Inhalt

VGH München, Beschluss v. 06.02.2023 – 10 ZB 23.18
Titel:

Fehlender Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Ausweisung und dem Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie seiner Befristung

Normenkette:
AufenthG § 11 Abs. 1, Abs. 2 S. 1. § 53 Abs. 1
Leitsätze:
1. Ein Verstoß gegen § 11 Abs. 2 S. 1 AufenthG, wonach das Einreise- und Aufenthaltsverbot im Falle der Ausweisung gemeinsam mit der Ausweisung zu erlassen ist, führt nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung selbst. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dass die (isolierte) Aufhebung des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ausweisungsfällen zu einer vorübergehenden „isolierten“ Ausweisung führt, hat die obergerichtliche Rechtsprechung trotz des Wortlauts des § 11 Abs. 2 S. 1 AufenthG nicht dazu veranlasst, in einem solchen Fall von der Rechtswidrigkeit der Ausweisung auszugehen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ist im Falle einer Ausweisung der Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots zunächst unterblieben oder wird das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach seinem Erlass aufgehoben, hindert § 11 Abs. 2 S. 1 AufenthG deshalb die Ausländerbehörde nicht an dessen nachträglicher bzw. erneuter Anordnung (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, (kein) Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Ausweisung und fehlendem befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbot, Antrag auf Zulassung der Berufung, Aufenthalts- und Einreiseverbot, Rechtswidrigkeitszusammenhang
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 16.11.2022 – Au 6 K 22.1907
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2742

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Der Kläger verfolgt mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung seine in erster Instanz insoweit erfolglose Klage gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet mit Bescheid des Beklagten vom 1. September 2022, weiter.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.), noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.).
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht hat die mit dem angegriffenen Bescheid (auch) verfügte Befristung der „Wirkung der Ausweisung“ und (infolgedessen dessen) auch die verfügte Abschiebungsandrohung aufgehoben, die Klage im Hinblick auf die Ausweisung selbst aber abgewiesen. Die Ausweisung sei rechtmäßig und verletzte den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Ausweisung stehe insbesondere nicht entgegen, dass es im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts am Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots fehle. Es handele sich bei der Ausweisung des Klägers nicht um eine sog. inlandsbezogene Ausweisung, sodass der Beklagte die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots bis zur Bestandskraft der Ausweisung nachholen könne.
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Diese Ausführungen werden vom Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend in Zweifel gezogen.
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Der Hinweis des Klägers auf eine Stelle in den Entscheidungsgründen, wonach das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgehe, dass ein Aufenthalts- und Einreiseverbot erlassen worden sei (Rn. 50 des „unter Berücksichtigung der fehlenden Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht (…) unverhältnismäßig oder sonst rechtswidrig“), zeigt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils auf. Bei dieser Formulierung handelt es sich offensichtlich um ein redaktionelles Versehen, denn an anderer Stelle geht das Verwaltungsgericht ausdrücklich davon aus, dass ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht erlassen worden sei, begründet dies und stützt sogar die Aufhebung der Befristungsentscheidung auf diesen Umstand (Rn. 52 des UA: „weil dem Bescheid keine erforderliche Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu entnehmen ist“).
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Auch das Argument des Klägers, dass der fehlende Erlass eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung führe, zeigt keine ernstlichen Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf.
8
Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294) ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot im Falle der Ausweisung gemeinsam mit der Ausweisung zu erlassen. Das Verbot ist von Amts wegen zu befristen (§ 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Ein Verstoß gegen § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG führt indes nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung selbst.
9
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Anordnung eines (zu befristenden) Einreise- und Aufenthaltsverbots ein gegenüber der Ausweisung eigenständiger Verwaltungsakt ist, der mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist und dessen Rechtswidrigkeit zur Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots insgesamt führt (BVerwG U.v. 7.9.2021 – 1 C 47.20 – juris Rn. 10 m.w.N.). Dass die (isolierte) Aufhebung des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ausweisungsfällen zu einer vorübergehenden „isolierten“ Ausweisung führt, hat die obergerichtliche Rechtsprechung – soweit ersichtlich – trotz des Wortlauts des § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht dazu veranlasst, in einem solchen Fall von der Rechtswidrigkeit der Ausweisung auszugehen. Wie bei der Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, U.v. 6.2.2019 – 1 A 3/18 – BVerwGE 164, 317 – juris Rn. 83; Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 11 AufenthG Rn. 45) gibt es insofern keinen Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Ausweisung und dem Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie seiner Befristung (so auch Katzer in BeckOK MigR, Stand 15.10.2022, § 11 AufenthG Rn. 5; Huber in Huber/Mantel, AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 11 Rn. 10 m.w.N.).
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Für eine andere Auffassung sprechen weder das Gesetzgebungsverfahren noch teleologische Erwägungen. Die Beweggründe des Gesetzgebers, den gemeinsamen Erlass von Ausweisung einerseits sowie Einreise- und Aufenthaltsverbot andererseits vorzusehen, lassen sich weder der Entwurfsbegründung zu § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (BT-Drs. 19/10047, S. 31), noch den übrigen Gesetzgebungsmaterialien entnehmen. Unionsrechtlich war diese zeitliche Verknüpfung nicht geboten (vgl. dazu sogleich; s. auch Hoppe in Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2022, § 7 Rn. 141). Objektiv dient § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG der Verfahrensbeschleunigung und dem Interesse des von der Ausweisung Betroffenen, bereits im Zeitpunkt der Ausweisung seine Rückkehrperspektive abschätzen zu können. Dieser eingeschränkte Zweck erfordert es nicht, das Prüfprogramm für die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung über §§ 53 bis 55 AufenthG hinaus um die Anordnung eines (rechtmäßigen) Einreise- und Aufenthaltsverbots zu erweitern. Ist im Falle einer Ausweisung der Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots zunächst unterblieben oder wird das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach seinem Erlass aufgehoben, hindert § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG deshalb die Ausländerbehörde nicht an dessen nachträglicher bzw. erneuter Anordnung (für die nachträgliche Anordnung Hoppe in Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2022, § 7 Rn. 147).
11
Auch systematische Erwägungen oder Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit sprechen nicht dafür, dass die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung stets von der gleichzeitigen Anordnung eines (rechtmäßigen) Einreise- und Aufenthaltsverbots abhinge. Insbesondere ist entgegen der Zulassungsbegründung nicht zu befürchten, dass eine entgegen § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unterlassene Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots zu unbefristeten und damit unverhältnismäßigen Wirkungen der Ausweisung führen könnte. Die klassischen „Wirkungen der Ausweisung“ – Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie Titelerteilungssperre – im Sinne früherer Fassungen von § 11 Abs. 1 AufenthG knüpfen nach Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 nicht mehr an die Ausweisung selbst, sondern nach der ausdrücklichen Regelung in § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG an die behördliche Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbot an, treten also ohne eine solche Anordnung nicht ein. Nach der Neufassung des Gesetzes verbleibt – was der Kläger selbst einräumt – als unmittelbare Wirkung der Ausweisung nur noch das Erlöschen von Aufenthaltstiteln nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG und das damit verbundene Entstehen der Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG. Die titelvernichtende Wirkung der Ausweisung und die damit einhergehende Ausreisepflicht können allerdings nach der gesetzlichen Konzeption nicht durch eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung, sondern nur durch eine auf den Erlasszeitpunkt rückwirkende Aufhebung beseitigt werden (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 22), denn der Ablauf der Frist allein führt nicht zu einem Wiederaufleben des mit der Ausweisung kraft Gesetzes erloschenen Aufenthaltstitels (BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 26.08 – juris Rn. 11). Das Unterbleiben einer Entscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG führt damit unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu einem über die Ausweisung hinausgehenden Nachteil für den Betroffenen.
12
Schließlich gebietet auch Unionsrecht nicht die Annahme eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs zwischen Ausweisung und Einreise- und Aufenthaltsverbot, da nicht schon die Ausweisung, sondern erst die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinne der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. EU, Nr. L 348, S. 98 ff. – Rückkehrrichtlinie) darstellt (BVerwG, Urt. v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 41; B.v. 9.5.2019 – 1 C 14.19 – juris Rn. 30 u. 32; BayVGH, B.v. 28.9.2022 – 10 C 22.1648 – juris Rn. 8), die gem. Art. 11 Abs. 1 RL 2008/115/EG mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot zu verbinden ist (vgl. dazu Dörig, ZAR 2022, 244/245).
13
Soweit der Kläger im Übrigen Zweifel daran hegt, dass eine rein statusverschlechternde (inlandsbezogene) Ausweisung ohne Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtlich zulässig sei, verkennt er bereits, dass das Verwaltungsgericht ausdrücklich davon ausgegangen ist, dass keine rein inlandsbezogene Ausweisung vorliege. Gegen diese Annahme, für die auch spricht, dass Abschiebungsverbote oder -hindernisse, die einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehen könnten, weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind, wendet sich der Kläger nicht.
14
2. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegt ebenfalls nicht vor.
15
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – Rn. 4; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10). Fragen, die sich ohne weiteres ohne die Durchführung eines Berufungsverfahrens anhand des Gesetzes und der dazu ergangen obergerichtlichen Rechtsprechung beantworten lassen, rechtfertigen dabei nicht die Zulassung der Berufung (vgl. BayVGH, B.v. 1.12.2009 – 10 ZB 08.2496 – juris Rn. 22; B.v. 7.10.2009 – 10 ZB 09.2142 – juris Rn. 6).
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Gemessen daran liegen die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht vor.
17
Der Kläger hält für grundsätzlich klärungsbedürftig, „ob eine Ausweisung, der entgegen § 11 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 AufenthG kein Einreise- und Aufenthaltsverbot folgt, rechtlich zulässig ist“ und „ob nach Inkrafttreten des 2. Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 nicht auch die Wirkungen einer Ausweisung ausdrücklich befristet werden (müssen)“. Die erste Frage lässt sich – wie dargelegt – auch ohne die Durchführung eines Berufungsverfahrens anhand des Gesetzes und der dazu ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung beantworten. Die zweite Frage stellt sich in dieser Form nicht, weil es nach der Neufassung von § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG – wie dargestellt – keine unmittelbaren „Wirkungen der Ausweisung“ mehr gibt, die einer Befristung bedürften.
18
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
19
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
20
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).