Titel:
zur Reichweite einer Verpflichtungserklärung für Bürgerkriegsflüchtlinge
Normenkette:
AufenthG § 23 Abs. 1, § 25 Abs. 2, § 68 Abs. 1, § 68a S. 1
Leitsätze:
1. § 68 Abs. 1 S. 4 AufenthG wird von der Rückwirkung des § 68a Satz 1 AufenthG nicht erfasst und ist deshalb auf vor dem 6. August 2016 abgegebene Verpflichtungserklärungen nicht anwendbar. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die zur Ermöglichung einer Einreise als Bürgerkriegsflüchtling nach § 23 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit einer Landesaufnahmeanordnung abgegebene Verpflichtungserklärung erlischt nicht durch die nachfolgende Anerkennung des Begünstigten als Flüchtling und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG, denn beide Aufenthaltserlaubnisse sind solche aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Sinne des Kapitels 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes; ihnen liegt derselbe Aufenthaltszweck zugrunde. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltsrecht, Inanspruchnahme aus Verpflichtungserklärung, Haftung für Lebensunterhalt syrischer Flüchtlinge (Aufnahmeanordnung), kein Ende der Verpflichtung durch Flüchtlingsanerkennung, Leistungsfähigkeit, Verpflichtungserklärung, Haftung für Lebensunterhalt, Bürgerkriegsflüchtling, Vordruck, Landesaufnahmeanordnung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 23.10.2019 – M 25 K 17.5331
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2727
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Verpflichtung zur Erstattung von Leistungen zur Grundsicherung für seine Eltern (§ 68 Abs. 1 AufenthG).
2
Der Kläger verpflichtete sich am 2. März 2015 vor der Ausländerbehörde der Landeshauptstadt H. mit zwei schriftlichen Erklärungen nach § 68 AufenthG, die Kosten für den Lebensunterhalt seiner Eltern (syrische Staatsangehörige) zu tragen. Zusammen mit den Erklärungen legte er Gehaltsabrechnungen über seine Haupt-Berufstätigkeit für die Monate Oktober 2014 bis Januar 2015 mit einem monatlichen Nettodurchschnittsgehalt von 1.537,28 Euro vor, ferner Verdienstabrechnungen über monatlich 420,- Euro aus einer Nebenbeschäftigung.
3
Für die Verpflichtungserklärungen ist jeweils der bundeseinheitliche Vordruck verwendet worden. Betreffend „Dauer der Verpflichtung“ ist vorgedruckt „vom Tag der voraussichtlichen Einreise am [eingefügt: „02.03.2015“] bis zur Beendigung des Aufenthalts des o.g. Ausländers/in oder bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck“. Darüber ist eingetragen: „endet frühestens mit Beendigung des Aufenthalts“. Unter „Behördenvermerke“ ist eingetragen: „Diese Verpflichtungserklärung umfasst aufgrund der Anordnung des Ministeriums für Inneres und Sport des Landes Niedersachsen nach § 23 Abs. 1 AufenthG vom 22.12.2014 – Az. 12230/1-8 (§ 23 Abs. 1 AufenthG) nicht die Haftung für Kosten bei Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft, Geburt, Behinderung und Pflegebedürftigkeit i.S.d. §§ 4, 6 AsylblG.“
4
Die Eltern des Klägers reisten (wohl) im März 2015 als syrische Bürgerkriegsflüchtlinge nach § 23 Abs. 1 AufenthG i.V.m. der Aufnahmeanordnung Syrien in das Bundesgebiet ein und stellten am 1. Juli 2015 Asylanträge. Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 8. Dezember 2015 wurde ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Seit 15. März 2016 waren sie im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 2 AufenthG.
5
Am 1. August 2016 zogen die Eltern des Klägers von Hannover in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten und beantragten dort am gleichen Tag Leistungen zur Grundsicherung nach SGB XII. Mit Bescheid der Beklagten vom 14. September 2016 wurde ihnen Grundsicherung ab August 2016 bewilligt und mit weiteren Bescheiden vom 1. August 2017 und vom 28. November 2017 jeweils weiterbewilligt. Von August bis Oktober 2016 erhielten die Eltern des Klägers monatlich 1.028,05 Euro, für November und Dezember 2016 monatlich 1.048,- Euro, von Januar bis Oktober 2017 monatlich 1.056,- Euro und von November 2017 bis Februar 2018 monatlich 1.494,67 Euro.
6
Mit Schreiben vom 8. Juni 2017 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Heranziehung aus den Verpflichtungserklärungen an und forderte ihn auf, einen Selbstauskunftsbogen auszufüllen und Nachweise vorzulegen, um seine finanzielle Belastbarkeit zu überprüfen. Der Kläger übersandte am 10. Juli 2017 einen teilweise ausgefüllten Selbstauskunftsbogen (1.000,- Euro monatliche Netto-Einnahmen aus Gewerbetätigkeit, keine Einkünfte der Ehefrau), legte aber keine Nachweise vor. Auch einer nochmaligen Aufforderung zur Vorlage von Belegen vom 14. Juli 2017 kam der Kläger nicht nach.
7
Mit Leistungsbescheid vom 19. Oktober 2017 verpflichte die Beklagte den Kläger, von den im Zeitraum 1. August 2016 bis 31. Oktober 2017 an seine Eltern aufgewendeten Grundsicherungsleistungen einen Betrag von 3.374,78 Euro zu erstatten.
8
In den Gründen beruft sich die Beklagte auf die vom Kläger abgegebenen Verpflichtungserklärungen. Die Beklagte habe für die Eltern des Klägers von August 2016 bis Oktober 2017 insgesamt 15.740,15 Euro an Leistungen der Grundsicherung nach SGB XII aufgewendet.
9
Der Aufenthalt der Eltern des Klägers in Deutschland sei noch nicht beendet, auch sei kein Aufenthaltstitel zu einem anderen Aufenthaltszweck erteilt worden. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar 2017 (1 C 10.16) erlösche die zur Ermöglichung der Einreise als Bürgerkriegsflüchtling nach § 23 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit einer Landesaufnahmeanordnung abgegebene Verpflichtungserklärung nicht durch die nachfolgende Anerkennung des Begünstigten als Flüchtling und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG, denn beide Aufenthaltserlaubnisse seien solche aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Sinne des Kapitels 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes. Ihnen liege derselbe Aufenthaltszweck zugrunde. Die Verpflichtungserklärung entfalte daher weiterhin Gültigkeit.
10
Da der Kläger keine Nachweise für seine momentane finanzielle Situation vorgelegt habe, habe die Beklagte nur die Möglichkeit, zur Berechnung der Zumutbarkeit das Durchschnittseinkommen aus den Gehaltsnachweisen zu verwenden, die der Kläger bei der Abgabe der Verpflichtungserklärung der Stadt Hannover und der hieraus resultierenden Bonitätsprüfung vorgelegt habe. Aufgrund des Einkommens und der Pfändungstabellen errechne sich ein Erstattungsbetrag von 3.374,78 Euro. Dieser Betrag sei vom Kläger zu erstatten.
11
Etwas anderes ergebe sich auch nicht aufgrund von Ermessenserwägungen. Aufgrund des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sei die Behörde regelmäßig verpflichtet, die ihr zustehenden Forderungen durchzusetzen. Raum für Ermessenserwägungen bestehe nur bei atypischen Gegebenheiten. Solche seien jedoch nicht vorgetragen worden und der Beklagten auch nicht bekannt.
12
Der Kläger ließ hiergegen am 10. November 2017 Anfechtungsklage beim Verwaltungsgericht München erheben.
13
Mit weiterem Leistungsbescheid vom 2. März 2018 verpflichte die Beklagte den Kläger, von den im Zeitraum 1. November 2017 bis 28. Februar 2018 an seine Eltern aufgewendeten Grundsicherungsleistungen einen Betrag von 779,- Euro zu erstatten.
14
Die Begründung entspricht derjenigen des Bescheids vom 19. Oktober 2017.
15
Der Kläger bezog diesen Bescheid im Wege der Klageerweiterung in das bereits anhängige Verfahren mit ein und beantragte, auch diesen Bescheid aufzuheben.
16
Mit Urteil vom 23. Oktober 2019 (M 25 K 17.5331) wies das Bayerische Verwaltungsgericht München die Klage ab.
17
Die Klage sei zulässig, jedoch nicht begründet. Die Verpflichtungserklärungen seien formwirksam und erstreckten sich in sachlicher Hinsicht auf die hier zu erstattenden Leistungen.
18
Die damit begründete Haftung aus den Verpflichtungserklärungen habe in dem hier in Rede stehenden Leistungszeitraum (August 2016 bis Februar 2018) weiterhin angedauert. Die gesetzliche Höchstdauer von – in Übergangsfällen – drei Jahren seit Einreise sei vorliegend nicht erreicht. Die Verpflichtung sei auch nicht dadurch beendet worden, dass den Begünstigten Aufenthaltstitel zu einem anderen Aufenthaltszweck erteilt worden seien.
19
Insbesondere habe die Tatsache, dass den Eltern des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei und sie entsprechende Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 2 AufenthG erhalten hätten, die Verpflichtung des Klägers nicht beendet. Dies ergebe sich zwar nicht schon aus § 68 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, da § 68a Satz 1 AufenthG diese Vorschrift für Verpflichtungserklärungen, die vor dem 6. August 2016 (hier: 2. März 2015) abgegeben worden seien, gerade nicht für anwendbar erkläre. Jedoch sei durch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und durch die entsprechenden Aufenthaltserlaubnisse der Eltern des Klägers nach § 25 Abs. 2 AufenthG der Aufenthaltszweck nicht geändert worden und es habe ihnen kein „anderer Aufenthaltszweck“ zugrunde gelegen als den durch die Verpflichtungserklärungen ermöglichten Aufenthaltserlaubnissen nach § 23 Abs. 1 AufenthG. Beide Aufenthaltserlaubnisse seien aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Sinne des Kapitels 2, Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes erteilt worden. Im Rahmen der Verpflichtungserklärungen sei für die Zuordnung eines Sachverhalts zu einem „Aufenthaltszweck“ im Ansatz von den verschiedenen Abschnitten des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes auszugehen. Der Begriff des „Aufenthaltszwecks“ im Sinne der Verpflichtungserklärungen erfasse daher grundsätzlich jeden Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen, wie sie – unter dieser Überschrift – vom Gesetzgeber im Abschnitt 5 von Kapitel 2 des Aufenthaltsgesetzes zusammengefasst seien. Die Unterschiede der einzelnen in diesem Abschnitt zusammengefassten Aufenthaltserlaubnisse bei den Gewährungsvoraussetzungen und den Rechtsfolgen veränderten bei den hier zu beurteilenden Verpflichtungserklärungen qualitativ nicht den gemeinsamen, übergreifenden Aufenthaltszweck.
20
Die Heranziehung des Verpflichtungsgebers zur Erstattung der erbrachten Sozialleistungen stehe schließlich im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Trotz mehrfacher Anforderung durch die Beklagte habe der Kläger keine aktuellen Einkommensnachweise vorgelegt. Die Beklagte habe daher ihre Leistungsbescheide richtigerweise auf der Basis eines durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommens von 1.957,28 Euro erlassen. Im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts habe die Beklagte den Kläger nur im zumutbaren Rahmen zur Erstattung herangezogen und sich hierbei durch die Pfändungsfreigrenzen leiten lassen. Ein darüber hinaus gehender Ausnahmefall, der weitere Ermessenserwägungen erfordert oder eine weitere Reduzierung der Erstattungsansprüche gerechtfertigt hätte, habe nicht vorgelegen. Insbesondere führe die Tatsache, dass die Eltern des Klägers syrische Bürgerkriegsflüchtlinge seien, nicht zu einem Ausschluss der Erstattungsansprüche. Der spezifischen staatlichen Mitverantwortung in Bürgerkriegssituationen sei durch die Haftungsbegrenzung in den Verpflichtungserklärungen bezüglich Leistungen bei Krankheit etc. bereits hinreichend Rechnung getragen. Dies habe gerade dazu gedient, die finanzielle Belastung der sich verpflichtenden Person auf ein zumutbares Maß zu begrenzen. Ferner habe der Kläger nur 4.153,78 Euro der insgesamt ausbezahlten 21.694,83 Euro zu tragen.
21
Zur Begründung seiner mit Beschluss des Senats vom 9. März 2021 (10 ZB 19.2398) zugelassenen Berufung ließ der Kläger im Wesentlichen vortragen: Er sei bei der Abgabe der Verpflichtungserklärungen davon ausgegangen, dass mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an seine Eltern und dem Wechsel des Aufenthaltszwecks von § 23 Abs. 1 AufenthG zu § 25 Abs. 2 AufenthG die Verpflichtung enden würde. Er beruft sich dabei auf eine Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 11. Februar 2019 (13 LB 435/18). Dieses habe ausgeführt, bei der gebotenen objektiven Würdigung des Aussagegehalts der Erklärung unter Berücksichtigung aller erkennbaren Begleitumstände sei aus der insoweit maßgeblichen Sicht der die Erklärung entgegennehmenden Ausländerbehörde die zum damaligen Zeitpunkt geltende niedersächsische Erlasslage zur Geltungsdauer derartiger Verpflichtungserklärungen zu berücksichtigen. Diese Erlasslage habe den Empfängerhorizont der niedersächsischen Ausländerbehörden in maßgeblicher Weise geprägt. Die niedersächsischen Aufnahmeanordnungen 2013 und 2014 und der Ministeriumserlass vom 15. Mai 2015 belegten, dass das Niedersächsische Innenministerium bereits zum hier entscheidenden Zeitpunkt der Abgabe der Verpflichtungserklärung davon ausgegangen sei, dass bei Ausländern, die auf Grundlage einer Aufnahmeanordnung einen Aufenthaltstitel nach § 23 Abs. 1 AufenthG (oder ein vorausgehendes Visum) erhalten hatten, im Falle einer nachträglichen Asylantragstellung eine zur Erfüllung der Voraussetzungen der Aufnahmeanordnung zuvor formularmäßig ohne besondere Zusätze abgegebene Verpflichtungserklärung nur den Zeitraum bis zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft (und der Erteilung einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG) umfasste und auch nur umfassen sollte. Diese Rechtsansicht des niedersächsischen Innenministeriums sei auch in Kenntnis um die Existenz abweichender Rechtsauffassungen aufrechterhalten und fachaufsichtlich bekräftig worden.
22
Der Kläger beantragte zuletzt,
23
unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 23. Oktober 2019 die Bescheide der Beklagten vom 19. Oktober 2017 und 2. März 2018 aufzuheben.
24
Die Beklagte beantragt,
25
die Berufung zurückzuweisen.
26
Sie ist der Meinung, der Umfang der Verpflichtungserklärung ergebe sich aus deren klarem Wortlaut und aus dem eingefügten Wortlaut „endet frühestens mit der Beendigung des Aufenthalts“. Damit sei eine individuelle Vereinbarung in das Standardformular eingefügt worden. Daher sei es irrelevant, welche Rechtsmeinung das Land Niedersachsen bzw. das entsprechende Landesministerium vertreten habe.
27
Die Landesanwaltschaft Bayern hat sich als Vertreter des öffentlichen Interesses am Verfahren beteiligt, jedoch keinen Antrag gestellt.
28
Der Senat hat am 23. Januar 2023 mündlich verhandelt.
29
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen und der Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
30
I. Die Berufung ist zulässig. Soweit die Beklagte im Lauf des Verfahrens geltend gemacht hat, die Berufung sei mangels einer ordnungsgemäßen Berufungsbegründung zu verwerfen, geht der Senat davon aus, dass die Berufungsbegründung noch den formellen Anforderungen des § 124a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 4 VwGO entspricht. Eine Bezugnahme auf die Begründung des Zulassungsantrags in dem Berufungsbegründungsschriftsatz – wie hier – ist zulässig und ausreichend, wenn diese ihrerseits den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung genügt, wenn sich also daraus die „Gründe der Anfechtung“ im Einzelnen ergeben (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 99; Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.7.2022, § 124a Rn. 99 m. Nachw. d. Rspr.). Im vorliegenden Fall kommt durch die Bezugnahme in der Berufungsbegründung auf den Zulassungsantrag hinreichend zum Ausdruck, dass der Kläger geltend macht, er habe bei der Abgabe der Verpflichtungserklärungen davon ausgehen können, dass diese mit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG an seine Eltern „unwirksam werden“, also die Verpflichtung – anders als das erstinstanzliche Urteil angenommen hat – enden würde.
31
II. Die Berufung ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten vom 19. Oktober 2017 und vom 2. März 2018 rechtmäßig sind und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
32
1. Die Rechtmäßigkeit eines Leistungsbescheids betreffend die Inanspruchnahme aus einer Verpflichtungserklärung bestimmt sich nach der im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage, soweit nicht späteren Änderungen der Rechtslage zulässigerweise Rückwirkung auf den maßgeblichen Zeitpunkt zukommt (BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 1 C 10.16 – BVerwGE 157, 2018 = juris Rn. 17; BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 1 C 4.13 – BVerwGE 149, 65 = juris Rn. 9; BVerwG, U.v. 16.10.2012 – 10 C 6.12 – BVerwGE 144,326 = juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 26.8.2020 – 10 ZB 20.1516 – juris Rn. 7).
33
Nach § 68 Abs. 1 AufenthG (in der seit dem 6.8.2016 gültigen Fassung) hat derjenige, der sich der Ausländerbehörde oder einer Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen, für einen Zeitraum von fünf Jahren sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum sowie der Versorgung im Krankheitsfalle und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen. Aufwendungen, die auf einer Beitragsleistung beruhen, sind nicht zu erstatten. Der Zeitraum nach Satz 1 beginnt mit der durch die Verpflichtungserklärung ermöglichten Einreise des Ausländers. Die Verpflichtungserklärung erlischt vor Ablauf des Zeitraums von fünf Jahren ab Einreise des Ausländers nicht durch Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Abschnitt 5 des Kapitels 2 oder durch Anerkennung nach § 3 oder § 4 des Asylgesetzes.
34
Gemäß § 68a Satz 1 AufenthG gilt § 68 Absatz 1 Satz 1 bis 3 auch für vor dem 6. August 2016 abgegebene Verpflichtungserklärungen, jedoch mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Zeitraums von fünf Jahren ein Zeitraum von drei Jahren tritt.
35
2. Hinsichtlich der Formwirksamkeit der beiden vom Kläger am 2. März 2015 gegenüber der Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Hannover abgegebenen Verpflichtungserklärungen sowie hinsichtlich der formellen Rechtmäßigkeit der beiden streitgegenständlichen Leistungsbescheide vom 19. Oktober 2017 und vom 2. März 2018 sind Bedenken weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
36
3. Die vom Kläger abgegebenen Verpflichtungserklärungen erstrecken sich auf die mit den Leistungsbescheiden geltend gemachten Aufwendungen der Beklagten. Die Erstattungspflicht endete nicht mit der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 2 AufenthG an die Eltern des Klägers am 15. März 2016.
37
Dies ergibt sich allerdings nicht bereits aus der Vorschrift des § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Denn diese wurde erst mit Wirkung zum 6. August 2016 durch das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I 1939) eingeführt, wird von der Rückwirkung des § 68a Satz 1 AufenthG nicht erfasst und ist deshalb auf vor dem 6. August 2016 abgegebene Verpflichtungserklärungen nicht anwendbar (so ausdrücklich BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 1 C 10.16 – BVerwGE 157, 2018 = juris Rn. 22).
38
Dieser Haftungsumfang lässt sich jedoch zur Überzeugung des Senats aufgrund einer Auslegung der hier gegenständlichen Verpflichtungserklärungen feststellen.
39
a) Die Verpflichtungserklärung zur Begründung eines entsprechenden Kostenerstattungsanspruches der Ausländerbehörde ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung; ihr Inhalt und ihre Reichweite, insbesondere für welchen Aufenthaltszweck und für welche Dauer sie gelten soll, sind durch Auslegung in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB anhand der objektiv erkennbaren Umstände zum Zeitpunkt der Unterzeichnung zu ermitteln. Maßgebend ist grundsätzlich der erklärte Wille, wie ihn der Empfänger der Erklärung bei objektiver Würdigung verstehen musste. Dieser Auslegungshorizont ändert sich ausnahmsweise dann, wenn die Verpflichtungserklärung durch Unterzeichnung eines von der Ausländerbehörde verwendeten Vordrucks mit vorformulierten Erklärungen und Erläuterungen und gegebenenfalls maßgeblich von der Ausländerbehörde vorgenommenen Änderungen oder Ergänzungen erteilt wird. In diesem Fall ist darauf abzustellen, wie der Erklärende die Erklärung bei objektiver Würdigung verstehen durfte. Verbleiben insoweit Unklarheiten, gehen diese zu Lasten der den Vordruck verwendenden Ausländerbehörde (BVerwG, U.v. 24.11.1998 – 1 C 33.97 – BVerwGE, 108, 1 = juris Rn. 34; BayVGH, B.v. 26.8.2020 – 10 ZB 20.1516 – juris Rn. 9; NdsOVG, U.v. 9.2.2022 – 13 LB 3225/21 – juris Rn. 32 ff.).
40
b) In Anwendung dieser Grundsätze hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Grundsatzentscheidung vom 26. Januar 2017 (1 C 10.16 – BVerwGE 157, 2018 = juris; zur Aufnahmeanordnung NRW) entschieden, dass die zur Ermöglichung einer Einreise als Bürgerkriegsflüchtling nach § 23 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit einer Landesaufnahmeanordnung abgegebene Verpflichtungserklärung nicht durch die nachfolgende Anerkennung des Begünstigten als Flüchtling und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erlischt, denn beide Aufenthaltserlaubnisse sind solche aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Sinne des Kapitels 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes; ihnen liegt derselbe Aufenthaltszweck zugrunde (a.a.O. juris Rn.27). Es hat damit eine sich aus dem Wortlaut der bundeseinheitlichen vorgedruckten Formulare ergebende zuvor „unklare Rechtslage“ (BayVGH, B.v. 26.8.2020 – 10 ZB 20.1516 – juris Rn. 9) geklärt.
41
c) Im vorliegenden Fall ist ferner maßgeblich zu berücksichtigen, dass die vom Kläger abgegebenen Verpflichtungserklärungen neben dem ständigen vorgedruckten Text bei der Rubrik „Dauer der Verpflichtung“ noch die weitere (individuelle) Eintragung „endet frühestens mit Beendigung des Aufenthalts“ enthalten. Diese Eintragung ist ersichtlich vorgenommen worden, um die Geltungsdauer der eingegangenen Verpflichtung im Hinblick auf die standardmäßig vorgedruckte Formulierung „… bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck“ zu konkretisieren und zu ergänzen. Daher musste es auch aus Sicht des Klägers eindeutig zu erkennen sein, dass die von ihm eingegangene Verpflichtung nicht bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 2 AufenthG an seine Eltern enden würde. Insoweit bestand auch keine von der Ausländerbehörde zu vertretende Unklarheit; vielmehr diente der erwähnte Zusatz „endet frühestens mit Beendigung des Aufenthalts“ gerade dazu, eventuellen Unklarheiten vorzubeugen.
42
d) Daher kann sich der Kläger auch nicht mit Erfolg auf die von ihm herangezogene Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts berufen (vgl. NdsOVG, U.v. 11.2.2019 – 13 LB 435/18 – juris). Denn in den dort entschiedenen Sachverhalten fehlte es an der im vorliegenden Fall vorgenommenen zusätzlichen Eintragung „endet frühestens mit Beendigung des Aufenthalts“. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat bei seiner Beurteilung des Endes der eingegangenen Verpflichtung auf die damalige niedersächsische „Erlasslage“ abgestellt, die den Empfängerhorizont der niedersächsischen Ausländerbehörden in maßgeblicher Weise geprägt habe (NdsOVG, U.v. 11.2.2019 – 13 LB 435/18 – juris Rn 31). Unabhängig von der Frage, dass in den dort entschiedenen Fällen die niedersächsische „Erlasslage“ bzw. die von dieser geprägte Haftungsbeschränkung in den schriftlichen Verpflichtungserklärungen keinen hinreichenden Ausdruck gefunden haben (siehe dazu BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 1 C 10.16 – BVerwGE 157, 2018 = juris Rn. 31; BayVGH, B.v. 26.8.2020 – 10 ZB 20.1516 – juris Rn. 9), ist im vorliegenden Fall im Gegensatz hierzu durch die zusätzliche Eintragung „endet frühestens mit Beendigung des Aufenthalts“ gerade klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht worden, dass die Haftung aus der Verpflichtungserklärung nicht mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 2 AufenthG enden, sondern darüber hinaus fortdauern sollte. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat im Übrigen selbst darauf abgestellt, dass sich seine Auslegung auf formularmäßig „ohne besondere Zusätze“ abgegebene Verpflichtungserklärungen bezieht (NdsOVG, U.v. 11.2.2019 – 13 LB 435/18 – juris Rn. 38).
43
4. Die Heranziehung des Klägers in der konkret geltend gemachten Höhe widerspricht nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
44
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der aus einer Erklärung nach § 68 AufenthG Verpflichtete im Regelfall zur Erstattung heranzuziehen. Wenn die Voraussetzungen der Aufenthaltsgenehmigung einschließlich der finanziellen Belastbarkeit des Verpflichteten im Verwaltungsverfahren geprüft worden sind und nichts dafür spricht, dass die Heranziehung zu einer unzumutbaren Belastung führen könnte, ist der Anspruch geltend zu machen. Einen Anhaltspunkt für die Beurteilung der Zumutbarkeit kann die Pfändungsfreigrenze bieten, die bei Berücksichtigung der monatlichen Erstattungspflichten unter Einbeziehung aller vom Garantiegeber abgegebenen Verpflichtungserklärungen regelmäßig gewahrt sein muss (BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 1 C 10.16 – BVerwGE 157, 2018 = juris Rn. 35).
45
Demgemäß ist der Verpflichtete im Regelfall zur Erstattung heranzuziehen, ohne dass es dahin gehender Ermessenserwägungen bedürfte. Ein Regelfall wird vorliegen, wenn die Voraussetzungen der Aufenthaltsgenehmigung einschließlich der finanziellen Belastbarkeit des Verpflichteten im Verwaltungsverfahren voll und individuell geprüft worden sind und nichts dafür spricht, dass die Heranziehung zu einer unzumutbaren Belastung des Verpflichteten führen könnte. Hingegen hat die erstattungsberechtigte Stelle bei atypischen Gegebenheiten im Wege des Ermessens zu entscheiden, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird und welche Zahlungserleichterungen dem Verpflichteten etwa eingeräumt werden. Wann in diesem Sinne ein Ausnahmefall vorliegt, ist anhand einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden und unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung. Es ist unter Würdigung vornehmlich der Umstände, unter denen die jeweilige Verpflichtungserklärung abgegeben worden ist, zu klären, ob die Heranziehung zur vollen Erstattung der Aufwendungen gemäß § 84 Abs. 1 AuslG namentlich im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist oder ob es weiterer Erwägungen bedarf, um zu einem angemessenen Interessenausgleich zu gelangen (BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 1 C 4.13 – BVerwGE 149, 65 = juris Rn. 16; BVerwG, U.v. 24.11.1998 – 1 C 33.97 – BVerwGE 108, 1 = juris Rn. 59 f.).
46
In den hier streitgegenständlichen Bescheiden hat die Beklagte bei der Festlegung der Erstattungsbeträge im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum einen die finanzielle Leistungsfähigkeit des Klägers anhand der vorliegenden Unterlagen zu seiner Einkommenssituation und zum anderen die Pfändungsfreigrenzen als Maßstab berücksichtigt. Der Kläger hat gegen den Berechnungsmodus nichts vorgebracht, weshalb insoweit auf das Urteil des Verwaltungsgerichts verwiesen wird.
47
Weitere Gesichtspunkte, die einen atypischen Fall und damit die Notwendigkeit weiterer Ermessenserwägungen zur Folge haben könnten, sind nicht ersichtlich. Soweit der Kläger im Verfahren unsubstantiiert behauptet hat, die Ausländerbehörde Hannover habe bei der Entgegennahme der Verpflichtungserklärungen die Leistungsfähigkeit nicht ausreichend geprüft, trifft dies nicht zu; der Kläger hatte Einkommensnachweise über mehrere Monate vorgelegt. Falls er sich darauf berufen wollte, er habe sich dennoch insoweit finanziell „übernommen“, wäre dem durch die Begrenzung der Inanspruchnahme (nur) im Rahmen seiner sich aus seiner (damaligen) Einkommenssituation ergebenden Leistungsfähigkeit bereits Rechnung getragen.
48
Der „spezifischen staatlichen Mitverantwortung in Bürgerkriegssituationen“ ist durch die Haftungsbegrenzung in den Verpflichtungserklärungen bereits hinreichend Rechnung getragen. Der Staat hat dabei von vornherein einen nicht unerheblichen Teil der finanziellen Lasten selbst übernommen, indem er bestimmte Kostengruppen, nämlich die Kosten für Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft, Geburt, Pflegebedürftigkeit und Behinderung, von den abzugebenden Verpflichtungserklärungen ausgenommen hat. Dies diente gerade dazu, die finanzielle Belastung der sich verpflichtenden Person auf ein zumutbares Maß zu begrenzen. Damit ist zugleich etwaigen unionsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf Art. 29 RL 2011/95/EU Rechnung getragen (BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 1 C 10.16 – BVerwGE 157, 208 = juris Rn. 38).
49
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
50
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
51
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.