Titel:
Erfolgloser Eilantrag, Aufforderung zur Vorlage eines Nachweises über einen ausreichenden Masernschutz bei einer Schülerin, keine Berücksichtigung von im gerichtlichen Verfahren nachgereichten Attesten, Kontraindikation während der Corona-Pandemie aufgrund der Gefahr einer möglicherweise bestehenden asymptomatischen Corona-Infektion nicht plausibel
Normenkette:
IfSG § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2
Schlagworte:
Erfolgloser Eilantrag, Aufforderung zur Vorlage eines Nachweises über einen ausreichenden Masernschutz bei einer Schülerin, keine Berücksichtigung von im gerichtlichen Verfahren nachgereichten Attesten, Kontraindikation während der Corona-Pandemie aufgrund der Gefahr einer möglicherweise bestehenden asymptomatischen Corona-Infektion nicht plausibel
Fundstelle:
BeckRS 2023, 27710
Tenor
I. Die Anträge werden abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Gegenstand des Verfahrens ist die Pflicht der Antragsteller, einen ausreichenden Masernschutz für ihre Tochter nachzuweisen.
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Die Antragsteller sind die Eltern der am … Februar 2007 geborenen Realschülerin L. L. Der Schule legten die Antragsteller zunächst ein ärztliches Attest des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin S. K. vom … November 2021 vor (Behördenakte Seite 3), demzufolge bei der Schülerin aktuell eine medizinische Kontraindikation hinsichtlich Impfungen bestehe, die voraussichtlich bis mindestens … März 2022 anhalte. Das Gesundheitsamt teilte daraufhin den Antragstellern mit Schreiben vom 2. Dezember 2021 mit, dass es sich bei dem ärztlichen Attest nicht um einen Nachweis im Sinne des § 20 Abs. 9 des IfSG (IfSG) handele. Das Gesundheitsamt bat um Bestätigung der attestierten Kontraindikation durch einen zweiten Arzt, Vorlage eines Impfnachweises oder alternativ die Prüfung der Krankenunterlagen durch den Amtsarzt des Gesundheitsamts auf Vorliegen einer medizinischen Kontraindikation hinsichtlich der Masernimpfung.
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Am 1. August 2022 meldete die Schule erneut, dass für die Schülerin der erforderliche Nachweis über einen ausreichenden Masernschutz nicht erbracht worden sei. Mit Schreiben vom 16. August 2022 forderte das Gesundheitsamt die Antragsteller auf, bis zum 30. August 2022 einen den gesetzlichen Vorgaben entsprechenden Nachweis über einen Masernschutz vorzulegen und erläuterte die Anforderungen an einen Nachweis über eine medizinische Kontraindikation. Allgemeine Verweise auf die Corona-Pandemie als Begründung für ein Aussetzen der Masernschutzimpfung entsprächen nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft und seien daher nicht anzuerkennen. Auch bei Patienten mit einer angeborenen oder erworbenen Immundefizienz sei die Masernimpfung nicht grundsätzlich kontraindiziert.
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Mit Schreiben vom … August 2022 legten die Antragsteller dem Gesundheitsamt ein weiteres ärztliches Attest des Facharztes S. K. vom … Juli 2022 (Behördenakte Seite 14) vor, demzufolge bei der Schülerin aktuell eine medizinische Kontraindikation hinsichtlich Impfungen bestehe. Diese werde voraussichtlich bis mindestens … Januar 2023 anhalten. Eine erneute Beurteilung werde Nachkontrolle im Januar stattfinden. Zur Begründung ist ausgeführt, während der COVID-Pandemie und bei den aktuellen Inzidenzen sei es hochproblematisch, das Kind mit einem sogenannten Lebendimpfstoff zu impfen. Gerade bei Kindern seien asymptomatische COVID-Verläufe häufig, sodass die Gefahr einer mehrfach-Lebendimpfung in eine (unerkannte) COVID-Infektion hinein überdurchschnittlich groß sei. Mögliche Komplikationen durch die Vermehrung der geimpften Virusstämme während einer COVID-Infektion seien unkalkulierbar. Die Befristung des Attests resultiere aus der im Augenblick überschaubaren Dauer der COVID-Pandemie.
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Das Gesundheitsamt erachtete dieses Attest als nicht ausreichend und forderte die Antragsteller mit Schreiben vom 21. September 2022 erneut zur Vorlage eines Nachweises über den Masernschutz auf. Die Aufforderung blieb ohne Erfolg.
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Mit Schreiben vom 7. Dezember 2022 ersuchte das Gesundheitsamt den Aussteller des Attests unter Bezugnahme auf § 20 Abs. 12 IfSG um detaillierte Ausführungen zur attestierten Kontraindikation. Dieser erläuterte mit Schreiben vom … Dezember 2022 (Behördenakte Seite 21), dass es die Pflicht eines jeden impfenden Arztes sei, sicherzustellen, dass das Risiko von Komplikationen durch eine Impfung so gering wie möglich gehalten werde. Dies sei aufgrund seiner Erfahrung in der Praxis und seines medizinischen Sachverstandes in Zeiten der COVID-Pandemie (respektive -Epidemie) für Lebendimpfungen wie die Masern-Impfung nicht zu gewährleisten. Eine Verschiebung der Impfung in den Zeitraum nach Ende der Pandemie/Epidemie sei daher die logische Folge.
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Laut Beurteilung des zuständigen Amtsarztes (Behördenakte Seite 23) wird diese ärztliche Einschätzung weder durch eine medizinische Fachgesellschaft noch durch die zuständige Bundesstelle (RKI/STIKO) gestützt. Die allgemeine Hypothese, dass bei asymptomatischer SARS-CoV-2-Infektion im Kindesalter ein erhöhtes bzw. unzumutbares Risiko bei gleichzeitiger Masernimpfung bestünde, sei als fachlich falsch zu bewerten, da sie den Nutzen der Impfung ausblende, der weiterhin das Risiko in der erforderlichen Abwägung überwiege. Die Hypothese einer Überforderung des Immunsystems entspreche nicht der Realität, da insbesondere Kinder jeden Herbst/Winter täglich eine Vielzahl von Viren gleichzeitig aufnähmen, wofür das Immunsystem ausgelegt sei. Eine Ausnahme stellten seltene Immundefektsyndrome oder eine medikamentöse Immunsuppression dar. Symptomatische Infektionen gehörten zum Lernprozess des kindlichen Immunsystems. Das Risiko des doppelten Viruskontakts (SARS-CoV-2 plus abgeschwächte Masernimpfviren) sei gerade bei Kindern als besonders gering einzuschätzen, da COVID 19 bei diesen verhältnismäßig harmlos verlaufe und die Masernimpfung höchstens zu milden Symptomen führe.
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Mit Schreiben vom 18. April 2023 hörte das Gesundheitsamt die Antragsteller zur beabsichtigten Anordnung der Nachweisvorlage an.
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Mit Schreiben vom 27. April 2023 bestellte sich die Bevollmächtigte der Antragsteller und bat beim Antragsgegner um Akteneinsicht und einen zeitlichen Aufschub. Da die angekündigte Vollmacht dem Schreiben nicht beigefügt war, forderte das Gesundheitsamt am 2. Mai 2023 die Originalvollmacht an. Eine Reaktion erfolgte nicht.
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Mit gleichlautenden Bescheiden vom 18. Juli 2023, zugestellt am 20. Juli 2023, forderte das Gesundheitsamt die Antragstellerin zu 1 und den Antragsteller zu 2 jeweils in Ziffer 1 des Bescheids auf, für ihre am … Dezember 2007 geborene Tochter innerhalb von 8 Wochen nach Zustellung des Bescheids einen Nachweis im Sinne von § 20 Abs. 9 Infektionsschutzgesetz (IfSG) vorzulegen. Dieser könne unter anderem erfolgen durch ein „ärztliches Zeugnis darüber, dass das Kind aus medizinischen Gründen nicht oder erst später geimpft werden kann (mit Art der Kontraindikation sowie Angabe der Dauer)“. Zur Begründung wurde ausgeführt, als Eltern eines in einer Schule als Gemeinschaftseinrichtung betreuten minderjährigen Kindes seien die Antragsteller verpflichtet, für die Einhaltung der Nachweispflicht zu sorgen. Bis jetzt seien sie der Aufforderung nicht nachgekommen. Weder das ärztliche Attest vom … Juli 2022 noch das Schreiben vom … Dezember 2022 beinhalteten eine individuell begründete medizinische Kontraindikation für die Tochter, sondern lediglich eine allgemeine Hypothese, dass bei asymptomatischer SARS-CoV-2-Infektion im Kindesalter ein erhöhtes bzw. unzumutbares Risiko bei gleichzeitiger Masernimpfung bestehen würde, welche durch die medizinischen Fachgesellschaften und die zuständige Bundesstelle (RKI/STIKO) nicht gestützt werde.
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Am 17. August 2023 ließen die Antragsteller durch ihre Bevollmächtigte Klage gegen den Bescheid vom 18. Juli 2023 erheben, die unter dem Aktenzeichen M 26b K 23. 4093 geführt wird. Gleichzeitig beantragen sie:
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Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage hinsichtlich Ziffer 1 des Bescheides wird angeordnet.
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Klage und Antrag wurden mit Schriftsätzen vom … August 2023 und … September 2023, auf die Bezug genommen wird, umfangreich begründet. Insbesondere wird geltend gemacht: Die Bescheide seien formell und materiell rechtswidrig. Es liege ein Gehörsverstoß vor, da die Rechtsvertretung der Antragsteller durch die Bevollmächtigte nicht zur Kenntnis genommen worden sei. Die unaufgefordert vorgelegte Vollmacht liege in den Akten. Der Bescheid entspreche nicht den gesetzlichen Begründungsanforderungen und das Gesundheitsamt habe gegen die Amtsermittlungspflicht verstoßen, indem es sich nicht mit dem Gesundheitsstatus der Betroffenen auseinandergesetzt habe. Die Tochter der Antragsteller sei nach vorangegangener Windpockeninfektion atypisch an einer schwer verlaufenden Gürtelrose erkrankt und leide an einer durch den Arzt S. K. attestierten Immuninsuffizienz. Dies ergebe sich auch aus den zur Begründung von Klage und Eilantrag vorgelegten weiteren Attesten des Hautarztes und Allergologen Dr. W. vom … August 2023 (Bestätigung einer Herpes Zoster-Diagnose vom … Januar 2022) sowie … Mai 2023 (unleserlich), des Kinderarztes Dr. W. vom … August 2023 (Bestätigung einer Windpocken-Diagnose vom … Juni 2010) und des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. K. vom … Oktober 2022 (Bestätigung über mehrmalige Behandlung wegen Herpesinfektionen und genereller Immunschwäche im Jahr 2022). Die Impfnachweispflicht sei aus verschiedenen Gründen verfassungswidrig, insbesondere habe der Staat nicht das Recht, sich über Elternrechte hinwegzusetzen. Außerdem sei die Behauptung des Bundesverfassungsgerichts, dass Impfreaktionen und -komplikationen wissenschaftlich gut erforscht seien, zu bezweifeln, da Nebenwirkungen bekanntermaßen nur unzureichend erfasst würden und die Zulassungsverfahren im Hinblick auf die Impfstoffe mangelhaft seien. Die geringe Inzidenz an Masernfällen in der Bundesrepublik Deutschland rechtfertige keine Impfpflicht. Das Gesundheitsamt habe keinerlei Ermittlungen zum konkreten Ansteckungsrisiko in der Schule bzw. in der Klasse der Tochter der Antragsteller angestellt, obwohl das IfSG ein behördliches Einschreiten nur auf Grundlage einer festgestellten Gefahrenlage erlaube. Da es sich nicht um die Abwehr einer konkreten Gefahr, sondern um Prävention handele, dürfe das Gesundheitsamt insbesondere keinen vollstreckbaren Verwaltungsakt erlassen, der eine schulpflichtige Person gleichsam durch die Hintertür zur Impfung zwinge. Das Gesundheitsamt hätte sich aus Gründen der Amtsermittlungspflicht zunächst mit der Unterstellung einer Immundefizienz auseinandersetzen und sich gegebenenfalls mit den behandelnden Ärzten in Verbindung setzen müssen. Es sei in der Tat so, dass eine virale Indisposition zu massiver Immunschwäche führen könne.
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Der Antragsgegner nahm mit Schriftsatz vom 11. Mai 2023 zum Antrag Stellung. Er beantragt,
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Der Antrag wird abgelehnt.
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Ein Gehörsverstoß in Bezug auf die Bevollmächtigte liege nicht vor, da diese eine Vollmacht nicht vorgelegt habe. Die Tatbestandsvoraussetzungen für die getroffene Anordnung seien erfüllt, da trotz mehrmaliger Aufforderungen ein den gesetzlichen Vorgaben entsprechender Nachweis über einen Masernschutz nicht vorgelegt worden sei. Die Vorlagefrist sei ausreichend bemessen. Die Rüge unzureichender Amtsermittlung sei nicht nachvollziehbar. Das Gesundheitsamt habe mehrfach den Kontakt zu den Antragstellern gesucht und zuletzt im Anhörungsschreiben vom 18. April 2023 auf die Möglichkeit zur Beratung im Gesundheitsamt hingewiesen. Dieses Angebot hätten die Antragsteller zu keinem Zeitpunkt angenommen. Bereits mit Schreiben vom 25. Januar 2022 habe man den Antragstellern nicht nur angeboten, einen Termin bei einem zugewiesenen Kinderarzt/Kinderärztin zu organisieren, sondern auch nach Vorlage ärztlicher Berichte diese entsprechend zu prüfen. Auch hiervon hätten die Antragsteller keinen Gebrauch gemacht. Der den Eltern zur Verfügung gestellte Vordruck für das Attestieren einer Kontraindikation gebe den aktuellen Stand (16.3.2022) der STIKO sowie der Fachinformationen der Impfstoffhersteller wieder. Weder die nunmehr vorgetragene Gürtelrose noch die Immundeffizienz seien in den im Verwaltungsverfahren vorgelegten Attesten bescheinigt oder von den Antragstellern selbst vorgetragen worden. Offensichtlich habe Herr K. weder im Rahmen der ärztlichen Bescheinigungen vom … Juli 2022 noch am … Dezember 2022 eine Kontraindikation aufgrund der Gürtelrose gesehen. Auch die neu vorgelegten ärztlichen Attesten, die nach Erlass der streitgegenständlichen Bescheide ausgestellt worden seien, seien nicht geeignet, eine Kontraindikation in Bezug auf die Masernimpfung plausibel zu begründen. Das Auftreten einer Gürtelrose (Herpes Zoster) nach Primärinfektion mit dem Varizella-Zoster-Virus (VZV) in Form des Krankheitsbildes Windpocken rechtfertige nicht die Diagnosestellung einer generellen Immunstörung, die einer Impfung mit einem Lebendimpfstoff entgegenstehen könnte. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass die Nachweispflicht bei den Antragstellern liege und nicht beim Gesundheitsamt. Soweit Einsicht in die Schulakte gewünscht werde, sei dies nicht möglich, da diese dem Gesundheitsamt nicht vorliege.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte des Klageverfahrens sowie des Eilverfahrens, insbesondere die Schriftsätze der Parteien, sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
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Die von den Antragstellern gegen die gleichlautenden Bescheide gestellten Anträge bleiben ohne Erfolg.
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1. Die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sind zulässig, insbesondere statthaft, weil es sich bei der in Ziffer 1 der Bescheide getroffenen Anordnung um gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nummer 3 VwGO i.V.m. § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG kraft Gesetzes sofort vollziehbare Verwaltungsakte handelt (vgl. BayVGH, B.v. 7.7.2021 – 25 CS 21.1651 – juris Rn. 9; Gerhardt, IfSG, 6. Aufl. 2022, IfSG § 20 Rn. 124).
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2. Die Anträge sind unbegründet.
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2.1. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn die Klage – wie hier – keine aufschiebende Wirkung hat. Dabei trifft das Gericht im Rahmen einer summarischen Prüfung der sich im Zeitpunkt der Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene, originäre Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, oder diejenigen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, überwiegen. Wesentliches Element dieser Entscheidung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei kursorischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, bleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
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2.2. Im vorliegenden Fall waren die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen, da die jeweils in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage bei der gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Die streitgegenständlichen Bescheide erweisen sich aller Voraussicht nach als rechtmäßig und verletzen die Antragsteller nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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2.2.1. Rechtsgrundlage für die Anforderung, einen Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorzulegen, ist § 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG.
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Danach haben Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nr. 1 bis 3 IfSG betreut werden, dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung befindet, auf Anforderung einen Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorzulegen (§ 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 IfSG). Soweit – wie hier – die verpflichtete Person minderjährig ist, hat derjenige für die Einhaltung der diese Person nach den Absätzen 9 bis 12 treffenden Verpflichtungen zu sorgen, dem die Sorge für diese Person zusteht (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG). Dabei hat der Gesetzgeber mit § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG nicht nur eine Vertretung des Kindes durch den Personensorgeberechtigten, sondern eine Übertragung der Verpflichtung auf den Sorgeberechtigten statuiert (BayVGH, B.v. 6.10.2021 – 25 CE 21.2383 – juris Rn. 8). Bei der entsprechenden Aufforderung handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von Art. 35 BayVwVfG (Gerhardt, IfSG, 5. Aufl. 2021, § 20 Rn. 124).
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2.2.2. Das Gericht geht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes davon aus, dass die Regelungen in § 20 Abs. 8 bis 14 IfSG nicht derart offensichtlich verfassungswidrig sind, dass ihre Nichtanwendung im Eilverfahren in Betracht käme (vgl. BayVGH, B.v. 7.7.2021 – 25 CS 21.1651 – juris Rn. 10).
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Das Bundesverfassungsgericht hat die Nachweispflicht eines Masernschutzes für Kinder in Kindertageseinrichtungen im Vorschulalter für verfassungsgemäß befunden (B.v. 21. 7. 2022 1 BvR 470/20 – juris). Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass der Gesetzgeber durch die Nachweispflicht einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolge, nämlich den Schutz vulnerabler Personen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung. Die Annahme des Gesetzgebers, dass von Personen, die keinen ausreichenden Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern aufwiesen, Gefahren für das Leben und die Gesundheit insbesondere von Personen ausgehe, die sich selbst nicht durch eine Impfung vor einer Masernerkrankung zu schützen vermöchten, beruhe auf zuverlässigen Grundlagen und halte auch der strengen verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Zwar sei die Entscheidung über die Vornahme von Impfungen ein wesentliches Element der elterlichen Gesundheitssorge (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), jedoch seien die Eltern bei der Ausübung der am Kindeswohl zu orientierenden Gesundheitssorge für ihr Kind weniger frei, sich gegen Standards medizinischer Vernünftigkeit zu wenden, als sie es kraft ihres Selbstbestimmungsrechts über ihre eigene Integrität wären. Da der Gesetzgeber keine mit Zwang durchzusetzende Impfpflicht gegen Masern statuiert habe, sondern den Eltern die im Entscheidung weitgehend habe belassen wollen, sei es konsequent, den Vorrang der Schulpflicht vor der Nachweispflicht klarzustellen.
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Hiervon ausgehend sind den umfänglichen, wenig strukturierten Ausführungen der Bevollmächtigten der Antragsteller keine tragfähigen neuen Argumente zu entnehmen, die evidente Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Vorschriften begründen würden.
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2.2.3. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Bescheide ist der Zeitpunkt ihres Erlasses (BayVGH, B.v. 7.7.2021 – 25 CS 21.1651 – juris Rn. 11). Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die gerichtliche Überprüfung eines Verwaltungsaktes sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht richtet (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 113 Rn. 55 m.w.N. zur stRspr.). Den hier maßgeblichen § 20 Abs. 9 bis 14 IfSG lassen sich keine Hinweise darauf entnehmen, dass es für die gerichtliche Beurteilung einer Aufforderung im Sinne von § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG, einen Nachweis im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorzulegen, auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ankäme. Vielmehr deutet das von § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG vorgesehene Verfahren für den Fall, dass ein Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist nicht vorgelegt wird oder sich aus dem Nachweis ergibt, dass ein Impfschutz gegen Masern erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist oder vervollständigt werden kann, darauf hin, dass ein nach Aufforderung vorgelegter Nachweis die Rechtmäßigkeit der entsprechenden ursprünglichen Aufforderung durch das Gesundheitsamt zwar die weitere Vorgehensweise des Gesundheitsamts bestimmt, die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Aufforderung nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG aber unberührt lässt.
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Die erst nach Bescheidserlass im gerichtlichen Verfahren nachgereichten ärztlichen Bescheinigungen sind demnach für die Rechtmäßigkeit der behördlichen Aufforderung zur Vorlage der Nachweise nach § 20 Abs. 9 IfSG ohne Bedeutung und bleiben im vorliegenden Verfahren außer Betracht.
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2.2.4. Die Bescheide sind formell-rechtlich nicht zu beanstanden.
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2.2.4.1. Das Anhörungsverfahren (Art. 28 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes – BayVwVfG) wurde ordnungsgemäß durchgeführt. Den Antragstellern wurden mit Schreiben vom 18. April 2023 vor Erlass der streitgegenständlichen Bescheide Gelegenheit zur Stellungnahme bis 2. Mai 2023 gegeben. Am letzten Tag der Frist bestellte sich die Bevollmächtigte für die Antragsteller unter Berufung auf eine Vollmacht, die entgegen der Ankündigung nicht beigefügt war. Auf die noch am selben Tag erfolgte Aufforderung, zunächst die Vollmacht im Original zu übermitteln, reagierte die Bevollmächtigte nicht. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner schließlich am 18. Juli 2023 die Bescheide erließ. Ein weiteres Zuwarten war nicht geboten.
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2.2.4.2. Der Bescheid ist auch nicht etwa wegen fehlerhafter oder unzureichender Begründung (Art. 39 BayVwVfG) formell rechtswidrig. Die Begründungspflicht aus Art. 39 BayVwVfG bezieht sich ausschließlich auf die formelle Begründungspflicht, also auf die Anforderungen an eine verfahrensrechtlich korrekte Begründung. Ausreichend ist insoweit, dass die Entscheidung überhaupt die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen erkennen lässt, die für die Entscheidung maßgeblich waren. Das ist hier der Fall. Eine andere Frage ist, ob diese Gesichtspunkte auch in der Sache selbst richtig sind, ob also der der Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt (objektiv) zutreffend ist und das insoweit maßgebliche Recht sachlich richtig angewendet worden ist (Kyrill-Alexander Schwarz in Fehltin/Kastner/Störm, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, VwVfG § 39 Rn. 2). Letzteres ist eine Frage der materiellen Rechtmäßigkeit und an anderer Stelle zu prüfen.
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2.2.4.3. Auch einen Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz wegen mangelhafter Amtsermittlung vermag das Gericht nicht zu erkennen. Die Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses obliegt nach der gesetzlichen Konzeption den Antragstellern (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2, Abs. 12 Satz 1 Nr. 1, Abs. 13 Satz 1 i.V.m. § 33 Nr. 3 IfSG). Die Antragsgegnerin ist deswegen nicht gehalten, von Amts wegen die Voraussetzungen einer Kontraindikation zu prüfen oder zu ermitteln. Insoweit gehen die vorgenannten Regelungen des § 20 IfSG als Spezialregelungen sowohl dem allgemeinen Untersuchungsgrundsatz aus Art. 24 BayVwVfG als auch den von der Bevollmächtigten herangezogenen Vorschriften infektionsrechtlichen Vorschriften der §§ 16, 25 und 34 IfSG vor.
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Da die Vorlagepflicht nicht von der Feststellung einer Gefahrenlage abhängt (s. u.), geht auch der Einwand der Bevollmächtigten fehlt, das Gesundheitsamt hätte eine solche Gefahrenlage in Form einer Ansteckungsgefahr nicht ermittelt.
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2.2.5. Die Bescheide sind aller Voraussicht nach auch materiell rechtmäßig. Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Anforderung eines Nachweises nach § 20 Abs. 9 IfSG sind vorliegend erfüllt.
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2.2.5.1. Die minderjährige Tochter der sorgeberechtigten Antragsteller besucht eine Realschule in F* … und wird daher in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nr. 3 IfSG (Schulen und sonstige Ausbildungseinrichtungen) im Bezirk des Antragsgegners betreut. Infolgedessen haben die Antragsteller einen Nachweis über einen Masernschutz im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorzulegen.
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2.2.5.2. Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten der Antragsteller kommt es auf das Vorliegen einer Ansteckungsgefahr in der Schule oder der Klasse, die die Schülerin besucht, nach dem Tatbestand der Rechtsgrundlage nicht an.
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2.2.5.3. Einen den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Nachweis im Sinne des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG über eine bei der Tochter der Antragsteller im Hinblick auf die Masernschutzimpfung bestehende medizinischen Kontraindikation haben die Antragsteller bis zum Erlass der streitgegenständlichen Bescheide nicht vorgelegt.
39
Die Anforderungen an den Inhalt eines ärztlichen Zeugnisses über eine Kontraindikation ergeben sich aus der Auslegung der einschlägigen Rechtsvorschriften, insbesondere aus der Regelungssystematik und dem Sinn und Zweck § 20 IfSG. Gemäß § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG kann das Gesundheitsamt bei Zweifeln an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des vorgelegten Nachweises unter anderem eine ärztliche Untersuchung im Hinblick auf die medizinische Kontraindikation anordnen. Das Attest muss daher wenigstens solche Angaben zur Art der medizinischen Kontraindikation enthalten, die das Gesundheitsamt in die Lage versetzen, das ärztliche Zeugnis auf Plausibilität hin zu überprüfen (vgl. BayVGH, B.v. 7.7.2021 – 25 CS 21.1651 – juris Rn. 14 mit Verweis auf SächsOVG, B.v. 5.5.2021 – 3 B 411/20 – juris Rn. 21 ff.; VG Meiningen, B.v. 10.11.2020 – 2 E 1144/20 – juris Rn. 26 f.; Gebhard in Kießling, IfSG, 2. Aufl. 2021, § 20 Rn. 50; Aligbe in Eckart/Winkelmüller, BeckOK, Infektionsschutzrecht, IfSG § 20 Rn. 222a). Ein inhaltlich unrichtiges oder nicht plausibles Attest erfüllt daher die Vorlagepflicht nicht.
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Diesen Anforderungen werden die bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheidserlasses vorgelegten ärztlichen Atteste des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin S. K. vom … November 2021 und vom … Juli2022 mit Erläuterung vom … Dezember 2022 nicht gerecht. Der ärztlich bescheinigten Kontraindikation liegt die Erwägung zugrunde, dass eine Masernschutzimpfung mit einem sogenannten Lebendimpfstoff während der Dauer der COVID-19-Pandemie/Epidemie generell die Gefahr in sich berge, dass in eine bestehende, aber asymptomatische COVID-19-Infektion hineingeimpft werde, was hoch problematisch und mit einem unkalkulierten Risiko für Komplikationen verbunden sei. Im Hinblick auf die voraussichtliche Dauer der Pandemie/Epidemie wurde die Kontraindikation zuletzt bis mindestens … Januar 2023 befristet. Im Erläuterungsschreiben vom … Dezember 2022 erklärt der Arzt ergänzend, eine Verschiebung der Impfung in den Zeitraum nach Ende der Pandemie/Epidemie sei daher die logische Folge.
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Zunächst ist festzustellen, dass die bescheinigte Kontraindikation ihrem Wortlaut nach zeitlich auf die Dauer der Pandemie befristet war. Da die Pandemie jedoch bereits am 5. Mai 2023 durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für beendet erklärt worden ist und zum Zeitpunkt der Vorlageaufforderung auch ein Infektionsgeschehen im Sinne einer Epidemie nicht ersichtlich war, war die bescheinigte Kontraindikation zeitlich nicht mehr einschlägig.
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Darüber hinaus erscheint das Attest unter Berücksichtigung der fachlichen Einschätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) und des zuständigen Amtsarztes des Gesundheitsamtes auch inhaltlich nicht plausibel.
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Laut RKI besteht eine Kontraindikation hinsichtlich der Masernschutzimpfung u.a. bei akutem Fieber über 38,5 °C oder einer akuten schweren Erkrankung, nicht jedoch bei banalen Infekten, auch wenn sie mit subfebrilen Temperaturen unter 38,5 °C einhergehen, und auch nicht bei erhöhter Infektanfälligkeit (Robert-Koch-Institut, Masernimpfung: Wirksamkeit, Sicherheit und Kontraindikation, Stand 4.6.2020, Unterpunkt: Wer sollte die MMR-Impfung nicht erhalten? Welche medizinischen Kontraindikationen gibt…, abrufbar unter https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/MMR/Masernimpfung/FAQ-Liste_Masernimpfung.html, abgerufen am 25.9.2023). Eine asymptomatische Corona-Erkrankung erfüllt diese Kriterien nicht und ist auch nicht explizit vom RKI in der Liste der Kontraindikationen aufgeführt.
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Den nachvollziehbaren Ausführungen des zuständigen Amtsarztes zufolge entspricht die im Attest aufgestellte Hypothese einer Überforderung des kindlichen Immunsystems durch das Aufeinandertreffen von SARS-CoV-2-Virus und (mit der Masernschutzimpfung verabreichten) abgeschwächten Masernviren nicht dem allgemeinen fachwissenschaftlichen medizinischen Standard. Die Gefahr einer Überforderung des kindlichen Immunsystems durch das Aufeinandertreffen von SARS-CoV-2-Virus und abgeschwächten Masernviren entspreche nicht der Realität, da Kinder gerade im Herbst und Winter täglich eine Vielzahl von Viren gleichzeitig aufnähmen und deren Immunsystem dafür ausgelegt seien. Eine Ausnahme gelte für Kinder mit seltenen Immundefektsyndromen oder Personen mit medikamentöser Immunsuppression. Dafür bestünden bei der Tochter der Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt keinerlei Anhaltspunkte.
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Ergänzend dazu ist zu berücksichtigen, dass der Sorge, in eine unerkannte asymptomatische SARS-CoV-Infektion „hineinzuimpfen“, durch die vorherige Durchführung eines PCR-Tests bzw. Schnelltests begegnet werden könnte.
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Nach alledem fehlte es zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheidserlasses an einem plausiblen Attest über eine bestehende Kontraindikation bei der Tochter der Antragsteller. Auf die im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens vorgelegten weiteren ärztlichen Bescheinigungen kommt es wie bereits oben erörtert nicht an.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 und § 159 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.1.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Im Hinblick darauf, dass die Antragsteller untereinander familiär verbunden sind und inhaltlich identische Anordnungen gemeinschaftlich bekämpfen, ist der für den Streitgegenstand angemessene Streitwert von 2.500,00 EUR nur einmal zu berücksichtigten (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 28.10.2021 – 25 CE 21.2628 – juris Rn. 4).