Titel:
kein Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung
Normenkette:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 25b Abs. 2 Nr. 2, § 60a Abs. 2 S. 1
Leitsatz:
Die ausnahmsweise mögliche Erteilung einer Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG iVm Art. 19 Abs. 4 GG voraus, dass die Aussetzung der Abschiebung geboten ist, weil zweifelsfrei ein (Rechts-)Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels besteht bzw., sofern der Ausländerbehörde in Bezug auf die Titelerteilung Ermessen eröffnet ist, keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verfahrensduldung, Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration, bestehendes Ausweisungsinteresse, sexueller Übergriff in einem minder schweren Fall, (kein) atypischer Ausnahmefall, Absehen von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen im Ermessensweg, keine Ermessensreduzierung auf Null, Aussetzung der Abschiebung, schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, atypischer Ausnahmefall, Ermessen
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 13.02.2023 – M 24 E 23.613
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2737
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller, ein pakistanischer Staatsangehöriger, seinen vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Eilantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO weiter, die Antragsgegnerin (richtig: den Antragsgegner) zu verpflichten, die Abschiebung des Antragstellers bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts im anhängigen Hauptsachestreitverfahren (M 24 K 21.5112) sowie der Entscheidung des Antragsgegners wegen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG auszusetzen.
2
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt nicht die begehrte Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 VwGO in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 25b AufenthG nicht im Sinne von § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft gemacht hat.
3
Eine – lediglich ausnahmsweise mögliche (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 30; BayVGH, B.v. 12.9.2022 – 10 CE 22.1925 – juris Rn. 4; B.v. 6.12.2021 – 10 CE 21.2930 – juris Rn. 3 jew. m.w.N.) − Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG setzt voraus, dass die Aussetzung der Abschiebung geboten ist, weil zweifelsfrei ein (Rechts-)Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels besteht beziehungsweise – wenn der Ausländerbehörde in Bezug auf die Titelerteilung Ermessen eröffnet ist – keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten (BayVGH, B.v. 1.12.2022 – 10 CE 22.2378, 10 C 22.2379 – juris Rn. 28; VGH BW, B.v. 22.10.2020 – VGH 11 S 1812/20 – juris Rn. 15; B.v. 2.3.2021 – VGH 11 S 120/21 – juris Rn. 16 jew. m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind jedoch im Fall des Antragstellers entgegen seinem Beschwerdevorbringen nicht erfüllt.
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Das Verwaltungsgericht hat einen Anspruch des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG wegen des Fehlens der hier trotz der Regelung in § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG anwendbaren allgemeinen (Regel-)Erteilungsvoraussetzung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verneint. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts bestehe infolge der strafrechtlichen Verurteilung des Antragstellers mit rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichts München vom 12. März 2021 wegen sexuellen Übergriffs in einem minder schweren Fall (§ 177 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 9 StGB) zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 30 Euro ein noch aktuelles schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Diese Vorsatztat sei ungeachtet dessen, dass vom Strafgericht ein minder schwerer Fall angenommen worden sei, nicht als geringfügig einzustufen und für die Geschädigte mit fortbestehenden Folgen verbunden. Die Tat sei zudem geeignet, (auch) ein generalpräventives Ausweisungsinteresse zu begründen und hinreichend aktuell. Ein atypischer Fall sei im Fall des Antragstellers nicht ersichtlich.
5
Demgegenüber wird mit der Beschwerde eingewandt, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts verstoße gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), weil auf eine dem Antragsteller nicht bekannte Schutzschrift und aktuelle Ausländerakte Bezug genommen werde. Zudem sei weder vom Antragsgegner über einen am 24. September 2022 (erneut) gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG noch vom Verwaltungsgericht über die diesbezügliche Klage im Hauptsacheverfahren entschieden worden. Eine ablehnende Eilentscheidung ohne Berücksichtigung aller auch im Hauptsacheverfahren, insbesondere mit dem Schriftsatz vom 15. September 2022, vorgebrachten Argumente sei rechtswidrig und verletze das Recht des Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass bei Annahme eines bestehenden Ausweisungsinteresses § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG greife und dieses Ermessen nicht ausgeübt worden sei. Das Verwaltungsgericht könne daher der Behörde aufgeben, über den Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (neu) zu entscheiden. Das Interesse des Antragstellers an einem entsprechenden rechtsstaatlichen Verfahren überwiege das Interesse des Antragsgegners an der Abschiebung, zumal die strafrechtliche Verurteilung bereits vor fast zwei Jahren erfolgt, der Antragsteller bisher aber nicht abgeschoben worden sei.
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Diese Einwendungen greifen jedoch nicht durch. Die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist schon nicht geeignet, den erforderlichen Anordnungsanspruch und damit einen Erfolg des einstweiligen Rechtsschutzbegehrens des Antragstellers zu begründen. Die weiteren Rügen sind in der Sache nicht durchgreifend. Auch wenn die Antragstellerseite in dem in Bezug genommenen Schriftsatz vom 15. September 2022 im Klageverfahren M 24 K 21.5112 das rechtskräftige Strafurteil des Amtsgerichts München vom 12. März 2021 sowohl hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen als auch hinsichtlich der Strafzumessungserwägungen des Strafgerichts „kritisch hinterfragt“, folgt daraus nicht, dass das Verwaltungsgericht auf diese rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung nicht hätte abstellen dürfen. Dass die Ausländerbehörde oder das Verwaltungsgericht hier in der Lage sein sollen, den zugrunde liegenden Vorfall besser als das Strafgericht aufzuklären, bzw. das rechtskräftige Strafurteil auf einem Irrtum beruht, wird jedenfalls nicht plausibel dargelegt oder gar glaubhaft gemacht. Nicht glaubhaft gemacht wird weiterhin, dass im Falle des Antragstellers und des vom Verwaltungsgericht bejahten Ausweisungsinteresses von einem atypischen Ausnahmefall auszugehen ist, weil besondere Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie im Einzelfall das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzgeberischen Entscheidung für den Regelfall beseitigen (vgl. Beiderbeck in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, Stand 15.10.2022, AufenthG § 5 Rn. 12 m. Rsprnachweisen). Insofern genügt es nicht, eine einseitige Sachverhaltsdarstellung (des Verwaltungsgerichts) ohne Berücksichtigung aller tatsächlichen und rechtlichen Argumente des Antragstellers im Beschwerdeverfahren lediglich zu behaupten.
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Nicht glaubhaft gemacht wird mit der Beschwerde schließlich, dass der Antragsgegner bei der Entscheidung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG über ein Absehen von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen im Ermessenswege unter umfassender Würdigung aller für und gegen eine Aufenthaltslegalisierung sprechenden Umstände und dabei auch der bisherigen Integrationsleistungen des Antragstellers (vgl. Beiderbeck in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, Stand 15.10.2022, AufenthG § 5 Rn. 21 m. Rsprnachweisen) das Ermessen – im Sinne einer Ermessensreduzierung auf Null – zugunsten des Antragstellers hätte ausüben müssen. Dass in seinem Fall keine tragfähigen Gesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten, wird mit dem nicht weiter substantiierten Beschwerdevorbringen allenfalls behauptet.
8
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
9
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
10
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).