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LG Memmingen, Urteil v. 21.08.2023 – 1 KLs 401 Js 10121/22
Titel:

Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes "ANOM" unterliegen einem Beweisverwertungsverbot

Normenkette:
EMRK Art. 3, Art. 6
Leitsätze:
Die Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM" sind mangels Überprüfbarkeit, was zu einem Beweisverwertungsverbot führt, nicht verwertbar. (Rn. 51 – 95)
Erkenntnisse aus der Auswertung von Chatverläufen des Krypto-Messengerdienstes "ANOM" unterliegen einem strafprozessualen Beweisverwertungsverbot (so auch später OLG München BeckRS 2023, 30017; Abweichung zu OLG Saarbrücken BeckRS 2022, 40785; OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2022, 5572). (Rn. 51 – 95) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
ANOM, Beweisverwertungsverbot
Fundstellen:
StV Spezial 2023, 138
BeckRS 2023, 26989
LSK 2023, 26989

Tenor

1. Der Angeklagte wird freigesprochen.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.
3. Es wird festgestellt, dass der Angeklagte für die erlittene Untersuchungshaft vom 23.01.2023 bis 05.02.2023 und vom 13.07.2023 bis 21.08.2023 aus der Staatskasse zu entschädigen ist.

Entscheidungsgründe

I.
Die persönlichen Verhältnisse:
1
1. Der Angeklagte wurde am … in … geboren.
2
Er wuchs zusammen mit seinem ein Jahr älteren Bruder und beiden Elternteilen in Senden auf.
3
Nach dem Besuch des Kindergartens und der Grundschule wechselte der Angeklagte auf die Hauptschule.
4
Als der Angeklagte 12 Jahre alt war, ließen sich die Eltern scheiden.
5
Der Vater des Angeklagten heiratete erneut. Die Mutter des Angeklagten entwickelte anlässlich der Scheidung psychische Probleme, die zu einer depressiven Schizophrenie führten.
6
Nach dem Abschluss der Hauptschule mit dem einfachen Hauptschulabschluss begann der Angeklagte eine Ausbildung zum Stahlbetonbauer in I. Nach zwei Jahren erhielt er aufgrund von häufigen Fehlzeiten die Kündigung.
7
Anschließend besuchte der Angeklagte für eineinhalb Jahre das ...werk in N.-U. und erlangte den Gesellenbrief.
8
Daran schloss sich eine Tätigkeit bei Firmen in S. und V., bevor er die Meisterschule besuchte, die er im Alter von 20 Jahren mit dem Meisterbrief abschloss.
9
Im Anschluss daran arbeitete der Angeklagte als Geschäftsführer eine Baufirma in W. Aus dieser Tätigkeit entstanden Schulden in Höhe von ca. 250.000 Euro.
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Bis auf eine dreimonatige Tätigkeit in einem Fertigteilwerk in N.-U. arbeitete der Angeklagte seit dem Misserfolg mit der Firma nicht mehr und zog zu seiner Mutter zurück. Da ihm die Stadt S. seinen Hund, eine argentinische Dogge, durch behördliche Anordnung entziehen wollte, tauchte der Angeklagte bis zu seiner vorläufigen Festnahme unter und hielt sich bei Freunden auf.
11
Die Mutter des Angeklagten ist 43 Jahre alt und Putzkraft, der Vater des Angeklagten ist 47 Jahre alt und arbeitet als LKW-Fahrer.
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Dar Angeklagte ist ledig und hat keine Kinder.
13
Im Alter von 19 Jahren wurde ihm die Fahrerlaubnis aufgrund Konsums von Kokain entzogen. Seither hat er die Fahrerlaubnis nicht wieder erlangt.
14
Der Angeklagte hat Schulden in Höhe von ca. 250.000 Euro aus seiner früheren Tätigkeit als Geschäftsführer einer Baufirma. Bislang hat er keine Privatinsolvenz beantragt.
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2. Der Angeklagte konsumierte im Alter von elf Jahren erstmals Alkohol.
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Zwischen 2019 und 2020 trank der Angeklagte vier- bis fünfmal pro Woche eine Flasche Jägermeister (0,7 Liter) sowie sechs bis acht Flaschen Bier (zu je 0,5 Liter).
17
In den letzten zwei Jahren trank er pro Woche sechs bis sieben Flaschen Bier zu je 0,5 Liter.
18
Entzugserscheinungen traten nicht auf.
19
Im Alter von 13 Jahren konsumierte der Angeklagte erstmals Marihuana. Zunächst konsumierte er dieses ein- bis zweimal pro Woche. Im Laufe der Jahre steigerte er den Konsum immer mehr, bis er im Alter von 17 Jahren täglich drei bis vier Gramm konsumierte. In diesem Ausmaß fand der Konsum bis zur vorläufigen Festnahme statt.
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Mit etwa 16 Jahren kam der Konsum von Kokain dazu. Zunächst waren es zwei Gramm pro Woche, dann steigerte sich der Konsum auf eineinhalb Gramm täglich und zuletzt auf drei bis fünf Gramm pro Woche.
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Zwischen 22 und 25 Jahren konsumierte der Angeklagte darüber hinaus „Crack“ in einer Menge von bis zu 30 Gramm pro Woche.
22
Ferner probierte der Angeklagte in der Vergangenheit Amphetamin, Crystal, Ecstasy, LSD, Pilze und Spice.
23
Eine Entgiftungs- oder Entwöhnungsbehandlung hat bislang nicht stattgefunden.
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3. Der Angeklagte ist strafrechtlich bereits zweimal in Erscheinung getreten.
25
Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 18.01.2021 (Az. 4 Cs 206 Js 20141/20) wurde der Angeklagte wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je 40 Euro verurteilt.
26
Das Amtsgericht Augsburg verurteilte den Angeklagten am 11.10.2021 (Az. 25 Ds 508 Js 100005/20) wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung und vorsätzlichen Bankrotts in 2 Fällen und Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 156 Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 15 Euro.
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4. Der Angeklagte befand sich in dieser Sache nach seiner vorläufigen Festnahme am 23.01.2023 aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Memmingen vom 14.06.2022, Gz. 3 Gs 1292/23, eröffnet am 23.01.2023, vom 23.01.2023 bis zum 21.08.2023 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt M.
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Die Untersuchungshaft wurde vom 06.02.2023 bis 12.07.2023 zwecks Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe unterbrochen.
II.
Der festgestellte Sachverhalt:
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1. Dem Angeklagten wurde von der Staatsanwaltschaft mit unverändert zugelassener Anklageschrift vom 09.03.2023 folgender Sachverhalt zur Last gelegt:
30
1. Am 03.05.2021 um 18:57 Uhr bewahrte der Angeklagte 5 Kilogramm Marihuana („albanise“) an einem unbekannt Ort im Inland auf, wobei er dies dem anderweitig verfolgten … im Messerdienst ANOM mitteilte und über diesen einen Käufer vor das Marihuana suchte. Das Marihuana diente dem gewinnbringenden Handeltreiben. Das Marihuana hatte einen Wirkstoffgehalt von mindestens 8 % THC.
2. (Fallakte 3)
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Am 08.05.2021 gegen 17:11 Uhr kaufte und übernahm der Angeklagte im oder am Anwesen S.straße 12 in Senden 38,8 Gramm Kokain von dem anderweitig Verfolgten …. Das Kokain diente dem gewinn – bringenden Weiterverkauf. Das Kokain hatte einen Wirkstoffgehalt von mindestens 40 % Kokainhydrochlorid.
3. (Fallakte 7)
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Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt am 21.05.2021 oder kurze Zeit zuvor übernahm der Angeklagte von einer etwa 38 Jahre alten Person aus U an einem unbekannten Ort im Inland 13 Kilogramm Marihuana. Das Marihuana diente dem gewinnbringenden Weiterverkauf. Das Marihuana hatte einen Wirkstoffgehalt von mindestens 8 % THC.
4. (Fallakte 9)
33
Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Zeitraum 23.05.2021 bis zum 24.05.2021 kaufte und übernahm der Angeklagte 88 Gramm Kokain von dem anderweitig Verfolgter.
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Das Kokain diente dem Angeklagten zum gewinnbringenden Weiterverkauf und hatte einen Wirkstoffgehalt von 91,8 % Kokainhydrochlorid.
35
Wie der Angeklagte wusste, hatte er nicht die für den Umgang mit Betäubungsmittel erforderliche Erlaubnis.
36
Dem Angeklagten wurde deshalb vorgeworfen,
durch vier selbständige Handlungen jeweils unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben, strafbar als Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen gemäß § 1 Abs. 1 i.V.m. Anlege I zum BtMG, §§ 3 Abs. 1, 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 53 StGB.
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2. Der obenstehende Sachverhalt kann dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden.
38
Der Angeklagte hat sich zum Tatvorwurf nicht eingelassen.
39
Taugliche Tatzeugen und andere Beweismittel zum Nachweis der Taten sind nicht vorhanden. Die Anklage beruht allein auf der Auswertung des gesicherten Chatverkehrs des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“.
40
Diesbezüglich liegt jedoch ein Beweisverwertungsverbot vor, sodass die aus der Auswertung des „ANOM“-Chatverkehrs gewonnenen Erkenntnisse nicht zum Nachweis der Taten herangezogen werden dürfen.
III.
Die Beweiswürdigung:
1. Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen
41
Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten beruhen auf den glaubhaften Angaben des Sachverständigen Dr. K2.
42
Die Feststellungen zu den Vorstrafen beruhen auf der Verlesung der Auskünfte aus dem Bundeszentralregister sowie aus den Strafbefehls- bzw. Urteilssachverhalten.
2. Einlassungen des Angeklagten zum Tatvorwurf
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Der Angeklagte machte zu den ihm vorgeworfenen Taten weder im Ermittlungsverfahren noch in der Hauptverhandlung Angaben.
3. Zeugen
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Die Zeugin … Ex-Freundin des Angeklagten, konnte zu den dem Angeklagten vorgeworfenen Taten keine Angaben machen.
45
Sie führte zwar glaubhaft aus, dass der Angeklagte während der Dauer der Beziehung regelmäßig Kokain und Marihuana konsumierte, sowie, dass sie ab und zu dabei gewesen sei, als der Angeklagte Marihuana gekauft habe. Auch habe der Angeklagte ihr erzählt, dass er mit … Betäubungsmittelgeschäfte mache.
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Jedoch habe sie keinen Kauf bzw. Verkauf von größeren Mengen an Betäubungsmitteln im Mai 2021 mitbekommen. Sie habe erst ab August oder September 2021 bei dem Angeklagten gewohnt.
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Die Zeugin konnte auch keine belastbaren und konkreten Angaben zu den vom Angeklagten in der Wohnung oder anderorts verwahrten Betäubungsmittelvorräten machen. Ihre Angaben blieben unklar und bezogen sich nicht auf den angeklagten Tatzeitraum Mai 2021.
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Weitere Tatzeugen sind nicht vorhanden.
4. Verdeckte und offene Ermittlungsrmaßnahmen
49
Die durchgeführten Observationen und Überwachung der Telekommunikation ergaben zwar, dass der Angeklagte Kontakt mit dem gesondert Verurteilten … hatte. Die angeklagten Taten konnten anhand der verdeckten Maßnahmen, die allesamt orst weit rech dem angeblichen Tatzeitraum erfolgten, jedoch nicht nachgewiesen werden.
50
Die durchgeführte Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten erbrachte ebenfalls keine Beweismittel, die für einen Tatnachweis reichen. Es konnte kein Handy des Angeklagten aufgefunden und sichergestellt werden.
5. „ANOM“-Chatverkehr
51
Das einzige Beweismittel zum Nachweis der angeklagten Taten stellen die gesicherten Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ dar.
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Über diesen Messengerdienst kommunizierte der Angeklagte unter der Jabber-ID „...“ mit dem anderweitig Verfolgten … (Jabber-ID „...“) offen über die angeklagten Betäubungsmittelgeschäfte.
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Die Erkenntnisse aus der Auswertung dieser Chatverläufe sind jedoch nicht verwertbar. Die Kammer geht vom Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots aus.
54
5.1 Der Krypto-Messengerdienst „ANOM“ stellt ein verschlüsseltes Kommunikationssystem dar, welches durch das amerikanische FBI entwickelt und inkognito unter kriminellen Organisationen vermarktet wurde.
55
Den Nutzern wurde Anonymität garantiert, denn die Mobiltelefone sollten abhörsicher und verschlüsselt, von Strafverfolgungsbehörden also nicht zu verfolgen sein.
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Tatsächlich hatte das FBI aber die Möglichkeit, sämtliche über „ANOM“ verschickte Nachrichten zu entschlüsseln und mitzulesen, was den Nutzern der Krypto-Handys nicht bekannt war.
57
Die überwiegenden Nutzer der „ANOM“-Krypto-Handys waren nicht Staatsbürger der USA und nicht ansässig in den USA.
58
Das FBI suchte im Sommer 2019 im Zuge der Entwicklung von „ANOM“ nach einem „Drittland“ außerhalb der USA, um dort einen Server zur Erhebung der „ANOM“-Daten einzurichten. Dem „Drittland“ wurde auf dessen Bitte hin zugesichert, dass dessen Identität geheim gehalten wird.
59
Das „Drittland“ erhob ab Oktober 2019 aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses die Daten des „ANOM“-Servers und leitete sie an das FBI im Wege der Rechtshilfe weiter.
60
Im Rahmen des daraufhin vom FBI eingeleiteten Verfahrens namens „Trojan Shield“ wurden unter anderem Taten mit Deutschlandbezug bekannt.
61
Der nationale gerichtliche Beschluss des Drittlands lief zum 07.06.2021 aus, sodass ab diesem Zeitpunkt keine Daten mehr erhoben wurden.
62
Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main stellte am 21.04.2021 und am 28.09.2021 Rechtshilfeersuchen an die US-amerikanischen Justizbehörden, woraufhin die „ANOM“-Daten über das Bundeskriminalamt übermittelt wurden.
63
Mit Schreiben vom 03.06.2021 erteilte das FBI die Erlaubnis zur offiziellen Verwendung der Daten in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren. In diesem Zusammenhang stellte das FBI jedoch im Schreiben vom 03.06.2021 wie auch in einem weiteren Schreiben vom 22.12.2021 ausdrücklich klar, dass es keine Zusicherungen hinsichtlich zusätzlicher Unterstützung, wie etwa in Bezug auf Zeugenaussagen oder Dokumentenauthentifizierung im Rahmen von Gerichtsverfahren, macht.
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In seinem Schreiben vom 22.12.2021 führte das FBI aus:
„Das FBI ist weder jetzt noch in der Zukunft in der Lage, die Identität des vorgenannten Drittlandes freizugeben.“
65
Seitens des FBI wurde in einem weiteren Schreiben an die GenStA Frankfurt a.M. vom 27.04.2022 lediglich die Information erteilt, dass es sich bei dem „Drittland“ um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handle und dass die Daten in dem Drittland nach dem dortigen nationalen Recht auf der Grundlage einer gerichtlichen Anordnung erhoben worden seien.
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Ferner wurde mitgeteilt, dass die überwiegende Mehrheit der die „ANOM“-Handys nutzenden Personen nicht Staatsbürger der USA und auch nicht in den USA ansässig seien.
67
Da die Identität des Drittlands unbekannt ist, liegen auch keine entsprechenden Gerichtsbeschlüsse aus dem Drittland vor.
68
Dem Bundeskriminalamt ist der Drittstaat ebenso wenig bekannt wie der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI (vgl. BT-Drucksache 20/1249, S. 6). Dies bestätigte auch der Zeuge ... K. (BKA W.), wonach dem BKA nie mitgeteilt worden sei, wo der Server stand und wie die Datenerhebung durch das FBI abgelaufen ist.
69
Auch der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. sind weder das Drittland noch die dort nach den Behauptungen des FBI ergangenen Gerichtsbeschlüsse bekannt, wie sich aus den beim Landgericht Memmingen am 05.05.2023 und 08.05.2023 eingegangenen verlesenen dienstlichen Stellungnahmen vom 06.04.2022 und vom 13.04.2023 der zuständigen Staatsanwälte, Oberstaatsanwältin R., Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. und Staatsanwalt G., nun Staatsanwaltschaft Frankfurt a. M., ergibt.
70
Die Strafkammer konnte mit der ihr zur Verfügung stehenden Mitteln keine weitergehenden Informationen gewinnen.
71
Eine Einsichtnahme und Überprüfung der Gerichtsbeschlüsse zur Erhebung der „ANOM“-Daten ist den Verfahrensbeteiligten und der Kammer daher nicht nur derzeit, sondern aufgrund der auch für die Zukunft verweigerten Preisgabe weiterer Informationen durch das FBI auch künftig nicht möglich.
72
5.2 Zwar sieht das deutsche Recht keine ausdrückliche Verwendungsbeschränkung für im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangte Daten vor.
73
Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. u.a. Beschluss des BGH vom 02.03.2022, 5 StR 457/21) lässt aufgrund des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt und verpflichtet die deutschen Gerichte nicht dazu, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland geführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.
74
Beweisverwertungsverbote greifen nur in Ausnahmefällen ein, etwa, wenn die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ gewonnen wurden oder aber wenn die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente.
75
Es muss also ein so schwerer Mangel vorliegen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist. Nur das kann ein deutsches Gericht prüfen und feststellen.
76
Diese Ansicht haben in Bezug auf „ANOM“-Verfahren diverse Oberlandesgerichte (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 30.12.2022 – 4 HE 35/22; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22.11.2021 – 1 HEs 427/21; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 14.02.2022 – 1 HEs 509/21, 1 HEs 510/21, 1 HEs 511/21, 1 HEs 512/21, 1 HEs 513/21, 1 HEs 514/21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29.11.2021 – HE 1 Ws 313-315/21; OLG Thüringen, Beschluss vom 17.01.2022 – 3 Ws 475/21; OLG Stuttgart, Beschluss vom 21.12.2021 – H 6 Ws 176-177/21) im Rahmen von Haftvorlagen bzw. Beschwerdeentscheidungen geteilt und sich so positioniert, dass die „ANOM“-Daten mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. vorläufig als verwertbar angesehen werden.
77
Zwar hat der BGH am 08.02.2022 in Bezug auf den Krypto-Messengerdienst „EncroChat“ entschieden, dass die durch die französischen Ermittlungsbehörden gewonnenen Erkenntnisse aus der Telokommunikationsüberwachung mittels „EncroChat“ im Ergebnis verwertbar sind (Beschluss vom 08.02.2022, 6 StR 639/21).
78
Die in der Rechtsprechung zu den „EncroChat“-Fällen vertretene Ansicht, dass kein „Befugnis-Shopping“ im Sinne einer planmäßigen Umgehung eigener nationaler Vorschriften durch den Bezug von Beweisen aus dem Ausland vorliege, kann nach Ansicht der Kammer jedoch nicht für den vorliegenden Fall übernommen werden.
79
Denn bei den „EncroChat“-Fällen steht fest, dass sich der die Daten liefernde Server in Frankreich befand und dass durch das örtlich und sachlich zuständige französische (Ermittlungs-)Gericht die erforderlichen Beschlüsse zur Datenerhebung erlassen worden waren.
80
So konnten die nationalen Gerichte die ihnen bereitgestellten französischen Beschlüsse auf eine eventuelle Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder auf einen eventuellen Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ hin überprüfen.
81
Hingegen scheitert in den „ANOM“-Verfahren eine solche Überprüfung daran, dass durch das FBI oder das amerikanische Justizministerium nicht einmal das den Server beherbergende „Drittland“ genannt wird geschweige denn die dort ergangenen gerichtlichen Beschlüsse zur Datenerhebung zur Verfügung gestellt werden. Die gerichtlichen Beschlüsse des Drittlands sind damit bislang nur vom „Hörensagen“ bekannt.
82
Mit diesen Umstand haben sich die o.g. Entscheidungen der Oberlandesgerichte ersichtlich nicht befasst. Angesichts der zeitlich frühen Befassung der Oberlandesgerichte mit dem „ANOM“-Komplex kann diesen auch kaum der im hiesigen Verfahren erlangte Kenntnisstand vorgelegen haben, zumal zeitlich später erfolgte Rechtshilfemaßnahmen der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. und wesentliche erst Anfang 2023 erlangte Erkenntnisse von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. zurückgehalten und erst im Laufe der Hauptverhandlung im Verfahren 1 KLs 401 Js 22809/21, welches von der ersten Kammer des Landgerichts Memmingen parallel verhandelt wurde, zur Verfügung gestellt worden sind.
83
Für einen Beschuldigten besteht bei dieser Sachlage in Ermangelung eines gerichtlichen Beschlusses keine Möglichkeit, den Beschluss zu überprüfen und sich gegen den Beschluss gerichtlich zur Wehr zu setzen.
84
Der zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union etablierte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Sinne eines gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und in der Grundrechtscharta anerkannten Grundrechte zu bieten, darf sich für den Beschuldigten nicht dergestalt negativ auswirken, dass er keine Möglichkeit hat, die Ursprungsmaßnahme (hier in Bezug auf die Datenerhebung in dem Drittstaat) gerichtlich überprüfen zu lassen. Es besteht für den Beschuldigten demnach eine mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens nicht zu vereinbarende Rechtsschutzlücke.
85
Unabhängig davon besteht auch für die nationalen Gerichte wie vorliegend für die Kammer im Rahmen eines Strafverfahrens keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob bei Erlass des Beschlusses bzw. der Beschlüsse die rechtsstaatlichen Mindestgrundsätze eingehalten worden sind.
86
Wenn keinerlei Beschlüsse vorliegen, um die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen zu prüfen, unter welchen Umständen die Daten erlangt wurden und ob die Daten manipuliert wurden, muss von einer Beweislastumkehr ausgegangen werden, sodass die Staatsanwaltschaft nachweisen muss, dass rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt wurden und kein Beweisverwertungsverbot vorliegt.
87
So hat auch der EGMR in seinem Urteil vom 23.10.2014 (54648/09 (Furcht/Deutschland), NJW 2015, 3631) ausgeführt, dass es der Strafverfolgungsbehörde obliegt, zu beweisen, dass keine zu einem Beweisverwertungsverbot führende Situation vorgelegen hat.
88
Ferner stellte der EGMR in dieser Entscheidung fest, dass dieser Beweislast nur schwerlich genügt werden kann, wenn die Ermittlungsmaßnahme nicht förmlich genehmigt war, und wies auf die Notwendigkeit eines verständlichen und vorhersehbaren Verfahrens für die Genehmigung von Ermittlungsmaßnahmen und deren ordnungsgemäße Überwachung hin.
89
Die Kammer betont darüber hinaus, dass es – anders als bei den „EncroChat“-Fällen, in denen bekannt ist, dass der Server in Frankreich stand und überprüfbare Beschlüsse eines französischen Ermittlungsgerichts existieren – bei den „ANOM“-Verfahren nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei dem vom FBI unter Verschluss gehaltenen „Drittland“ nicht sogar um Deutschland handelt.
90
Dies würde zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass ein sich mit einem „ANOM“-Verfahren befassendes deutsches Gericht daran gehindert wäre, einen nach den nationalen Vorschriften der StPO zur Telekommunikationsüberwachung und von einem deutschen Ermittlungsrichter erlassenen Beschluss zur Erhebung von Kommunikationsdaten zu überprüfen, obwohl die Ermittlungsmaßnahme in Deutschland erfolgt ist.
91
Damit läge eine bewusste und vorsätzliche Umgehung der maßgeblichen Vorschriften der StPO zur Kommunikationsüberwachung vor, welche die Unverwertbarkeit der erhobenen Beweise zur Folge haben muss.
92
In Ermangelung hinreichender Informationen zur Auswahl des „Drittstaats“ durch das FBI, zu den zwischenstaatlichen Absprachen und zu den im Drittstaat ergangenen gerichtlichen Beschlüssen kann außerdem ein sog. Befugnis-Shopping im Sinne einer planmäßigen Umgehung der eigenen nationalen Vorschriften nicht ausgeschlossen werden:
93
Es besteht die Möglichkeit, dass die deutschen Behörden durch ein planmäßiges Vorgehen zur Umgehung der maßgeblichen Vorschriften der StPO zur Kommunikationsüberwachung an der vom FBI betriebenen Datengewinnung in einen anderen Land der Europäischen Union mitgewirkt haben, oder aber auch, dass das FBI zur Umgehung der in den USA geltenden maßgeblichen Vorschriften zur Kommunikationsüberwachung einen „Drittstaat“ ausgewählt hat, in dem niedrigere Hürden für die Anordnung einer Kommunikationsüberwachung als in den USA gelten, um dort gezielt Daten zu erheben.
94
Für die zweitgenannte Möglichkeit spricht insbesondere der Umstand, dass die erhobenen „ANOM“-Daten Staatsbürger der USA oder in den USA ansässige bzw. aufhältige Personen nicht betreffen. Die US-Behörden legten insbesondere Wert darauf, dass amerikanisches Hoheitsgebiet nicht tangiert wird.
95
Letztlich ist die Kammer auch nicht davon überzeugt, dass gegen jeden Erwerber bzw. Nutzer eines „ANOM“-Kryptohandys ein Anfangsverdacht der Begehung von Straftaten besteht. Vielmehr handelt es sich bei der von den Ermittlungsbehörden aufgestellten These, dass jeder Erwerber bzw. Nutzer dem kriminellen Milieu zuzuordnen ist und ausschließlich strafbare Inhalte auf den Kryptohandys generiert werden, um einen pauschalisierten Generalverdacht. Im Ergebnis läuft diese auf einem Generalverdacht beruhende, vollumfassende Überwachung aller Aktivitäten der „ANOM“-Nutzer auf eine anlasslose Massenüberwachung und damit eine im Kern geheimdienstliche Maßnahme hinaus. So erlangte Informationen können nicht zur Verwertung im Strafverfahren umgewidmet werden, da eine solche Maßnahme nach der StPO nicht zulässig ist und auch mit grundgesetzlichen Wertungen nicht in Einklang zu bringen ist (vgl. BVerfG, NJW 2002, 2235, 2256).
96
Da weitere verwertbare Beweismittel nicht zur Verfügung stehen, um den Tatnachweis zu führen, ist der Angeklagte in vollem Umfang aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.
IV.
Kostentscheidung:
97
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO.
V.
Entschädigungsentscheidung:
98
Der Angeklagte wurde freigesprochen, sodass ihm nach §§ 2, 8 StrEG von Amts wegen eine Entschädigung für die erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen zu gewähren ist und die Kammer eine entsprechende Grundentscheidung zu treffen hatte. Die Grundlage für die tatsächlichen Feststellungen zur erfolgten Festnahme basieren auf den insoweit glaubhaften Angaben der Polizeibeamten KHMin ... und KHK ....
99
Gründe für einen Ausschluss der Entschädigung nach § 5 StrEG liegen nicht vor.
100
Der Angeklagte wurde am 23.01.2023 aufgrund Untersuchungshaftbefehls des Amtsgerichts Memmingen vom 14.06.2022 vorläufig festgenommen und befand sich vom 23.01.2023 bis 05.02.2023 und vom 13.07.2023 bis 21.08.2023 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt M. Vom 06.02.2023 bis 12.07.2023 erfolgte die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe.
101
Nach § 2 Abs. 1 StrEG sind somit entschädigungspflichtig der Vollzug der Untersuchungshaft für die Zeiträume vom 23.01.2023 bis 05.02.2023 und vom 13.07.2023 bis 21.08.2023.