Titel:
Abschiebungshaft: Aushändigung des Haftantrags an den Betroffenen
Normenketten:
GG Art. 103 Abs. 1
FamFG § 23 Abs. 2, § 417, § 420
Leitsatz:
Zweck der Aushändigung des Haftantrages ist es, den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör zu wahren. Er soll sich zur Sache äußern können. Bei einem einfach gelagerten Sachverhalt ist es ausreichend, ihm den Haftantrag zu Beginn des Termins auszuhändigen. Ob die Aushändigung in einem solchen Fall vor oder nach Feststellung der Personalien erfolgt, ist dabei ohne Belang. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebungshaft, Haftantrag, Aushändigung, Zeitpunkt, Anhörung, Terminbeginn, Feststellung der Personalien, Haftgrund, erhebliche Gefahr, Straftaten, Verurteilung, Freiheitsstrafe, Betäubungsmittel
Vorinstanz:
AG Freising, Beschluss vom 04.05.2023 – 3 XIV 8/23 (B)
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 11.07.2023 – XIII ZA 3/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26837
Tenor
1. Die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Freising vom 04.05.2023, Az. 3 XIV 8/23 (B), wird zurückgewiesen.
2. Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung der Rechtsanwältin Dr. … wird abgelehnt.
3. Der Gegenstandswert wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Betroffene ist türkischer Staatsangehöriger.
2
Der Betroffene ist in der Vergangenheit bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten:
Erpressung und versuchte Erpressung in vier Fällen (Tatzeit: 01.01.1998 – 08.10.1998), Urteil des Amtsgerichts Freising vom 24.02.1999, 3 Wochen Jugendarrest, Erbringung von Arbeitsleistungen, Rechtskräftig seit 04.03.1999 (vgl. Bl. 63/69 d. Ausländerakte);
Gefährliche Körperverletzung in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen in Tatmehrheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (Tatzeit: 01.10.1999), Urteil des Amtsgerichts Freising vom 15.03.2000, 8 Monate Jugendstrafe, 2 Jahre Bewährung, Rechtskräftig seit 23.03.2000 (vgl. Bl. 126/130 d. Ausländerakte);
Unerlaubter Besitz von Betäubungsmittel (Tatzeit: 22.08.2000), Urteil des Amtsgerichts Freising vom 28.03.2001, 12 Monate Jugendstrafe, Rechtskräftig seit 28.03.2001 (vgl. Bl. 145/151 d. Ausländerakte);
Totschlag in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben und Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen jeweils in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Tatzeit: 06.05.2005), Urteil des Landgerichts Landshut vom 07.02.2006, 9 Jahre und 9 Monate Freiheitsstrafe, Rechtskräftig seit 07.02.2006 (vgl. Bl. 202/223 d. Ausländerakte);
Unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Verstoß gegen Weisungen während Führungsaufsicht in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln (Tatzeit: 18.10.2017), Urteil des Amtsgerichts München vom 13.08.2018, 2 Jahre und 5 Monate Freiheitsstrafe, Rechtskräftig seit 06.02.2019, Bewährungszeit bis 23.06.2026 (vgl. Bl. 966/978 d. Ausländerakte).
3
Mit Bescheid vom 05.03.2009 ordnete das Landratsamt Fr. die Ausweisung des Betroffenen an (vgl. Bl. 273 d. Ausländerakte).
4
Im Rahmen des Klageverfahrens gegen den Bescheid vom 05.03.2009 wurde der Bescheid vom 05.03.2019 in der öffentlichen Sitzung vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht München durch die Behörde aufgehoben (vgl. Bl. 343/345 d. Ausländerakte).
5
Mit Bescheid vom 31.07.2014 ordnete das Landratsamt Fr. erneut die Ausweisung des Betroffenen unter Androhung der Abschiebung in die Türkei an (vgl. Bl. 597/612 d. Ausländerakte).
6
Mit Schreiben vom 26.08.2014 erhobt die Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen Klage gegen den Bescheid vom 31.07.2014 (vgl. Bl. 620/624 d. Ausländerakte).
7
Mit Urteil vom 08.09.2016 wies das Bayerische Verwaltungsgericht München die Klage ab (vgl. Bl. 782/826 d. Ausländerakte).
8
Mit Schreiben vom 30.09.2016 beantragte die Verfahrensbevollmächtigte die Zulassung der Berufung (vgl. Bl. 839/840 d. Ausländerakte).
9
Mit Beschluss vom 07.01.2019 lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag auf Zulassung der Berufung ab (vgl. Bl. 994/1000 d. Ausländerakte).
10
Am 30.04.2021 erstellte der Sachverständige Dr. … ein forensisch-psychiatrisches Gutachten über den Betroffenen. Der Sachverständige kommt dabei zu dem Ergebnis, dass unter Voraussetzung anhaltender Krankheits- bzw. Problemeinsicht sowie auch anhaltende „Compliance“ bzw. Kooperation und Behandlungswilligkeit, insbesondere die absolute Karenz von Alkohol und jeglichen illegalen Substanzen sowie verschreibungspflichtigen Medikamenten, zu erwarten sei, dass der Betroffene außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Demnach sei aber bei einem Rückfall in das frühere Konsummuster bzw. einem erneuten fortgesetzten Kokain- und Heroinkonsum davon auszugehen, dass der Betroffene früher oder später erneut Delikte im Sinne der vergangenen Straftaten begehe, dann auch bis hin zu Körperverletzungs- und schlimmstenfalls auch Tötungsdelikten im Rahmen drogeninduzierter Psychosen, weshalb hier die engmaschige Kontrolle und Weiterbehandlung durch die forensisch-psychiatrische Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Bezirkskrankenhaus Ma. essentiell sei, um entsprechende Rückfälle bereits im Vorfeld bzw. schnellstmöglich feststellen bzw. idealerweise verhindern zu können (vgl. Bl. 1699 d. Ausländerakte). Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten (Bl. 1630/1701 d. Ausländerakte) Bezug genommen.
11
Mit Schreiben vom 04.05.2023 beantragte das Landratsamt Fr. die Anordnung der Sicherungshaft gegen den Betroffenen bis zum 20.06.2023. Konkret führt das Landratsamt Folgendes aus:
12
Herr … sei am 12.11.1981 im Bundesgebiet geboren. Zunächst habe er eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten. Am 28.11.1997 sei ihm die unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden, welche ab dem 01.01.2005 als Niederlassungserlaubnis fortgalt. Er sei bei seinen Eltern in Moosburg a. d. Isar aufgewachsen. Er habe von 1992 bis 1997 die Hauptschule M. besucht, danach habe er die Staatliche Berufsschule Freising besucht. Herr … habe im Alter von ca. 14 Jahren begonnen Haschisch zu rauchen und habe auch andere Drogen probiert. Seit dem Jahr 2002 konsumiere er Heroin und Kokain. Im November 2002 habe der Betroffene die deutsche Staatsangehörige J. S. geheiratet. Die beiden gemeinsamen Kinder seien am 05.05.2003 (Tochter …) und am 16.12.2004 (Sohn …) geboren. Herr … sei mit Verfügung vom 31.07.2014 des Landratsamtes F. aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden und die Abschiebung sei ihm angedroht worden. Als Frist zur freiwilligen Ausreise seien vier Wochen nach Haftentlassung festgesetzt worden. Herr … sei am 29.01.2015 aus der Strafhaft entlassen worden. Eine Abschiebung sei zu diesem Zeitpunkt aufgrund des anhängigen Rechtsmittelverfahrens nicht möglich gewesen. Die Frist zur freiwilligen Ausreise sei am 26.02.2015 abgelaufen. Die Verfügung sei seit dem 16.01.2019 bestandskräftig.
13
Herr … sei erneut zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 5 Monaten verurteilt worden. Aufgrund dieser Verurteilung sei der Maßregelvollzug nach § 63 StGB angeordnet worden, weswegen er sich 2019 im Bezirksklinikum Mainkofen aufgehalten habe. Aufgrund fehlender Zustimmung der Staatsanwaltschaft habe auch seit Bestandskraft der Ausweisungsverfügung keine Abschiebung erfolgen können. Durch Beschluss des Landgerichts Deggendorf vom 10.06.2021 sei die Reststrafe der letzten Verurteilung ab dem 20.06.2021 bis zum 23.06.2026 zur Bewährung ausgesetzt worden. Die Führungsaufsicht ende zum 19.07.2026. Eine Abschiebung sei nun seit dem 21.06.2021 möglich. Herr … sei mit Schreiben vom 21.06.2021 aufgefordert worden Deutschland freiwillig zu verlassen. Hierfür sei ihm eine Grenzübertrittbescheinigung zum Nachweis für die Ausreise zugeschickt worden, welche bis zum 07.07.2021 gültig gewesen sei und mehrfach bis zum 25.12.2021 verlängert worden sei.
14
Am 07.12.2021 sei Herrn … erstmalig eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) ausgestellt worden, weil die Passbeschaffung von Seiten des türkischen Generalkonsulates in München mindestens sechs Monate in Anspruch nehmen sollte.
15
Die Passersatzpapierbeschaffung sei von deren Seite am 15.03.2022 eingeleitet worden, nachdem vom Betroffenen weiterhin kein Reisepass oder Heimreiseschein vorgelegen habe. Am 05.05.2022 habe Herr … mitgeteilt, dass er nicht wisse, ob er freiwillig ausreisen wolle. Er müsse darüber mit seiner Mutter sprechen.
16
Am 16.05.2022 sei dem Betroffenen vom türkischen Generalkonsulat in M. bestätigt worden, dass ein Reisepass beantragt worden sei und in sechs bis acht Wochen mit der Aushändigung zu rechnen sei. Mit Schreiben vom 14.06.2022 sei er auf die unverzügliche Vorlagepflicht nach Erhalt des Reisepasses hingewiesen worden.
17
Mit Schreiben vom 15.03.2022 und Mail vom 30.06.2022 sei er über die Möglichkeit einer dreimonatigen Beschäftigungserlaubnis zur Finanzierung der Ausreise informiert worden. Darüber hinaus sei ihm die Möglichkeit erläutert worden, eine finanzielle Rückkehrunterstützung über Coming Home zu beantragen.
18
Herr … habe am 30.06.2022 letztmalig mitgeteilt, dass ihm der Reisepass noch nicht ausgestellt worden sei. Ein Mitarbeiter der türkischen Auslandsvertretung in M. habe am 24.08.2022 einem Mitarbeiter des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführung (LfAR) mitgeteilt, dass der bis zum 04.12.2031 ausgestellte Reisepass Nr. ... bereits an den Betroffenen ausgehändigt worden sei. Am 08.09.2022 sei die Rechtsanwältin Frau Dr. jur. … aufgefordert worden, ihren Mandanten über die Passvorlagepflicht zu belehren, da er telefonisch mitteilt habe, den Reisepass nicht vorlegen zu wollen.
19
Herr … sei bereits am 30.08.2022 für eine Abschiebung in die Türkei eingeplant worden. Da dem Betroffenen erst kurz vor der Abschiebung ein Reisepass ausgestellt worden sei, sei von Seiten der türkischen Auslandsvertretung eine Ausstellung eines Heimreisescheins für die Abschiebung verweigert worden. Erst am 14.06.2022 sei der Betroffene darüber belehrt worden, dass der Pass unverzüglich nach Erhalt beim Ausländeramt vorzulegen sei. Dies sei bis zum 24.08.2022 nicht erfolgt. Da der Reisepass für die Anmeldung bei den türkischen Innenbehörden nicht wie erforderlich habe übermittelt werden können, sei der Flug storniert worden.
20
Mit Schreiben vom 25.10.2022 seien der Betroffene und seine Rechtsanwältin nochmals über die unverzügliche Passvorlagepflicht informiert worden und zu einer geplanten Ordnungsverfügung angehört worden. Einer schriftlichen Aufforderung zur Passvorlage vom 11.11.2022 sei auch die Anwältin des Betroffenen nicht nachgekommen, obwohl angegeben worden sei, dass diese im Besitz seines Reisepasses sei. Da bis zum 15.12.2022 weder vom Betroffenen, noch von seiner Rechtsanwältin der Reisepass vorgelegt worden sei, sei die Ordnungsverfügung vom 15.12.2022 erfolgt. Der Betroffene sei aufgefordert worden, seinen gültige türkischen Reisepass Nr. U26658406 bis zum 23.12.2022 im Ausländeramt Freising vorzulegen, auszuhändigen und vorübergehend zu überlassen.
21
Herr … habe dazu am 15.12.2022 erklärt, dass er den Reisepass nach dem 11.11.2022 von seiner Anwältin abgeholt habe. Er habe den Reisepass für die Vorsprache gesucht, aber nicht gefunden. Er vermute, diesen in seiner Wohnung oder in der Wohnung der Lebensgefährtin verloren zu haben. Er solle auffindbar sein. Da er diesen nicht gefunden habe, sei eine Verlustmeldung bei der Polizeiinspektion Mo. a. d. Is. mit der falschen Passnummer am 20.12.2022 erfolgt. Dies sei mit den richtigen Passdaten am 03.01.2023 bei der Polizeiinspektion L. a. d. Is. nachgeholt worden.
22
Herr … habe am 16.01.2023 einen Termin im türkischen Generalkonsulat in Mü. zur Beantragung der Kimlik-Card gehabt. Er habe als Nachweis eine allgemeine Vorsprachebestätigung und die Quittung über die Gebühr in Höhe von sieben Euro vorgelegt. Bei seiner Vorsprache am 17.03.2023 im Ausländeramt Fr. habe Herr … auf Nachfrage angegeben, dass er die Kimlik-Card nach Erhalt nicht im Original vorlegen werde. Nach Rücksprache mit seiner Anwältin würde er nur eine Kopie der Kimlik-Card vorlegen. Er sei darauf hingewiesen worden, dass er das Original vorzulegen habe. Er habe nicht weiter darüber reden wollen, da sie dies mit seiner Anwältin klären sollten.
23
Herr … habe nach eigenen Angaben am 27.03.2023 um 12:00 Uhr einen Termin zur Abholung seiner Kimlik-Card. Die Festnahme an diesem Tag habe nicht erfolgen können, da er krankheitsbedingt nicht vorgesprochen habe. Heute habe der Betroffenen im Rathaus Mo. vorgesprochen, um eine Meldebescheinigung für eine geplante Eheschließung zu beantragen. Da er dort mit einem gültigen Reisepass vorgesprochen habe, sei die Polizeiinspektion Mo. informiert worden, den Betroffenen festzunehmen. Die Anhörung sei in Abstimmung mit der Rechtsanwältin Frau Dr. jur. … erfolgt.
24
Der Betroffene sei aufgrund der Ausweisung vom 31.07.2014 vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Diese sei seit dem 16.01.2019 bestandskräftig. Der Ausländer sei daher abzuschieben (§ 58 Abs. 1. AufenthG). Die Frist zur freiwilligen Ausreise sei seit dem 15.12.2021 abgelaufen. Auch die nochmalige Möglichkeit der freiwilligen Ausreise durch das Schreiben vom 15.10.2022, welche eine freiwillige Ausreise innerhalb von einer Woche nach Erhalt des Schreibens ermöglichen sollte, sei nicht erfolgt. Gründe, die einer Abschiebung entgegenstehen, seien nicht ersichtlich.
25
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Antrag (Bl. 1/9 d.A.) Bezug genommen.
26
Das Amtsgericht Freising hörte den Betroffenen am 04.05.2023 an. Die Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen wurde über den Anhörungstermin informiert. Auf das Protokoll wird Bezug genommen (Bl. 10/12 d.A.).
27
Mit Beschluss vom 04.05.2023 ordnete das Amtsgericht Freising die Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen sowie den Vollzug der angeordneten Haft mit Beginn der Festnahme am 04.052023 bis längstens 29.06.2023 an. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss Bezug genommen (Bl. 13/22 d.A.).
28
Mit Schreiben vom 04.05.2023 bestellte sich RAin Dr. jur. … zur Verfahrensbevollmächtigten (vgl. Bl. 23/24 d.A.).
29
Mit Schreiben vom 04.05.2023 legte die Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Freising vom 04.05.2023 Beschwerde ein. Sie macht geltend, dass der Bescheid hinsichtlich der Abschiebung des Betroffenen vom 31.07.2014 unter einem gerichtlichen Verfahrensfehler zustande gekommen sei. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben Bezug genommen (vgl. Bl. 25/27 d.A.).
30
Mit weiteren Schreiben vom 07.05.2023 begründet die Verfahrensbevollmächtigte erneut die Beschwerde. Sie beruft sich unter anderem auf den bereits geltend gemachten Verfahrensfehler. Des Weiteren sei der Haftantrag nicht bei Beginn der Anhörung übergeben worden, sondern erst nach Feststellung der Personalien. Die Verfahrensbevollmächtigte stellt den Antrag auf Bestellung eines Verfahrensbeistands sowie Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe und Beiordnung von ihr als Rechtsanwältin. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben Bezug genommen (vgl. Bl. 28/29 d.A.).
31
Mit Verfügung vom 08.05.2023 legte das Amtsgericht Freising die Akte dem Beschwerdegericht zur Entscheidung über die Beschwerde vor (vgl. Bl. 25 d.A.).
32
Die gemäß §§ 58 ff FamFG in zulässiger Weise eingelegte Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
33
Der Beschluss des Amtsgerichts Freising vom 04.05.2023 war rechtmäßig. Die Voraussetzungen der Anordnung der Abschiebungshaft liegen vor, so dass deren Anordnung rechtmäßig ist.
34
1. Es liegt ein zulässiger Haftantrag vor.
35
1.1. Der Antrag auf Haft zur Sicherung der Abschiebung wurde vorliegend von der zuständigen Verwaltungsbehörde gestellt, § 417 Abs. 1 FamFG. Das Landratsamt Fr. ist gem. § 71 Abs. 1 AufenthG sowie § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 2 und § 7 ZustVAuslR sachlich und örtlich zuständig.
36
1.2. Der Antrag wurde auch gemäß §§ 23, 417 Abs. 2 FamFG begründet. Die nötigen Darlegungen zur unerlaubten Einreise, zu den Voraussetzungen der Abschiebung, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer im konkreten Fall liegen vor. Diese beschränken sich auch nicht auf Leerformeln und Textbausteine.
37
Die Ausführungen im Haftantrag zur Durchführbarkeit der Abschiebung genügen auch sonst den Anforderungen. Der Haftantrag enthält im übrigen umfassende Angaben zur Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung und ihrer erforderlichen Dauer gemäß § 417 Abs. 2 Nr. 3, 4 FamFG. Insbesondere sind konkrete Angaben dazu enthalten, bis wann mit einer Abschiebung in die Türkei gerechnet werden kann.
38
Die Antragstellerin führt auf, dass der Schubantrag erst nach Erlangung der Klimik-Card gestellt wird. Sie führt die konkreten Schritte aus, die noch erforderlich sind sowie etwaige Möglichkeiten für den Fall, dass eine Sammelabschiebungsmaßnahme nicht möglich wäre. Des Weiteren wird nachvollziehbar dargestellt, dass die Abschiebung erst nach Erlangung der Klimik-Card tatsächlich betrieben werden könne. Das LfAR teilte zudem am 24.03.2023 schriftlich mit, dass die Planung einer Kleinchartermaßnahme ca. 6 – 8 Wochen in Anspruch nehmen werde.
39
Die fehlende Berechtigung zur Einreise und die Ausreisepflicht wurden im Antrag ausreichend dargelegt, § 417 Abs. 2 Nr. 5 FamFG.
40
Die Erforderlichkeit der Haft wurde im Antrag umfassend ausgeführt.
41
2. Der Haftantrag wurde dem Betroffenen bekannt gegeben und in Kopie ausgehändigt. Dies ergibt sich aus dem Protokoll der richterlichen Anhörung vom 04.05.2023 (vgl. Bl. 10/12 d.A.). Dies erfolgte zu Beginn der persönlichen Anhörung. Unschädlich ist dabei, dass die Aushändigung erst nach Feststellung der Personalien des Betroffenen erfolgt ist.
42
Vorliegend war es aufgrund des einfach gelagerten Sachverhalts ausreichend, dem Betroffenen den Haftantrag zu Beginn des Termins auszuhändigen, vgl. auch BGH Beschluss vom 16.07.2014 – V ZB 80/13. Die Aushändigung des Antrags nach Feststellung der Personalien war rechtzeitig und noch zu Beginn des Termins. Zweck der Aushändigung des Haftantrages ist es, den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zu wahren. Die Aushändigung soll sicherstellen, dass sich der Betroffene zu sämtlichen (tatsächlichen und rechtlichen) Angaben der die Haft beantragenden Behörde äußern kann, vgl. BGH Beschluss vom 21.07.2011 – V ZB 141/11. Es soll dem Betroffenen dadurch ermöglicht werden, sich gegenüber dem Haftantrag der Behörde zu verteidigen, vgl. BGH Beschluss vom 04.03.2010 – V ZB 222/09. Diese Rechte sind gewahrt, wenn – wie vorliegend – dem Betroffenen nach Feststellung der Personalien und vor Anhörung in der Sache der Haftantrag ausgehändigt wird.
43
3. Der Betroffene ist vollziehbar ausreisepflichtig. Der Betroffene ist Ausländer im Sinne des § 2 AufenthG und unterliegt nach §§ 3 und 4 AufenthG der Pass- und Aufenthaltstitelpflicht. Befreiungen von der Aufenthaltstitelpflicht nach der Aufenthaltsverordnung oder nach dem Recht der Europäischen Union liegen nicht vor. Der Betroffene verfügt über keinen gültigen Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 AufenthG. Mit Bescheid vom 31.07.2014 ordnete das Landratsamt Fr. die Ausweisung des Betroffenen unter Androhung der Abschiebung in die Türkei an (vgl. Bl. 597/612 d. Ausländerakte). Der Bescheid ist seit dem 07.01.2019 bestandskräftig (vgl. Bl. 994/1000 d. Ausländerakte).
44
Dem Beschluss stehen die geltend gemachten Verfahrensfehler nicht entgegen. Der Haftrichter hat nicht zu prüfen, ob die zuständige Behörde die Abschiebung bzw. Zurückschiebung zu Recht betreibt; denn die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden unterliegt allein der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Senat, Beschluss vom 16. Dezember 2009, V ZB 148/09, FGPrax 2010, 50 m.w.N.). Demzufolge prüft der Haftrichter die geltend gemachten gerichtlichen Verfahrensfehler nicht.
45
4. Das Amtsgericht ist auch zu Recht vom Haftgrund der Fluchtgefahr ausgegangen. Vorliegend ist der Haftgrund der Fluchtgefahr auch dargetan.
46
4.1 Das Amtsgericht hat zu Recht den erheblichen Fluchtgrund gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG angenommen. Gem. § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG wird widerleglich vermutet, wenn der Ausländer gegenüber den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden über seine Identität täuscht oder in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise und in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung getäuscht hat und die Angabe nicht selbst berichtigt hat, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität.
47
Vorliegend hat der Betroffene seinen Reispass mindestens drei Monate lang unterdrückt und hat dadurch bereits einen in der Vergangenheit geplanten Abschiebeversuch verhindert.
48
4.2 Des Weiteren liegen auch konkrete Anhaltspunkte nach § 62 Abs. 3b AufenthG für eine Fluchtgefahr im Sinne des § 62 Abs. 3. S. 1 Nr. 1 AufenthG vor.
49
Wie bereits ausgeführt hat der Betroffene seinen Reisepass über einen Zeitraum von mindestens drei Monate unterdrückt. Damit hat der Betroffene auch den Tatbestand des § 62 Abs. 3b Nr. 1 AufenthG erfüllt.
50
Darüber hinaus liegen auch konkrete Anhaltspunkte gem. § 62 Abs. 3b Nr. 3 AufenthG vor. Der Betroffene wurde vom Landgericht Landshut mit Urteil vom 07.02.2006 zu neun Jahren und neun Monaten Freiheitsentziehung verurteilt. Nach Haftentlassung kam es erneut zu einer Straftat. Der Betroffene wurde vom Amtsgericht München mit Urteil vom 13.08.2018 zu zwei Jahren und fünf Monaten Freiheitsstrafe verurteilt aufgrund unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln.
51
Unter Heranziehung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. … vom 30.04.2021, wonach bei einem Rückfall in das frühere Konsummuster bzw. einem erneuten fortgesetzten Kokain- und Heroinkonsum davon auszugehen sei, dass der Betroffene früher oder später erneut Delikte im Sinne der vergangenen Straftaten begehe, dann auch bis hin zu Körperverletzungs- und schlimmstenfalls auch Tötungsdelikte im Rahmen drogeninduzierter Psychosen, geht von dem Betroffenen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter aus. Die Kammer hat keinerlei Zweifel an den Feststellungen des Gutachters. Das Ergebnis wird in nachvollziehbarer und schlüssiger Weise dargestellt. Die Kammer schließt sich den Ausführungen des Amtsgerichts vollumfänglich an. Demnach besteht, auch wenn der Betroffene aktuell keine illegalen Substanzen zu nehmen scheint, eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter, da bei einem Rückfall mit weiteren Straftaten zu rechnen ist. Die Wiederholungsgefahr wurde durch die letzte erhebliche Verurteilung nach Haftentlassung nochmals bestätigt. Dies bestätigt die erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter eindeutig.
52
Darüber hinaus wurde der Betroffene wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt. Auch dies stellt einen konkreten Anhaltspunkt für das Vorliegen von Fluchtgefahr gem. § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG dar.
53
5. Die Freiheitsentziehung ist auch erforderlich (§§ 106 Abs. 1 AufenthG, 417 Abs. 2 Nr. 3 FamFG), weil die Abschiebung ohne Inhaftnahme des Betroffenen voraussichtlich vereitelt würde. Mildere Mittel als die Inhaftnahme sind vorliegend nicht ersichtlich.
54
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gewahrt, da kein milderes Mittel als die angeordnete Haft erkennbar ist. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist das öffentliche Interesse an der Abschiebung mit dem Freiheitsanspruch des Betroffenen abzuwiegen. Dabei überwiegt das öffentliche Interesse an der Durchsetzung der Abschiebung, da die Befürchtung besteht, dass der Betroffene sich einer Rückführung entzieht, wenn keine Sicherungshaft angeordnet wird. Damit wird die öffentliche Sicherheit und Ordnung verletzt, da der Betroffene sich bestehenden Aufenthalts- und Ausreisevorschriften widersetzt. Die Sicherungshaft ist damit zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verhältnismäßig.
55
6. Hinderungsgründe für den tatsächlichen Vollzug der Zurückweisung sind nicht ersichtlich. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Betroffene fristgerecht in die Türkei abgeschoben werden kann. Die Abschiebung ist bereits konkret geplant.
56
Die Kinder des Betroffenen sind mittlerweile volljährig. Eine unangemessene Beeinträchtigung durch den Vollzug der Haftanordnung ist vorliegend nicht gegeben.
57
7. Ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz liegt nicht vor. Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehung verlangt, dass die Behörde die Abschiebung oder Überstellung ohne vermeidbare Verzögerung betreibt und die Dauer der Sicherungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird. Ein Verstoß gegen dieses Gebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (ständige Rechtsprechung vgl. BGH Beschlüsse vom 10. Juni 2010, V ZB 205/09, Juris Rdnr. 16, BGH vom 11.07.2019 – V ZB 28/18, Juris Rdnr. 7, BGH vom 24.06.2020 – XIII ZB 9/19, Juris Rdnr. 12). Vorliegend sind keine Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot ersichtlich. Die Planung der Chartermaßnahme wurde unverzüglich nach Erlangung der Kimlik-Card wie angekündigt umgesetzt. Die Behörde führt nachvollziehbar aus, warum eine Planung vor Erlangung der Kimlik-Card nicht in Betracht kam.
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8. In Bayern ist gemäß § 62a Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG eine Einrichtung für Abschiebungshaft in Eichstätt vorhanden. Es handelt sich um eine spezielle Hafteinrichtung zur Inhaftierung von Abschiebehäftlingen. Die Anforderungen nach Art. 16 Abs. 1 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 bzw. § 62a Abs. 1 Satz 1 AufenthG sind eingehalten.
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9. Ein Einverständnis der Staatsanwaltschaft gem. § 72 Abs. 4 AufenthG ist vorliegend nicht erforderlich, da derzeit kein derartiges Verfahren gegen den Betroffenen läuft. Die genannten Strafverfahren sind vollständig abgeschlossen. Weitere Straftaten sind nicht bekannt.
60
Das Amtsgericht hat daher in verfahrensfehlerfreier Weise das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebungshaft angenommen. Sowohl dem Amtsgericht als auch dem Landgericht lagen bei der Entscheidung die Ausländerakte vor.
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Die Verfügung des Amtsgerichts Freising vom 08.05.2023, mit der die Vorlage der Akte zur Entscheidung über die Beschwerde an das Landgericht Landshut verfügt wurde, ist als Nichtabhilfe auszulegen.
62
Die beantragte Verfahrenskostenhilfe war gem. § 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO abzulehnen, weil nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen keine Erfolgsaussichten der Rechtsverteidigung bestand.
63
Der Wert des Beschwerdegegenstands folgt aus § 36 Abs. 3, § 79 Abs. 1 GNotKG.