Titel:
Erfolglose Klage der Standortgemeinde gegen Neubau eines Discounters - Befreiung von Stellplatzpflicht
Normenketten:
BayBO Art. 47 Abs. 2, Art. 67, Art. 81 Abs. 1 Nr. 4
GaStellV § 20 S. 1
Leitsätze:
1. Bei der örtlichen Regelung des Stellplatzbedarfs ist die Gemeinde nicht an die früheren Richtzahlen für den Stellplatzbedarf oder an die in der auf der Grundlage der aktuell gültigen Vorschrift des Art. 47 Abs. 2 S. 1 BayBO vom Innenministerium erlassenen Anlage zur GaStellV gebunden. Die Zahl kann höher oder niedriger sein. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Gemeinde darf nicht mehr Stellplätze fordern, als bei objektiver Betrachtungsweise für das Vorhaben erforderlich sein können. Die von ihr genannte Stellplatzanzahl muss zumindest vertretbar sein. Dabei ist es erforderlich, dass die Gemeinde die von ihr herangezogenen Parameter benennen kann und diese konsequent umsetzt. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baugenehmigung für einen Discounter, Klage einer Gemeinde gegen Ersetzung ihres Einvernehmens, Befreiung von Stellplatzpflicht aufgrund Ortsrechts, Unwirksame Festlegung des Stellplatzbedarfs aufgrund örtlicher Bauvorschrift
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26998
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich gegen die Ersetzung ihres gemeindlichen Einvernehmens bezüglich des Stellplatznachweises im Rahmen einer Baugenehmigung für den Discounter der Beigeladenen.
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Die Beigeladene beantragte unter dem 30. Januar 2017 die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau eines Discounters auf dem Grundstück FlNr. …/1 Gem. … (Vorhabengrundstück) im Gemeindegebiet der Klägerin. Mit dem Vorhaben soll die bestehende Filiale abgerissen und ein Gebäude mit 1200 m² Verkaufsfläche, 353 m² Lager- und ca. 200 m² Büro- und Nebenraumflächen entstehen. Der Stellplatznachweis sieht vor, dass 101 Pkw-Stellplätze von zu schaffenden 122 Stellplätzen auf dem Baugrundstück errichtet werden. Mit dem Bauantrag stellte die Klägerin ein Antrag auf isolierte Abweichung von der Stellplatzsatzung hinsichtlich der vorgeschriebenen Pkw-Stellplätze und Fahrradstellplätze. Die Antragsunterlagen gingen am 9. Mai 2017 bei der Klägerin ein.
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Im Gemeindegebiet der Klägerin galt zunächst die Satzung über die Herstellung und Ablösung von Stellplätzen vom 23. Juli 2004. In Verbindung mit Ziffer 3.3 ihrer Anlage ist für Verbrauchermärkte und Einkaufszentren ein Stellplatzbedarf von einem PKW-Stellplatz je 10 m² Verkaufsnutzfläche vorgesehen. Ist die Lagerfläche größer als 10% der Verkaufsnutzfläche, so ist für die Mehrfläche ein Zuschlag nach Ziff. 8.3 zu berechnen. § 5 Abs. 2 der Satzung bestimmt, dass eine Ablöse der Stellplatzpflicht ausschließlich bei nachträglichen Aus- und Umbauten von bestehender Bausubstanz möglich ist. § 6 sieht die Möglichkeit der Erteilung einer Abweichung vor.
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Der Gemeinderat der Klägerin beschloss am 29. Oktober 2018 den Erlass einer neuen Stellplatz-, Garagen- und Fahrradabstellsatzung, mit deren Inkrafttreten die alte Stellplatzsatzung und eine Fahrradabstellsatzung aus dem Jahr 2005 außer Kraft traten. Diese Satzung sieht ein Wahlrecht des Bauherrn vor, ob für laufende Baugenehmigungsverfahren die alte oder die neue Stellplatz-/Fahrradabstellsatzung gelten soll. Für Verbrauchermärkte ist pro 10 m² Verkaufsnutzfläche ein Stellplatzbedarf von einem Pkw-Stellplatz vorgesehen (Ziff. 3.3 der Anlage zur Satzung) sowie ein Zuschlag für Lagerflächen.
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Mit Beschluss vom 19. Juni 2017, beim Beklagten am 26. Juli 2017 eingegangen, entschied der zuständige Ausschuss der Klägerin, dem Vorhaben und der beantragten Abweichung das Einvernehmen nicht zu erteilen. Es wurde auf die fehlende bauplanungsrechtliche Genehmigungsfähigkeit und auf die Nichterfüllung der Stellplatzpflicht hingewiesen.
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Im anschließenden Schriftverkehr räumten die Beteiligten die bestehenden Zweifel an der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens aus.
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Mit Schreiben vom 3. Mai 2018 (S. 56ff. BA) verwies die Beigeladene darauf, dass die fehlenden Stellplätze in der Praxis nicht benötigt würden. Zu keinem Zeitpunkt werde eine fehlende Anzahl an Stellplätzen festgestellt, seitens der Kunden seien niemals Beschwerden eingegangen. Selbst in extremen Hochfrequenzphasen sei jederzeit eine ausreichende Anzahl an Parkplätzen gewährleistet. Die gelegentlich unberechtigt abgestellten Fahrzeuge der Grundstücksnachbarn änderten hieran nichts. Der Bau eines Parkdecks würde zu unnötigen Mehrkosten von mindestens 500.000 EUR führen. Unter dem 24. September 2018 (S. 63 f. BA) legte die Beigeladene eine Auswertung der Stellplatznutzung vor und verwies darauf, dass die tatsächliche maximale Belegung bei 75 Fahrzeugen liege. Dieser Wert liege deutlich unter der geplanten Anzahl von 101 Stellplätzen. Auch nach Erweiterung der Verkaufsfläche bestünden daher hinreichende Parkmöglichkeiten.
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Unter dem 11. September 2018 äußerte die Klägerin gegenüber dem Landratsamt, dass eine Ablöse für die fehlenden Stellplätze nach den Vorgaben der Stellplatzsatzung 2004 nicht möglich sei. Es komme nur eine Befreiung von der Herstellungspflicht in Betracht, jedoch sei das dafür erforderliche Missverhältnis zwischen der Ermittlung und dem tatsächlichen Bedarf nicht erkennbar sei.
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Das Landratsamt wies die Klägerin mit Schreiben vom 2. Oktober 2018 auf rechtliche Bedenken hin und führte u.a. aus, dass diese bei der Verweigerung ihres Einvernehmens ihr Ermessen bei der Entscheidung über den Befreiungsantrag nicht ordnungsgemäß ausgeübt habe.
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Mit Beschluss vom 5. November 2018 erteilte der Ausschuss der Klägerin dem Vorhaben das gemeindliche Einvernehmen unter Erteilung einer Abweichung von der gemeindlichen Stellplatzsatzung in Form einer Ablöse für 21 Stellplätze.
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Die Beigeladene bat das Landratsamt auf Nachfrage darum, dass die Stellplatzberechnung nach der Satzung vom 23. Juli 2004 durchgeführt werden möge. Eine Stellplatzablöse in Höhe von 262.500 EUR sei zu hoch angesiedelt.
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Mit Bescheid vom 26. September 2019, der Klägerin am 10. Oktober 2019 zugegangen, erteilte der Beklagte der Beigeladenen die Baugenehmigung (Nr. 1). Es wurde die Herstellung von 101 Pkw-Stellplätzen beauflagt (Beiblatt, Nr. 050). Es wurde eine Abweichung von § 3 der Stellplatz- und Garagensatzung vom 23. Juli 2004 erteilt (Nrn. 080.1) und insoweit das gemeindliche Einvernehmen ersetzt (Nr. 2). Das Ermessen sei bei Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen intendiert. Das Ziel der Stellplatzregelung, nämlich die Freihaltung von öffentlichen Verkehrsflächen durch Zuordnung des Verkehrs zu der ihn verursachenden Anlage, könne durch den verminderten Stellplatznachweis erreicht werden. Die Klägerin gehe derzeit von einer hinreichenden Anzahl der Stellplätze aus und habe die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Abweichung zunächst bejaht. Die Beigeladene habe nachvollziehbar dargelegt, dass es mit dem Vorhaben zu keiner Erweiterung des Warenangebots und daher nicht zu einem Kundenanstieg führe. Es bestehe eine atypische Grundstückssituation, weil Synergieeffekte mit den umliegenden Märkten und eine gemeinsame Parkplatznutzung zu erwarten seien; zudem liege eine gute Busanbindung vor. Die Ermessensbetätigung der Klägerin sei fehlerhaft. Bei Erteilung der Abweichung sei argumentiert worden, dass der Bedarf an Stellplätzen geringer sei, als es der Stellplatzschlüssel vorsehe. Nicht ersichtlich sei, warum dies nicht auch für die Erteilung einer Befreiung von der Herstellungspflicht gelte. Es sei auch nicht berücksichtigt worden, ob der Bedarf an Stellplätzen nach dem Schlüssel tatsächlich gegeben sei. Die Grundstückssituation spreche dagegen, ebenso der Umstand eines Stellplatzschlüssels von 1 Stellplatz pro 17,5 m² beim nahegelegenen Fachmarktzentrum. Untersuchungen der Beigeladenen zeigten die Belegung von maximal 75 Parkplätzen. Für die hier erhebliche Überschreitung des von der GaStellV vorgesehenen Schlüssels fehle die erforderliche Begründung. Jedenfalls bei der Ermessensbetätigung hätte es hierzu Ausführungen bedurft.
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Die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, hat am 11. November 2019, einem Montag, Klage erhoben und beantragt,
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Der Bescheid des Beklagten vom 26. September 2019 wird aufgehoben.
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Die Klägerin sei durch die rechtswidrige Ersetzung des Einvernehmens in ihren Rechten verletzt. Die Genehmigung sei unter Gewährung einer Abweichung von einer örtlichen Bauvorschrift zugelassen worden, zu der die Klägerin ihr Einvernehmen zu Recht nicht erteilt habe. An der Wirksamkeit der maßgeblichen Satzungsbestimmungen bestehe kein Zweifel, auch das Landratsamt habe im Bescheid den Stellplatzschlüssel nicht grundsätzlich infrage gestellt. Der Gemeinde stehe ein echter Ermessensspielraum zu, und sie habe eine Interessenabwägung vorzunehmen. Das Ermessen sei nicht auf Null reduziert. Die Normziele würden mit Erteilung der Befreiung verfehlt. Eine Atypik sei nicht gegeben. Der Stellplatzschlüssel sei ein abstrakter Bedarf, der generalisierend einem bestimmten Anlagentyp zugeordnet werde. Daher verfange der Vortrag der Beigeladenen nicht, subjektiv-individuell einen geringeren Stellplatzbedarf zu haben. Das Bauvorhaben unterscheide sich in Angebot, Lage und Anbindung in Form einer Buslinie nicht wesentlich von sonstigen Vorhaben der Beigeladenen. Außerdem solle mit dem Neubau und der deutlichen Erweiterung der Verkaufsfläche um fast 50% die Attraktivität des Marktes gesteigert werden; Ziel sei dabei auch ein Kundenzuwachs. Für ein Fachmarktzentrum möge ein anderer Stellplatzschlüssel zugrunde gelegt werden, weil es Wesen eines Gesamtvorhabens sei, dass Gemeinschaftsflächen wie Parkplätze gemeinsam genutzt würden. Daraus könne jedoch nicht der Rückschluss gezogen werden, dass dies auch für einen Einzelhandelsbetrieb gelte, bei dem Kunden faktisch die Parkplätze benachbarter Grundstücke nutzen könnten. Dies stelle das System des vorhabenbezogenen Stellplatznachweises auf den Kopf.
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Der Beklagte beantragt
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Die gemeindliche Stellplatzsatzung sei teilweise rechtswidrig. Ohnehin sei das Ermessen für die Erteilung der beantragten Abweichung auf Null reduziert. Die in der Anlage zur Satzung 2004 verwendeten Begriffe des Verbrauchermarkts und des Warenhauses seien nicht hinreichend bestimmt. Der festgelegte Stellplatzschlüssel sei nicht von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt, weil es an einer nachvollziehbaren Begründung anhand der örtlichen Besonderheiten fehle. Eine vorzunehmende Beurteilung anhand der jeweiligen besonderen Verkehrssituation im Gemeindegebiet sei von der Klägerin auch auf Nachfrage nicht erfolgt. Auch sei der festgelegte Stellplatzschlüssel möglicherweise nicht verhältnismäßig; insoweit wirke der Begründungsmangel fort. Eine besondere Rechtfertigung des Stellplatzschlüssels sei geboten, weil die Satzungsregelung einen im Vergleich zur GaStellV vierfach erhöhten Bedarf auslöse. Dabei wäre auch die im Gemeindegebiet teilweise vorhandene gute Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr einzustellen gewesen. Auch die angrenzenden Gemeinden hätten einen deutlich geringeren Stellplatzschlüssel. Damit berechne sich der Stellplatzbedarf nach der Garagen- und Stellplatzverordnung; die hiernach erforderlichen 30 Stellplätze könne die Beigeladene nachweisen. Im Übrigen sei bei Anwendung der Satzung die Ersetzung des Einvernehmens rechtmäßig gewesen, weil das Einvernehmen auf Null reduziert gewesen sei.
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Die Beigeladene beantragt
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Über die Klageerwiderungsbegründung des Beklagten hinaus wurde ausgeführt, dass eine sachliche Rechtfertigung für einen gegenüber den Vorgaben der Garagen- und Stellplatzverordnung vierfachen Bedarf wohl nicht bestehe, weil die Klägerin in der Satzung bei zahlreichen anderen Nutzungen den Schlüssel der GaStellV übernommen habe. In Bebauungsplänen für großflächigen Einzelhandel weiche sie wiederum von ihrem Schlüssel ab. Tatsächlich werde durch die Erweiterung des Marktes kein neuer Stellplatzbedarf erzeugt. Die Beigeladene biete bundesweit unabhängig von der Verkaufsfläche in im Wesentlichen identisches Sortiment an. Die Erweiterung ermögliche primär eine Verbesserung der Betriebsabläufe und diene der Warenpräsentation. Dadurch werde durch die Bestandskunden ein zusätzlicher Umsatz generiert
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Die Kammer hat am 9. Mai 2023 mündlich zur Sache verhandelt.
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Für den Vortrag im Übrigen und die weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
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Der angefochtene Bescheid ist nicht aufzuheben, weil er die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Klagegegenstand ist die von der Bauaufsichtsbehörde erteilte Baugenehmigung mit der Auflage zur Herstellung von 101 Stellplätzen einschließlich der Erteilung einer Befreiung für eine darüber hinaus gehende Stellplatzpflicht. Die Baugenehmigung bildet mit der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens bezüglich der Befreiung eine untrennbare Einheit. Das bedeutet, dass die Gemeinde, deren Einvernehmen ersetzt worden ist, nicht die Ersetzung als solches, sondern die Genehmigung anfechten muss (vgl. Dirnberger in Busse/Kraus, BayBO, Stand: Febr. 2021, Art. 67 Rn. 134).
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Die Klägerin beschränkt ihre Einwendungen auf die mit der Baugenehmigung ausgesprochene Abweichung von den Vorgaben der gemeindlichen Stellplatz- und Fahrradsatzung, namentlich auf die Frage, ob die Befreiung von der Pflicht zur Schaffung von mehr als den beauflagten 101 Pkw-Stellplätzen unter Ersetzung ihres Einvernehmens rechtmäßig erteilt wurde.
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Die Befreiung und damit die Ersetzung des Einvernehmens erfolgten zwar rechtswidrig (I.). Die Klägerin kann hieraus jedoch keine Rechtsverletzung für sich ableiten, weil für das Vorhaben ein hinreichender Stellplatznachweis geführt wurde (II.).
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I. Das Einvernehmen der Klägerin durfte nicht ersetzt werden, weil die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung von der Stellplatzpflicht zu Unrecht erfolgte. Die örtlichen Bauvorschriften zum Stellplatzbedarf sind unwirksam, und die tenorierte Befreiung von der Stellplatzpflicht war daher nicht statthaft.
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1. Das Einvernehmen der Klägerin wurde zu Unrecht ersetzt, weil der Beklagte eine Befreiung von Satzungsvorschriften aussprach, die unwirksam sind.
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Die Beigeladene hat das ihr nach § 9 Abs. 2 der Stellplatz-, Garagen- und Fahrradabstellsatzung vom 29. Oktober 2018 (im Folgenden: Satzung 2018) eingeräumte Wahlrecht zwischen den Satzungsfassungen dahingehend ausgeübt, den Stellplatznachweis nach der Stellplatz- und Fahrradsatzung vom 23. Juli 2004 (im Folgenden: Satzung 2004) zu führen. Da die Beigeladene ihr nach Art. 63 Abs. 3 Satz 2 BayBO erforderliches Einvernehmen insoweit verweigerte, als sie lediglich einer Ablöse der fehlenden Stellplätze zustimmte, nicht aber einer Befreiung von der Herstellung, kann das fehlende Einvernehmen nach der Maßgabe von Art. 67 BayBO grundsätzlich ersetzt werden. Die Bestimmungen zum Stellplatzbedarf des Vorhabens der Satzung 2004 sind jedoch unwirksam. Es kann auch nicht auf die Vorgaben der Satzung 2018 zurückgegriffen werden, weil diese ebenfalls unwirksam sind.
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a) Nach § 3 Abs. 1 der Satzung 2004 i.V.m. der Anlage 1, Ziffer 3.3 ist bei einem Verbrauchermarkt ein Pkw-Stellplatz je 10 m² Verkaufsnutzfläche zu schaffen, d.h. bei einer hier gegebenen Verkaufsfläche von 1.200 m² demnach 120 Stellplätze. Ferner ist die Lagerfläche insoweit zu berücksichtigen, als sie größer als 10% der Verkaufsfläche ist; für die Mehrfläche ist ein Stellplatz je angefangener 100 m² Nutzfläche zu schaffen (Anmerkung 2 und Ziff. 8.3 der Satzung 2004). Bei einer Lagerfläche von 353 m² summiert sich die zu berücksichtigende Mehrfläche auf 233 m² (353 m² ./. 120 m²) und erfordert somit weitere drei Stellplätze. Dabei stellt die Regelung nicht auf volle 100 m²- Flächen ab, sondern auf „angefangene 100 m² Nutzfläche“. Es besteht nach den Vorgaben der Satzung 2004 ein Stellplatzbedarf von 123 Pkw-Stellplätzen, von denen 101 Stellplätze im angefochtenen Bescheid beauflagt sind und im Übrigen auf dem Baugrundstück geschaffen werden können.
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Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 der Satzung 2018 i.V.m. der Anlage 1. Ziffer 3.3 besteht bei Verbrauchermärkten und Einkaufszentren mit mehr als 800 m² Verkaufsnutzfläche ein Bedarf vom einem Stellplatz je 10 m² Verkaufsnutzfläche. Die Lagerfläche von 353 m² erfordert weitere zwei Stellplätze, vgl. Anmerkung 4 der Anlage 1 i.V.m Ziffer 5.2.4., d.h., es wären hiernach 122 Stellplätze zu schaffen.
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b) Die Satzungen 2004 und 2018 genügen den Anforderungen ihrer Rechtsgrundlage jedoch nicht. Jedenfalls die hier maßgeblichen Bestimmungen sind unwirksam und daher nicht anzuwenden.
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aa) Rechtsgrundlage für die Satzung 2004 ist Art. 91 Abs. 1 Nr. 3 BayBO in der Fassung vom 4. August 1997, wonach die Gemeinden durch Satzung örtliche Bauvorschriften über die Anzahl der erforderlichen Stellplätze für Kraftfahrzeuge erlassen können. Die Satzung 2018 stützt sich auf Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 BayBO mit der entsprechenden Ermächtigung für eine Stellplatzsatzung. Hinzu tritt die Regelung in Art. 52 Abs. 4 BayBO 1997, wonach bei Errichtung baulicher Anlagen mit Zu- und Abfahrtsverkehr Stellplätze in ausreichender Zahl und Größe herzustellen sind; die Anzahl richtet sich nach Art und Zahl der vorhandenen und zu erwartenden Kraftfahrtzeuge der zu erwartenden Benutzer und Besucher. In Art. 47 Abs. 2 BayBO ist ergänzend geregelt, dass die Zahl der notwendigen Stellplätze durch Rechtsverordnung des Ministeriums festgelegt wird. Wenn jedoch die Zahl der notwendigen Stellplätze durch eine örtliche Bauvorschrift festgelegt wird, ist diese Zahl maßgeblich.
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bb) Bei der örtlichen Regelung des Stellplatzbedarfs ist die Gemeinde nicht an die früheren Richtzahlen für den Stellplatzbedarf oder an die in der auf der Grundlage der aktuell gültigen Vorschrift des Art. 47 Abs. 2 Satz 1 BayBO vom Innenministerium erlassenen Anlage zur GaStellV gebunden. Die Zahl kann höher oder niedriger sein (Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand: Febr. 2023, Art. 81 Rn. 168), und es steht dem Satzungsgeber auch die Möglichkeit einer gewissen Pauschalierung zu (BayVGH, U.v. 16.12.1996 – 14 B 93.2981 – NVwZ 1998, 205, beck-online). Allerdings ist die Gemeinde bei der Festsetzung der nachzuweisenden Stellplätze nicht völlig frei. Örtliche Bauvorschriften müssen einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen, insbesondere der Gemeinde und des betroffenen Grundeigentümers, herstellen. Für Maßnahmen der öffentlichen Hand im Allgemeinen und für Inhalts- und Schrankenbestimmungen nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG wie die Forderung von Stellplätzen gilt das Verhältnismäßigkeitsgebot. Die Ermächtigungsnormen verlangen die Festlegung des notwendigen und ausreichenden Maßes. Die Gemeinde darf daher nicht mehr Stellplätze fordern, als bei objektiver Betrachtungsweise für das Vorhaben erforderlich sein können. Die von ihr genannte Stellplatzanzahl muss zumindest vertretbar sein. Dabei ist es erforderlich, dass die Gemeinde die von ihr herangezogenen Parameter benennen kann und diese konsequent umsetzt, weil die materielle Beweislast insbesondere für eine abwägungsfehlerfreie örtliche Bauvorschrift bei der Gemeinde liegt. Auch wenn es keine ausdrückliche Begründungspflicht für selbständige Satzungen gibt und diese daher auch ohne Begründung wirksam sind, hat dies keinen Einfluss auf den Umfang der gerichtlichen Kontrolle oder die materielle Beweislast. Nimmt die Gemeinde überhaupt keinen Interessensausgleich vor (Abwägungsausfall), bezieht sie nicht alle hierfür maßgeblichen Belange ein (Abwägungsdefizit), oder nimmt sie einen Ausgleich vor, der zur Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (Abwägungsdisproportionalität), leidet die Regelung an einem Mangel (Grünewald in BeckOK, 26. Ed. 1.11.2019, BayBO, Art. 81 Rn. 26 f., 44, 69). Erforderlichkeit und Zahl der Stellplätze sollen sich nach dem Willen des Gesetzgebers in hohem Maße nach den örtlichen Gegebenheiten und nach den verkehrspolitischen Konzepten der jeweiligen Gemeinde richten (LT-DrS. 15/7161, S. 56; VG Augsburg, U,v, 9.3.2016 – Au 4 K 15.1371 – juris Rn. 66 ff.). Die Rechtsprechung hat, soweit sie sich mit den Zahlen in gemeindlichen Stellplatzvorschriften befasst hat, dementsprechend die von der Gemeinde angegebenen spezifischen örtlichen Gegebenheiten, auch einer besonderen Verkehrssituation, beurteilt bzw. entsprechende Angaben der Gemeinde herangezogen (vgl. etwa BayVGH, B.v. 25.6.2003 – 14 ZB 03.274 – juris Rn. 2; U.v. 16.12.1996 – 14 B 93.2981 – a.a.O.; OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 7.10.2015 – 8 C 10371/15 – juris Rn. 15).
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Der hier maßgebliche, durch Satzung festgesetzte Stellplatzbedarf genügt den dargestellten Vorgaben nicht.
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Die Klägerin legte keinerlei Unterlagen vor, die aufzeigen, wie sie zu der Festsetzung der Stellplatzzahlen gelangt ist. Auch eine Nachfrage in der mündlichen Verhandlung ergab, dass hierzu keinerlei Begründungen, Untersuchungen oder sonstige Erwägungen vorhanden sind. Ein Darlegungsbedarf ergibt sich jedoch aus den Umständen des Einzelfalls, und zwar zunächst aus den substantiierten Einwänden des Beklagten und der Beigeladenen gegen die festgesetzten Zahlen. Der Ansatzpunkt, den Stellplatzbedarf von der Größe der Verkaufsnutzfläche anhängig zu machen, ist nachvollziehbar, nicht jedoch der gefundene Schlüssel von einem Stellplatz je 10 m² Verkaufsnutzfläche. Hier ergibt sich ein Erklärungsbedarf zum einen, weil die Klägerin damit die Zahlen der Anlage zur GaStellV um ein Vierfaches überschreitet. Örtliche Verhältnisse wie etwa der Ausbauzustand des öffentlichen Nahverkehrs oder die Anzahl der vorhandenen Fahrzeuge im Gemeindegebiet, die diesen Stellplatzbedarf erläutern, sind der Festsetzung nicht ersichtlich zugrunde gelegt worden. Ohne weitere Darlegung erscheinen die festgesetzten Zahlen „aus der Luft gegriffen“ und unverhältnismäßig. Der Beklagte weist auch für das Gericht nachvollziehbar auf einen Vergleich mit den Nachbargemeinden der Klägerin hin, demzufolge sich der von der Klägerin festgesetzte Schlüssel als überdurchschnittlich hoch erweist, ohne dass hierfür ein Grund ersichtlich wäre. Nach den Darlegungen verlangt die Gemeinde E* … die Hälfte der Stellplätze, nämlich bei Läden ab einer Verkaufsfläche von größer 400 m² einen Stellplatz je 20 m² Nettoverkaufsfläche, und die Landeshauptstadt München verlangt bei Läden über 400 m² Verkaufsfläche gar nur einen Stellplatz je 30 m² Verkaufsnutzfläche. Zwar ist es der Klägerin nicht grundsätzlich verwehrt, eine Pauschalierung vorzunehmen. Das vom Vorhaben konkret ausgehende, tatsächlich gezählte An- und Abfahrtsaufkommen kann grundsätzlich außer Acht bleiben. Hier kann jedoch das von der Beigeladenen gemessene tatsächliche Verkehrsaufkommen, das in dem punktuellen Zeitpunkt 75 Stellplätze beanspruchte, als weiterer Hinweis dafür genommen werden, dass die festgesetzten Zahlen von über 120 Stellplätzen unverhältnismäßig sind. Ein weiteres Indiz für diese Annahme stellt der von der Klägerin in einem Bebauungsplan festgesetzte Stellplatzschlüssel für ein Fachmarktzentrum dar. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Beklagten und der Beigeladenen hielt die Klägerin in einem Bebauungsplan für einen Fachmarkt lediglich einen Stellplatz für 17,5 m² Verkaufsfläche für erforderlich. Unbenommen ist es der Klägerin selbstverständlich, in Bebauungsplänen andere Zahlen festzusetzen als in ihrer Stellplatzsatzung. Indes weicht die Klägerin mit der genannten Festsetzung bezüglich eines Fachmarktes von den gleichen Vorgaben der Stellplatzsatzungen ab, die auch für Verbrauchermärkte gelten, nämlich der Vorgabe eines Stellplatzes je 10 m² Verkaufsfläche. Angesichts des Eingriffs in das verfasste Eigentumsrecht, die die Stellplatzforderung darstellt, genügen die festgesetzten Zahlen den Anforderungen an eine verhältnismäßige Regelung nicht.
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c) Es bedarf daher keiner weiteren Erörterung, ob und inwieweit die Satzungsregelungen aus anderen Gründen unwirksam sind, etwa wegen fehlender Bestimmtheit oder des Ausschlusses der Stellplatzablöse bei der Neuerrichtung von Vorhaben.
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II. Die Baugenehmigung und das damit ersetzte Einvernehmen verletzt die Klägerin gleichwohl nicht in ihren Rechten. Der Stellplatzbedarf des Vorhabens wird durch die beauflagten 101 Stellplätze gedeckt.
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In Ermangelung anwendbaren Ortsrechts berechnet sich der Stellplatzbedarf nach den allgemeinen Vorschriften des Bauordnungsrechts (vgl. Busse/Kraus/Decker, BayBO, 150. EL Februar 2023, Art. 81 Rn. 163). Diese sind beim hier gegebenen Sonderbau Gegenstand des umfassenden Prüfverfahrens, Art. 60 Satz 1 Nr. 2, Art. 2 Abs. 4 Nr. 4 BayBO. Nach Art. 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BayBO i.V.m. § 20 Satz 1 GaStellV bemisst sich die Zahl der zu schaffenden Stellplätze nach der Anlage zur GaStellV. Nach deren Ziffer 3.2 ist hier 1 Stellplatz je 40 m² Verkaufsnutzfläche, zu schaffen, demnach insgesamt 30 Stellplätze.
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III. Die Klage war daher mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Es entsprach billigem Ermessen im Sinne des § 162 Abs. 3 VwGO, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, weil diese sich durch Stellung eines Sachantrags ihrerseits einem Kostenrisiko aussetzte (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.