Titel:
kein Abschiebungshindernis wegen familiärer Beistandsgemeinschaft
Normenkette:
AufenthG § 25a Abs. 1, § 60a Abs. 2 S. 1, § 60a Abs. 2 lit. c
Leitsatz:
Voraussetzung für die Zuerkennung eines Abschiebungshindernisses wegen bestehender Beistandsgemeinschaft ist, dass ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands nicht zumutbar ist. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Duldung, familiäre Beziehung zwischen Volljährigen, Gesundheitsbeeinträchtigungen, Verfahrensduldung, Abschiebungshindernis, familiäre Beistandsgemeinschaft
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 09.09.2022 – M 27 E 21.6551
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2736
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit der Beschwerde verfolgen die Antragsteller, eine Familie peruanischer Staatsangehöriger, ihren vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Eilantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO weiter, den Antragsgegner zu verpflichten, „die Abschiebung der Antragsteller auszusetzen und ihnen jeweils Duldungsbescheinigungen ohne auflösende Bedingung auszustellen“.
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine Aufhebung oder Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Antragsteller keinen Anspruch auf eine vor-übergehende Aussetzung der Abschiebung und damit die Erteilung einer Duldung – ohne den (bisher angeordneten) Zusatz „Die Duldung erlischt mit der Bekanntgabe des Abschiebungstermins“ – glaubhaft gemacht haben, weil zugunsten der Antragsteller weder Abschiebungshindernisse noch Duldungsgründe bestehen.
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1. Die Abschiebung der Antragsteller – die derzeit nur mit Rücksicht auf das vorliegende gerichtliche Verfahren geduldet werden – ist nicht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Durchgreifende Gründe wurden auch im Beschwerdeverfahren nicht vorgetragen.
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a) Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung ergibt sich nicht aus den vorgetragenen engen familiären Beziehungen der Antragstellerin zu 1 zu ihren im Bundesgebiet lebenden Geschwistern und Eltern.
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Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet. Nur wenn die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllt, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange mit der Folge zurück, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen sich als unverhältnismäßig erweisen. Voraussetzung für die Zuerkennung eines Abschiebungshindernisses wegen bestehender Beistandsgemeinschaft ist, dass ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands nicht zumutbar ist (BVerfG, B.v. 25.10.1995 – 2 BvR 901/95 – juris Rn. 10 m.w.N.; BayVGH, B.v. 15.4.2021 – 19 CE 21.523 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 25.4.2014 – 10 CE 14.650 – juris Rn. 6).
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Das Vorliegen einer Beistandsgemeinschaft zwischen der Antragstellerin zu 1 und ihren bereits im Bundesgebiet lebenden Angehörigen in diesem Sinne wurde weder im erstinstanzlichen noch im Beschwerdeverfahren substantiiert vorgetragen oder gar glaubhaft gemacht. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei der Antragstellerin zu 1 um eine erwachsene Frau handelt, die – anders als dies bei minderjährigen Kindern zu beurteilen wäre – nicht auf den Verbleib bei ihren Eltern angewiesen ist, und dass umgekehrt auch für die Eltern derartiges nicht glaubhaft gemacht ist (BA Rn. 29). Auch im Beschwerdeverfahren ergibt sich weder aus der vorgetragenen „engen Beziehung“ der Antragstellerin zu 1 zu ihrer im Bundesgebiet lebenden Schwester noch aus der behaupteten Notwendigkeit einer „familiären Einbindung“ des Antragstellers zu 3 zu seinen im Bundesgebiet lebenden Verwandten die Notwendigkeit einer nur im Bundesgebiet zu leistenden Lebenshilfe.
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Soweit in der Beschwerdebegründung beanstandet wird, das Verwaltungsgericht habe auf die Möglichkeit der Rückkehr der im Bundesgebiet lebenden Verwandten nach Peru verwiesen, obwohl diese ein Aufenthaltsrecht hätten, ist dies dem angefochtenen Beschluss nicht zu entnehmen. Die Erwägungen zur Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft im Herkunftsland beziehen sich auf die „Kernfamilie“ (BA Rn. 32), also auf die Antragsteller selbst und den weiteren in Freiburg lebenden Sohn der Antragsteller zu 1 und zu 2, der nicht Beteiligter an dem vorliegenden Verfahren ist und ebenfalls (nur) eine Duldung besitzt.
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b) Bezüglich der behaupteten – allerdings nicht weiter dargelegten – Verfolgungsgründe und drohenden beachtlichen Gefahren durch „mafiöse Strukturen“ in Peru sind die Ausländerbehörden und die Verwaltungsgerichte aufgrund von § 6 Satz 1 AsylG an die bestandskräftigen Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. September 2021 gebunden.
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Gleiches gilt nach § 42 Satz 1 AsylG, soweit im Hinblick auf die dargelegten Gesundheitsbeeinträchtigungen der Antragstellerin zu 1 ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK geltend gemacht werden soll.
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c) Aus dem Beschwerdevorbringen betreffend die Gesundheitsbeeinträchtigungen der Antragstellerin zu 1 ergibt sich auch kein inlandsbezogenes rechtliches Vollstreckungs- bzw. Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Die gesetzliche Vermutung, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen (§ 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG), ist auch durch das nunmehr vorgelegte fachärztliche Attest vom 29. November 2022 nicht widerlegt.
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Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, so dass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solcher (unabhängig vom konkreten Zielstaat) eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes für den betroffenen Ausländer konkret droht. Wegen der Bindungswirkung nach § 42 AsylG an die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge oder des Verwaltungsgerichts über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG kommen nur inlands- und nicht zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote in Betracht. Eine bestehende Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers kann ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in zweierlei Hinsicht begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen der Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne; vgl. zum ganzen zuletzt etwa BayVGH, B.v. 20.1.2022 – 19 CE 21.2437 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 28.11.2022 – 10 CE 22.2250, 10 C 22.2252 – juris Rn. 8).
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Unabhängig von der Frage, ob die „kurze ärztliche Stellungnahme“ vom 29. November 2022 den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG entspricht, wie der Antragsgegner bezweifelt, ergibt sich daraus weder ausdrücklich noch sinngemäß eine derartige Reiseunfähigkeit im engeren oder weiteren Sinn. Eine Gesundheits- oder Suizidgefahr ergibt sich danach nicht unmittelbar aus der Abschiebung, sondern aufgrund der Wahrnehmung der Antragstellerin zu 1 als „Ausliefern an den Täter, einem Aussetzen in eine von Unsicherheiten und Gefahren gezeichnete Welt“. Soweit den spärlichen Angaben bei „Biographie“ entnommen werden kann, bezieht sie sich dabei auf die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgetragenen Verfolgungsgründe, die im Asylverfahren umfassend gewürdigt worden sind.
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d) Auch aus dem Hinweis auf Art. 3 GG ist kein Duldungsanspruch ersichtlich. Es mag sein, dass nach der Verwaltungspraxis in Baden-Württemberg im Fall eines Antrags bei einer Härtefallkommission eine Duldung erteilt wird. Das Gebot der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG gilt nur im Bereich eines Hoheitsträgers, hier des Antragsgegners, und bindet die Träger öffentlicher Gewalt (nur) in ihrem Zuständigkeitsbereich (vgl. BVerwG, B.v. 6.8.2020 – 6 B 11.20 – juris Rn. 16 m.w.Nachw.). Für die Antragsteller ist nach Aktenlage jedenfalls weder in Bayern noch in Baden-Württemberg ein Antrag bei einer Härtefallkommission gestellt.
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2. Die Antragsteller haben auch keinen Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 VwGO i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG im Hinblick darauf, dass für die Antragsteller zu 3 und zu 4 mittlerweile (am 4. Januar 2023) jeweils ein Antrag auf Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG gestellt worden ist, glaubhaft gemacht. Dies gilt auch unabhängig davon, dass die Antragstellung und der diesbezügliche Sachvortrag erst nach dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts sowie nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO erfolgt ist und die Ausländerbehörde die Anträge noch nicht abschließend geprüft hat, denn die Voraussetzungen einer Verfahrensduldung liegen nicht vor.
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Eine – lediglich ausnahmsweise mögliche (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 30; BayVGH, B.v. 12.9.2022 – 10 CE 22.1925 – juris Rn. 4; B.v. 6.12.2021 – 10 CE 21.2930 – juris Rn. 3) – Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG setzt voraus, dass die Aussetzung der Abschiebung geboten ist, weil zweifelsfrei ein (Rechts-)Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels besteht beziehungsweise – wenn der Ausländerbehörde in Bezug auf die Titelerteilung Ermessen eröffnet ist – keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten (BayVGH, B.v. 1.12.2022 – 10 CE 22.2378, 10 C 22.2379 – juris Rn. 28; VGH BW, B.v. 22.10.2020 – VGH 11 S 1812/20 – juris Rn. 15; B.v. 2.3.2021 – VGH 11 S 120/21 – juris Rn. 16 jew. m.w.N.).
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Im Fall der Antragsteller zu 3 und zu 4 steht jedenfalls nicht zweifelsfrei fest, dass die Tatbestandsvoraussetzung des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG (in der seit 31.12.2022 geltenden Fassung) eines seit drei Jahren ununterbrochen erlaubten, geduldeten oder gestatteten Aufenthalts im Bundesgebiet vorliegt. Ein – unstreitig – ununterbrochen gestatteter bzw. geduldeter Aufenthalt der Antragsteller liegt erst seit der Asylantragstellung am 25. März 2021 vor. Zuvor war ihr Aufenthalt nach Ablauf der Visumfreiheit im März 2020 unerlaubt. Die beiden E-Mail-Anfragen (wohl) der Schwester der Antragstellerin zu 1 vom 26./27. Mai 2020 bei der Ausländerbehörde der Stadt Freiburg können entgegen der Meinung der Antragsteller nicht als wirksame, möglicherweise eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auslösende Anträge auf Aufenthaltstitel angesehen werden. Sie enthalten keinerlei Personalien oder sonstige Angaben zu den Antragstellern; der Antragsgegner weist zu Recht darauf hin, es sei nicht zu erkennen gewesen, „um wen es sich genau handelte“. Ob in den späteren E-Mail-Sendungen, etwa in dem „Antrag auf Visumverlängerung“ vom 20. September 2020, eine wirksame Antragstellung zu sehen ist, kann hier offen bleiben.
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Es steht damit jedenfalls fest, dass ein durch eine Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 VwGO i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG zu sichernder Anspruch auf einen Aufenthaltstitel nach § 25a Abs. 1 AufenthG (bezüglich der Antragsteller zu 3 und zu 4) bzw. nach § 25a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (bezüglich der Antragsteller zu 1 und zu 2) nicht im Sinn des § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).