristgerecht vorgebrachten Gründen wird keiner der geltend gemachten Verfahrensmängel und damit auch kein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
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1. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Fortführung des eingestellten Klageverfahrens abgelehnt und ist davon ausgegangen, dass die am 2. Januar 2018 erhobene Klage nach § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen gilt. Es hat – durch Bezugnahme auf den zuvor ergangenen Gerichtsbescheid (§ 84 Abs. 4 VwGO) – ausgeführt, dass der Kläger das Verfahren im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung vom 16. Juni 2020 unzureichend betrieben und Anlass für die Annahme gegeben habe, sein Rechtsschutzbedürfnis sei entfallen. Denn spätestens mit Erlass des ablehnenden Bescheids des Amts für Ernährung und Landwirtschaft vom 31. Dezember 2018 und Vorlage der Behördenakten habe er Anlass und Gelegenheit gehabt, die behördlichen Aussagen im Hinblick auf die bemängelten Angaben (im Mehrfachantrag) und Nachweise zu den landwirtschaftlichen Flächen und deren Nutzungen Stellung zu nehmen. Der Kläger habe jedoch trotz mehrfacher Aufforderungen seine Klage nicht im Ansatz begründet. Die der Rücknahmefiktion zugrundeliegende Betreibensaufforderung des Gerichts sei ordnungsgemäß erfolgt. Der Kläger habe gleichwohl das Verfahren nicht ausreichend betrieben, sodass mit Ablauf der gesetzten Frist die Fiktion der Klagerücknahme eingetreten sei. Dem Kläger sei auch keine Wiedereinsetzung in die Zwei-Monatsfrist des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu gewähren.
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2. Die Einwände des Klägers gegen diese näher begründeten Annahmen des Verwaltungsgerichts legen keinen Verfahrensmangel dar.
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a) Der Kläger meint, das Verwaltungsgericht habe unter verschiedenen Gesichtspunkten die verfassungsrechtlichen Grenzen der Ausnahmevorschrift des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht beachtet. Insbesondere habe es die Betreibensaufforderung in unzulässiger Weise als Mittel der Sachaufklärung benutzt. Weiter habe der Kläger aufgrund der innerhalb der Zwei-Monatsfrist vorgetragenen Gründe davon ausgehen dürfen, dass ihm noch ausreichend Zeit zur Verfügung stehe, seine Klage nach vollständiger Akteneinsicht zu begründen. Mit seinen Einwänden zeigt er indes nicht substantiiert und schlüssig in Auseinandersetzung mit der auf den Einzelfall bezogenen Argumentation des Verwaltungsgerichts auf, inwiefern diese Verfahrensbestimmung verletzt sein soll.
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Nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Die Rücknahmefiktion setzt aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 GG) voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Solche konkreten Zweifel können sich etwa aus dem den Verfahrensakten zu entnehmenden fallbezogenen Verhalten des jeweiligen Klägers, aber auch daraus ergeben, dass der Kläger prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt hat. Stets muss sich daraus aber der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des jeweiligen Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen können; denn § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (BVerwG, B.v. 5.7.2000 – 8 B 119.00 – juris Rn. 3). Dementsprechend hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr im Sinn von § 92 Abs. 2 Satz VwGO betrieben, wenn er innerhalb der Zwei-Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2012 – 1 BvR 2254/11 – juris Rn. 29). Wann diese Voraussetzungen gegeben sind, lässt sich naturgemäß nicht abstrakt umschreiben, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere den Gründen für die Betreibensaufforderung und den konkret erbetenen Verfahrenshandlungen ab. Der Anforderung eines substantiellen Vorbringens genügt es jedenfalls nicht, wenn ein Antragsteller auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteilt, er wolle das Verfahren weiter betreiben, oder bei mehreren erbetenen Verfahrenshandlungen nur diejenige vornimmt, die zur Erfüllung seiner prozessualen Mitwirkungspflicht offensichtlich von nur untergeordneter Bedeutung ist (BVerwG, B.v. 7.7.2005 – 10 BN 1.05 – juris Rn. 7).
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Diesen Anforderungen hat das Verwaltungsgericht mit seiner auf die Umstände des Einzelfalls abstellenden und plausiblen Begründung ausreichend Rechnung getragen. Dem Zulassungsvorbringen lassen sich keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür entnehmen, das Verwaltungsgericht habe den Ausnahmecharakter des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO verkannt und die geschriebenen wie ungeschriebenen Voraussetzungen für die Annahme der Rücknahmefiktion zu Unrecht bejaht.
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Ausgehend von dem verfassungsrechtlich gebotenen Verständnis des § 92 Abs. 2 VwGO ist das Verwaltungsgericht mit nachvollziehbarer Begründung davon ausgegangen, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung gegenüber dem Kläger am 16. Juni 2020 sachlich begründete Anhaltspunkte vorlagen, die den Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses zuließen. Entgegen der Ansicht des Zulassungsantrags durfte es mit Blick auf den damaligen Verfahrensstand dazu auf die wiederholt angekündigte, aber nicht eingereichte Klagebegründung zurückgreifen. Denn der Kläger hatte im Januar 2018 Untätigkeitsklage mit dem pauschalen Vorwurf erhoben, das Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten habe bislang nicht über seine Mehrfachanträge entschieden und verweigere die Akteneinsicht. Nachdem im Verfahrensverlauf aber eine ablehnende behördliche Entscheidung mit detaillierten Angaben zu deutlichen Abweichungen zwischen den klägerischen Mehrfachanträgen und den behördlichen Feststellungen bei Vor-Ort-Kontrollen getroffen (Bescheid vom 31.12.2018 für die Jahre 2014 bis 2018) und dem Kläger vom Verwaltungsgericht wiederholt Einsicht in die Behördenakten angeboten worden war, bestand Anlass, sich binnen angemessener Zeit zur neuen Prozesssituation zu äußern und das Klagebegehren zu aktualisieren sowie die Begründung zu konkretisieren, weil das bisherige pauschale Vorbringen überholt war. Das galt umso mehr als von der Beklagtenseite mehrere inhaltliche Stellungnahmen abgegeben worden waren. Dementsprechend hatte das Verwaltungsgericht den Kläger wiederholt unter Fristsetzung zur Äußerung oder zur Begründung der Klage aufgefordert (etwa Schreiben vom 26.4.2019, 17.2.2020 und 13.4.2020). Da dieser den gerichtlichen Aufforderungen über einen geraumen Zeitpunkt in der Sache nicht im Sinn der Vorinstanz nachgekommen war, durfte sie im Zeitpunkt der „letztmaligen“ Betreibensaufforderung am 16. Juni 2020 von hinreichend konkreten Zweifeln am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses ausgehen; ein sicherer, über begründete Zweifel hinausgehender Schluss ist insoweit nicht geboten (BVerwG, B.v. 7.7.2005 – 10 BN 1.05 – juris Rn. 4). Der Zulassungsantrag zeigt keine konkreten Umstände mit Bezug auf die damalige Verfahrenslage auf, die auf eine fehlerhafte Anwendung des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO hindeuten könnten, auch wenn der Kläger wiederholt zu erkennen gegeben hat, dass er das Verfahren weiterführen wolle.
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Mit Blick auf diesen Verfahrensstand am 16. Juni 2020 war die mit einer Belehrung nach § 92 Abs. 2 Satz 3 VwGO versehene Aufforderung zur Klagebegründung entgegen der Ansicht des Klägers ohne weiteres hinreichend bestimmt und auch sonst wirksam. Schließlich hat das Verwaltungsgericht eingehend und überzeugend begründet, warum die in der Zwei-Monatsfrist eingereichten Schreiben des Klägers nicht als die von ihm erwartete Klagebegründung angesehen werden konnten und auch keine substantiierte Darlegung enthielten, weshalb eine Klagebegründung bislang nicht habe vorgelegt werden können. Die gegenteilige Sichtweise des Zulassungsantrags zeigt schon mangels Auseinandersetzung mit dieser Begründung keinen Verfahrensmangel auf.
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b) Die weitere Verfahrensrüge, das Verwaltungsgericht habe den Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO verletzt, geht vor diesem Hintergrund ins Leere. Da das Verwaltungsgericht aus den oben dargelegten Gründen ohne Rechtsfehler davon ausgegangen ist, dass die Voraussetzungen der Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 VwGO vorliegen, war das Verfahren mit Ablauf der Zwei-Monatsfrist kraft Gesetzes beendet und damit kein Raum mehr für eine gerichtliche Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit ihm wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).