Titel:
Zur Zulässigkeit einer unselbstständigen Anschlussbeschwerde
Normenketten:
AufenthG § 25a, § 60a Abs. 2 S. 1, § 60c
VwGO § 173 S. 1
ZPO § 567 Abs. 3 S. 1
Leitsätze:
1. Die unselbstständige Anschlussbeschwerde gem. § 173 S. 1 VwGO iVm § 567 Abs. 3 S. 1 ZPO ist grundsätzlich ohne Fristbindung statthaft. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mit der Anschlussbeschwerde, die über einen bloßen Antrag auf Zurückweisung der Beschwerde hinausgehen muss, kann – wie generell bei Anschlussrechtsmitteln – das durch die Einlegung der Beschwerde zunächst geltende Verbot der reformatio in peius aufgebrochen und die Ausgangsentscheidung einer umfassenden Prüfung unterzogen werden. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
3. Unmöglichkeit der Abschiebung ist nicht schon bei jeder geringen zeitlichen Verzögerung infolge der notwendigen verwaltungsmäßigen Vorbereitungen anzunehmen, sondern nur bei dem zeitweiligen Ausschluss der Abschiebung aufgrund rechtlicher Verbote oder Hindernisse oder aufgrund tatsächlicher Umstände außerhalb der administrativen Organisation der Abschiebung. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anschlussbeschwerde, Organisationsduldung, Verfahrensduldung, unselbstständige Anschlussbeschwerde, Streitgegenstand, zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff, Klageanspruch, Klagegrund, Ausbildungsduldung, Unmöglichkeit der Abschiebung aus tatsächlichen Gründen, erhebliche Verzögerung der Abschiebung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 30.08.2022 – RN 9 E 22.1869
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2759
Tenor
I. Auf die Anschlussbeschwerde des Antragsgegners wird Ziff. I S. 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 30. August 2022 geändert; der Antrag wird insgesamt abgelehnt.
II. Unter Aufhebung von Ziff. II des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 30. August 2022 trägt der Antragsteller die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen, für das Beschwerdeverfahren betreffend sowohl das Verfahren 19 CE 22.2047 als auch das Verfahren 19 CE 22.2514.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren (betreffend die Verfahren 19 CE 22.2047 und 19 CE 22.2514) wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die zulässige Anschlussbeschwerde ist begründet.
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Mit seiner Anschlussbeschwerde wendet sich der Antragsgegner gegen Ziff. I S. 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 30. August 2022, mit dem dieses den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, dem Antragsteller einstweilen bis zur Mitteilung eines neuen Abschiebetermins durch das Landesamt für Asyl und Rückführungen eine Duldung zu erteilen.
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Der vollziehbar ausreisepflichtige, im Asylverfahren erfolglose (im vorhergehenden sog. Dublin-Verfahren waren zwei Rückführungen nach Lettland gescheitert, eine wegen Untertauchens) Antragsteller, dessen Rückführung nach Aserbaidschan am 19. Juli 2022 (wegen Nichtanwesenheit in der Unterkunft) und am 30. November 2022 (ebenfalls wegen Nichterreichbarkeit) scheiterte, ließ im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes am 26. Juli 2022 (sinngemäß) beantragen, seinen Aufenthalt einstweilen zu dulden. Er trug vor, er habe einen vorläufig sicherungsfähigen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG und auf Erteilung einer Ausbildungsduldung gem. § 60c AufenthG. Ihm stehe ein Anspruch auf Duldung gem. § 60a Abs. 2 AufenthG in Form einer Verfahrensduldung zu, der Anspruch auf Ausstellung einer Duldungsbescheinigung gründe sich (des Weiteren) darauf, dass der Antragsgegner die ihm erteilte Duldungsbescheinigung als erloschen gestempelt habe, er seither ohne gültige Bescheinigung über seinen Aufenthaltsstatus sei. Das Rechtsinstitut der Duldung solle dem Umstand Rechnung tragen, dass die Ausreisepflicht eines Ausländers nicht in allen Fällen ohne Verzögerung durchgesetzt werden könne und ihre Durchsetzung auf nicht absehbare Zeit unmöglich sei. Das Gesetz gehe davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben werde oder zumindest eine Duldung erhalte. Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 30. August 2022 den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller einstweilen bis zur Mitteilung eines neuen Abschiebetermins durch das Landesamt für Asyl und Rückführungen eine Duldung zu erteilen (Ziff. I S. 1). Im Übrigen wurde der Eilantrag abgelehnt (Ziff. I. S. 2 des Beschlusses). Die vom Antragsteller gegen Ziff. I S. 2 des Beschlusses erhobene Beschwerde wies der Senat mit Beschluss vom 7. Dezember 2022 im Verfahren 19 CE 22.2047 zurück. Auf die Gründe dieses Beschlusses wird Bezug genommen. Der Antragsgegner erhob gegen Ziff. I S. 1 des ihm am 1. September 2022 zugestellten Beschlusses des Verwaltungsgerichts am 27. Oktober 2022 Anschlussbeschwerde. Der Antragsteller habe nicht glaubhaft gemacht, dass seine Abschiebung nach Aserbaidschan tatsächlich nicht (zeitnah) möglich sei. Er sei seit dem 15. Dezember 2020 vollziehbar ausreisepflichtig und die Frist zur freiwilligen Ausreise sei abgelaufen. Ein Abschiebungstermin des Antragstellers sei absehbar und seine Abschiebung daher nicht im Sinne des § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG tatsächlich unmöglich. Die letzte Duldung des Antragstellers sei am 11. November 2021 als erloschen gestempelt worden. Seitdem könne und werde die Abschiebung des Antragstellers seitens der Ausländerbehörde aktiv betrieben, d.h. die „normale“ notwendige verwaltungsmäßige Vorbereitung der Abschiebung sei im Gange und es sei nicht ersichtlich, dass es insoweit zu Verzögerungen kommen werde, die die Abschiebung auf absehbare Zeit unmöglich machen würden. Am 23. Mai 2022 sei ein erster Schubantrag gestellt worden, der zu einem Abschiebungsversuch am 19. Juli 2022 geführt habe. Dieser sei nur deshalb gescheitert, weil der Antragsteller in seiner Unterkunft nicht habe angetroffen werden können. Am 30. August 2022 sei ein erneuter Schubantrag gestellt worden. In Folge dessen sei der Antragsteller bereits für eine noch im laufenden Kalenderjahr stattfindende Rückführungsmaßnahme eingeplant worden. In Anbetracht dessen sei nicht davon auszugehen, dass die Abschiebung des Antragstellers nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden könne oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss sei. Der gesamte Vorgang der Vorbereitung der Abschiebung liege noch innerhalb des üblicherweise erforderlichen Zeitrahmens für eine administrative Organisation der Abschiebung und mache diese nicht auf unabsehbare Zeit unmöglich. Insbesondere sei auch keine Vergleichbarkeit zu denjenigen Fällen erkennbar, in denen erst noch Pass- oder Passersatzpapiere zu beschaffen seien und die Abschiebung solange wegen fehlender Reisedokumente unmöglich sei. Darüber hinaus könnte die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung in ihrer konkreten Formulierung auch der gesetzgeberischen Intention des § 59 Abs. 1 S. 8 AufenthG zuwiderlaufen.
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Die Anschlussbeschwerde ist zulässig:
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Die Beschwerde ist zwar nicht innerhalb der Beschwerdefrist von zwei Wochen (vgl. § 147 Abs. 1 VwGO) beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen. Sie ist aber insoweit als sog. unselbstständige Anschlussbeschwerde zulässig:
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Die unselbstständige Anschlussbeschwerde gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 567 Abs. 3 Satz 1 ZPO ist grundsätzlich ohne Fristbindung statthaft (vgl. zum folgenden auch bereits BayVGH, B.v. 3.4.2020, – 19 CS 18.1704 – juris Rn. 20). Dies macht ihr Wesen aus. Mit ihr kann der Anschlussbeschwerdeführer ein dem Beschwerdeführer entgegengesetztes Rechtsschutzziel geltend machen, das über die bloße Zurückweisung der Beschwerde hinausgeht (vgl. VGH BW, B.v. 12.2.2020 – 9 S 2637/19 – juris Rn. 8; B.v. 15.8.2012 – 3 S 767/12 – NVwZ 2012, 869; OVG Berlin-Bbg, B.v. 10.6.2015 – OVG 4 S 6.15 – juris; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 7/2019, § 146 Rn. 18a; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 146 Rn. 32; Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 46 ff. Erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit einer unselbstständigen Anschlussbeschwerde im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit äußert hingegen das Oberverwaltungsgericht MV, B.v. 7.9.2010 – 1 M 210/09 – juris Rn. 48ff). Die Anschließung lässt die Bindung des Gerichts an den Antrag des Rechtsmittelführers entfallen und gestattet dem Rechtsmittelgericht eine Entscheidung zu dessen Ungunsten (vgl. BVerwG, U.v. 8.12.1995 – 8 C 11.94 – NVwZ 1996, 803). Mit der Anschlussbeschwerde, die über einen bloßen Antrag auf Zurückweisung der Beschwerde hinausgehen muss, kann – wie generell bei Anschlussrechtsmitteln – das durch die Einlegung der Beschwerde zunächst geltende Verbot der reformatio in peius aufgebrochen und die Ausgangsentscheidung einer umfassenden Prüfung unterzogen werden (vgl. Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, a.a.O., § 146 Rn. 18a). Ein unselbstständiges Rechtsmittel hat seine Berechtigung, wenn ein Beteiligter ungeachtet der ihm von der erstinstanzlich auferlegten Beschwer von der Einlegung eines rechtzeitigen selbstständigen Rechtsmittels in der Hoffnung darauf abgesehen hat, dass ein anderer Beteiligter ebenfalls kein Rechtsmittel einlegen wird. Wird er in dieser Hoffnung enttäuscht, soll er durch die Möglichkeit eines Anschlussrechtsmittels die Gelegenheit erhalten, die erstinstanzliche Entscheidung auch zu seinen Gunsten zur Überprüfung zu stellen (vgl. zur Anschlussberufung: BT-Drs. 14/6393 S. 13; BVerwG, B.v. 4.11.2007 – 3 B 30.07 – juris Rn. 4 f.; SächsOVG, B.v. 5.3.2019 – 3 B 367/18 – juris Rn. 11 mit Zweifeln, ob dies auch für Beschwerdeverfahren in einstweiligen Rechtsschutzverfahren gelten soll). Eine nach Fristablauf eingelegte unselbstständige Anschlussbeschwerde muss sich aber gegen das vom Hauptbeschwerdeführer angestrebte Ziel richten (vgl. Guckelberger in Sodan/Ziekow, a.a.O., § 146 Rn. 48) und darf keinen anderen Streitgegenstand betreffen als das Hauptrechtsmittel selbst (vgl. BayVGH, B.v. 7.12.2000 – 12 CE 00.2887 – juris Rn. 36 m.w.N.; BayVGH, B.v. 8.10.2008 – 20 CS 08.2430 – juris Rn. 4; VGH BW, B.v. 21.12.1992 – 8 S 2717/92 – juris Rn. 9). Eine unselbstständige Anschlussbeschwerde ist nicht statthaft, wenn sie sich gegen einen anderen Teil der Entscheidung der Vorinstanz richtet als das bereits vorliegende (Haupt-) Rechtsmittel eines anderen Beteiligten, wenn sie sich mithin gegen einen Teil des angefochtenen Beschlusses wendet, der nicht Gegenstand des (hier) vom Antragsteller anhängig gemachten Beschwerdeverfahrens ist (vgl. für die Anschlussberufung BayVGH, U.v. 20.05.1996 – 2 B 94.1513 – NVwZ-RR 1998, 9; ebenso VGH BW, B. v. 21.12.1992 a.a.O.; offengelassen von OVG MV, B.v. 17. April 2018 – 3 M 479/15 – juris Rn. 15).
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Die unselbstständige Anschlussbeschwerde des Antragsgegners ist statthaft, da sie denselben Streitgegenstand wie die Beschwerde des Antragstellers betrifft:
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Der Streitgegenstand wird grundsätzlich bestimmt durch Klageanspruch und Klagegrund (sog. zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff, vgl. Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 121 Rn. 23 m.w.N.). Als Klageanspruch ist der prozessuale Anspruch oder die Rechtsfolgenbehauptung des Klägers anzusehen. Klagegrund ist der tatsächliche Lebenssachverhalt, aus dem ein Kläger die begehrte Rechtsfolge herleitet. Lässt sich ein Begehren, das aus einem einheitlichen Klagegrund hergeleitet wird, rechtlich auf mehrere Anspruchsgrundlagen stützen (Anspruchsnormenkonkurrenz), so liegt gleichwohl ein einheitlicher Streitgegenstand vor (im einzelnen Wöckel, a.a.O. Rn. 23, 24 m.w.N. zur Rechtsprechung insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts). Dies zugrunde gelegt betreffen Beschwerde und Anschlussbeschwerde einen einheitlichen Streitgegenstand. Der Antragsteller begehrte vor dem Verwaltungsgericht (umfassend) im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Erteilung einer Duldung aus verschiedenen Rechtsgründen (Verfahrensduldung im Hinblick auf § 25a AufenthG, Ausbildungsduldung, jedenfalls sinngemäß eine sog. Organisationsduldung). Sein „Klageanspruch“ war/ist einheitlich auf die Erteilung einer Duldung gerichtet, um insoweit einer Rückführung des Antragstellers in sein Heimatland entgegenzuwirken. Die von ihm benannten jeweiligen Rechtsgründe (die Beschwerde des Antragstellers betraf die Ablehnung seines Begehrens betreffend eine Duldung im Zusammenhang mit § 25a AufenthG und § 60c AufenthG, während die Anschlussbeschwerde des Antragsgegners die durch das Verwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung in Form einer sog. Organisationsduldung betrifft) stehen zudem miteinander derart in Verbindung, dass sie einen einheitlichen Streitgegenstand bilden, da die Erteilung einer sog. Organisationsduldung Fragen im Zusammenhang mit den Voraussetzungen des § 25a AufenthG (vgl. insbesondere § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) und des § 60c AufenthG (vgl. insbesondere § 60c Abs. 2 Nr. 5 AufenthG) aufwerfen kann. Auch ist der einheitliche Streitgegenstand ohne weiteres teilbar (zu dieser Voraussetzung BayVGH, B.v. 3.4.2020 a.a.O.).
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Die Anschlussbeschwerde des Antragsgegners ist auch im Übrigen zulässig. Ob und ggf. welche sonstigen Voraussetzungen und Fristen für die Einlegung und die Begründung der Anschlussbeschwerde – um eine gewisse Waffengleichheit zwischen der qualifizierten Anforderungen unterliegenden Beschwerde und der Anschlussbeschwerde zu erreichen – bestehen (vgl. dazu z. B. OVG MV, B,v. 7.9.2010 – 1 M 210/09- juris Rn.50 ff; OVG Hamburg, B.v. 5.8.2004 – 3 Nc 3/04 – juris Rn. 66; ablehnend Happ in Eyermann, a.a.O. § 146 Rn. 32), bedarf keiner näheren Überprüfung. Ersichtlich wäre selbst die denkbare Frist von einem Monat nach Eingang der Beschwerdebegründungsschrift (vgl. § 127 Abs. 2 S. 2 VwGO) hier eingehalten. Auch hat der Antragsgegner seiner (etwaigen) Begründungspflicht (vgl. § 146 Abs. 4 S. 3 VwGO) genügt.
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Die Anschlussbeschwerde ist auch begründet:
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Die Rügen des Anschlussbeschwerdeführers greifen durch:
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Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Verpflichtung des Antragsgegners, ihm einstweilen bis zur Mitteilung eines Abschiebungstermins durch das Landesamt für Asyl und Rückführungen eine Duldung zu erteilen, nicht glaubhaft gemacht.
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Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers so lange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist.
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Eine Unmöglichkeit aus rechtlichen Gründen liegt vor, wenn sich aus nationalen Gesetzen, Verfassungsrecht (z.B. Art. 6 GG), Unionsrecht (z.B. Art. 7 EU-GR-Charta) oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt.
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Ersichtlich liegt eine Unmöglichkeit aus rechtlichen Gründen nicht vor, wird vom Antragsteller nicht vorgetragen und auch vom Verwaltungsgericht nicht angenommen.
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Eine Unmöglichkeit der Abschiebung aus tatsächlichen Gründen ist gegeben, wenn eine Abschiebung aufgrund objektiver Umstände, die in der Person des Ausländers oder in äußeren Gegebenheiten liegen, nicht bzw. nur mit unverhältnismäßigem Aufwand durchgesetzt werden kann. Unmöglichkeit der Abschiebung ist nicht schon bei jeder geringen zeitlichen Verzögerung infolge der notwendigen verwaltungsmäßigen Vorbereitungen anzunehmen, sondern nur bei dem zeitweiligen Ausschluss der Abschiebung aufgrund rechtlicher Verbote oder Hindernisse oder aufgrund tatsächlicher Umstände außerhalb der administrativen Organisation der Abschiebung. Das Rechtsinstitut der Duldung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Ausreisepflicht eines Ausländers nicht in allen Fällen ohne Verzögerung durchgesetzt werden kann und ihre Durchsetzung auf nicht absehbare Zeit unmöglich ist. Eine Duldung ist aber grundsätzlich dann zu erteilen, wenn die Abschiebung zwar möglich ist, die Ausreisepflicht des Ausländers aber nicht ohne erhebliche Verzögerung durchgesetzt werden kann (BT-Drs. 11/6321, 76 zu § 55 Abs. 1 AuslG 1990). Der Gesetzgeber geht von der zügigen Durchführung der Abschiebung aus. Ergeben sich Hindernisse, die eine erhebliche Verzögerung der Abschiebung nach sich ziehen, ist nach § 55 Abs. 2 AuslG (jetzt: § 60a Abs. 2 AufenthG) zu verfahren. Erscheint die Abschiebung nach den Gegebenheiten des Falles nicht aussichtslos, darf andererseits ein fehlgeschlagener Abschiebungsversuch vorausgesetzt werden, bevor eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung angenommen wird. Die Ausländerbehörde hat im Rahmen der Prüfung einer Aussetzung der Abschiebung nicht nur zu untersuchen, ob die Abschiebung des Ausländers überhaupt durchgeführt werden kann, sondern auch, innerhalb welchen Zeitraums eine solche möglich ist. Dies gilt nicht nur für die Fälle, in denen eine Abschiebung grundsätzlich möglich ist, sondern auch in den Fällen, in denen eine Abschiebung derzeit unmöglich ist. In den letztgenannten Fällen ist von der Ausländerbehörde zu prüfen, wann dieses Hindernis behoben sein wird. Kommt die Ausländerbehörde zu dem Ergebnis, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss ist, ist eine Duldung zu erteilen (vgl. BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 3.97 – juris Rn. 22 f.; U.v. 21.3.2000 – 1 C 23.99 – juris Rn. 20; BayVGH, B.v. 4.1.2016 – 10 C 15.2016 – juris Rn. 22; U.v. 4.8.2021 – 19 B 21.1268 – juris Rn. 25 ff.; BeckOK AuslR/Kluth/Breidenbach, 35. Ed. 1.10.2022, AufenthG § 60a Rn. 9; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 60a AufenthG Rn. 22 ff.).
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Gemessen an diesen Grundsätzen kann im vorliegenden Fall eine Verpflichtung des Antragsgegners, dem Antragsteller einstweilen bis zur Mitteilung eines Abschiebungstermins durch das Landesamt für Asyl und Rückführungen eine (Organisations-) Duldung zu erteilen, nicht angenommen werden.
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Zu Recht weist der Antragsgegner darauf hin, dass für den Antragsteller ein materieller Duldungsgrund nicht vorliegt. Der Antragsgegner weist zutreffend darauf hin, dass seit der Ungültigstempelung der zuletzt erteilten Duldung die Abschiebung des Antragstellers seitens der Ausländerbehörde aktiv betrieben werde, d. h. die „normalen“ notwendigen verwaltungsmäßigen Vorbereitungen der Abschiebung im Gange seien und es nicht ersichtlich sei, dass es insoweit zu Verzögerungen kommen werde, die die Abschiebung auf nicht absehbare Zeit unmöglich machen würden. Eine erhebliche Verzögerung bzw. eine auf nicht absehbare Zeit bestehende Unmöglichkeit der Abschiebung und damit ein vom Gesetzgeber nicht gewollter längerer „Schwebezustand“, der den Antragsgegner verpflichten würde, dem Antragsteller eine Duldung zu erteilen, liegt daher nicht vor. Darüber hinaus ist eine Notwendigkeit, für den Zeitraum einer ggf. zeitlich aufwendigen Organisation der Abschiebung zusätzlich eine vom Gesetzgeber nicht vorgesehene „Organisationsduldung“ zu erteilen, nach den oben dargelegten Maßstäbe nicht erforderlich, denn der für die Durchführung der Abschiebung notwendige Zeitraum macht diese nicht zeitweise unmöglich. Dies gilt indes nur für den üblicherweise erforderlichen Zeitraum. Der Gesetzgeber geht insofern – wie bereits ausgeführt – von der zügigen Durchführung der Abschiebung aus. Lediglich kurzfristige, mithin geringfügige zeitliche Verzögerungen begründen demnach keine tatsächliche Unmöglichkeit (vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand: März 2021, § 60a Rn. 311 m.w.N.). Erst wenn absehbar ist, dass der – auf das konkrete Zielland bezogene üblicherweise erforderliche Zeitraum – wie hier nicht – überschritten wird, kann (wie dargelegt) die Ausländerbehörde die dann zu erteilende (bzw. zu verlängernde) Duldung insbesondere mit einer kurzen Laufzeit versehen (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2021 – 10 CE 21.1427 – juris Rn. 18 m.w.N.). Dazu ist nichts Ausreichendes glaubhaft gemacht. Insbesondere ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Antragsgegner eine Vollstreckung der Ausreisepflicht nicht betreibt bzw. eine Rückführung des Antragstellers nach Aserbeidschan nicht zeitnah erfolgen könnte. Dabei sind gewisse zeitliche Verzögerungen aufgrund der hohen Belastung der zuständigen Behörden (auch infolge der derzeitigen hohen Zahl einreisender Migranten und der Vielzahl zu bearbeitender Verfahren auch aufgrund neuer Gesetzeslagen, vgl. z.B. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.1.2023: „25.000 offene Anfragen – allein in München“) grundsätzlich unschädlich.
19
Da sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht aus anderen, in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht angeführten Gründen als im Ergebnis richtig erweist, ist Ziff. I S. 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 30. August 2022 abzuändern und der Antrag insgesamt abzulehnen.
20
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Der Senat orientiert sich insoweit an der im Vordergrund stehenden Ausbildungsduldung. Die wirtschaftliche Bedeutung einer Ausbildungsduldung rechtfertigt den Ansatz des Auffangwerts (vgl. etwa BayVGH, B.v. 20.11.2018 – 10 CE 18.1598 – juris Rn.19) und nicht des hälftigen Auffangwerts (vgl. Ziff. 8.3 des Streitwertkatalogs „Abschiebung“). Der Streitwert war gem. Ziff. 1.5. des Streitwertkatalogs im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auf die Hälfte zu reduzieren. Auf eine Vorwegnahme der Hauptsache – die einer Reduktion entgegenstünde – ist das Eilrechtsschutzbegehren nicht gerichtet (ebenso insoweit einen Streitwert von 2500 EUR annehmend: VGH BW, B.v. 7.7.2020 – 11 S 1076/19 juris Rn. 36; OVG Berlin-Bbg., B.v. 26.5.2021 – 3 S 32/21 – juris Rn. 11; a.A. OVG NRW, B.v. 6.12.2022 – 18 B 1203/ 22 – juris Rn. 16: 1250 EUR; a.A. BayVGH, B.v. 2.5.2019
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- 10 CE 19/273 juris Rn.12 sowie OVG SH, B.v. 31.8.2021 – 1 B 107/2 – juris Rn.36: 5000 EUR).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).