Inhalt

VGH München, Urteil v. 03.08.2023 – 24 B 22.30821
Titel:

Asylantrag eines in Italien als subsidiär Schutzberechtigter anerkannten ehemals unbegleiteten minderjährigen Antragstellers 

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Die Bundesrepublik Deutschland darf darauf vertrauen, dass die besonderen Garantien der RL 2013/32/EU zugunsten von unbegleiteten minderjährigen Antragstellern in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union umgesetzt sind und im Einzelfall beachtet werden. Bei der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist deshalb nicht zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat im Rahmen des Verfahrens zur Zuerkennung internationalen Schutzes die zugunsten unbegleiteter minderjähriger Antragsteller vorgesehenen besonderen Garantien der RL 2013/32/EU beachtet hat. (Rn. 20 – 24)
Schlagworte:
Asylrecht, Sekundärmigration (Italien), Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, Unbegleiteter minderjähriger Antragsteller, Beachtung von besonderen Verfahrensgarantien zugunsten von Minderjährigen im Asylverfahren, unzulässiger Asylantrag, Dublin-Verfahren, subsidiärer Schutz in Italien, unbegleiteter Minderjähriger, Sekundärmigration, Verfahrensgarantien für Minderjährige, Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 30.01.2020 – Au 2 K 19.30453
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26255

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 30. Januar 2020 – Au 2 K 19.30453 – wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und gemäß § 78 Abs. 8 AsylG zugelassen.

Tatbestand

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Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig.
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Der nach seinen Angaben 1998 geborene Kläger, somalischer Staatsangehöriger, war 2013 als unbegleiteter Minderjähriger in die Italienische Republik (im Folgenden: Italien) eingereist. Dort wurde ihm ausweislich einer Mitteilung der italienischen Behörden vom 21. Oktober 2022 subsidiärer Schutz gewährt; der entsprechend erteilte Aufenthaltstitel ist am 26. Mai 2019 abgelaufen. Der Kläger hielt sich etwa 18 Monate in Italien auf und lebte dort überwiegend auf der Straße. Danach reiste er in das Königreich Schweden, das ihn 2014 nach Italien zurück überstellte. Von dort kommend reiste er im Januar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte durch seinen Vormund am 1. Juli 2015 einen Asylantrag.
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Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für ... (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 29. März 2018 als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und drohte die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da dem Kläger in Italien internationaler Schutz gewährt worden sei.
4
Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Augsburg mit Urteil vom 30. Januar 2020 ab. Die Klage sei unbegründet, weil der Asylantrag aufgrund der Anerkennung des Klägers als Schutzberechtigter in Italien zu Recht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt worden sei.
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Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung macht der Kläger geltend, dass § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf seinen Fall nicht anwendbar sei, weil er seinen Asylantrag in Deutschland vor dem 20. Juli 2015 gestellt habe. Die Rechtswidrigkeit des Bescheids ergebe sich ferner daraus, dass Italien die unionsrechtlichen Vorgaben zum Minderjährigenschutz nicht beachtet habe, insbesondere sei dem Kläger damals kein Vormund bestellt worden; er sei vielmehr als volljährig behandelt worden. Infolge dieses Verfahrensfehlers könne auch der ihm zuerkannte subsidiäre Schutz nicht als Gewährung im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG angesehen werden.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 30. Januar 2020 und den Bescheid des Bundesamtes vom 29. März 2018 aufzuheben, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, bei dem Kläger das Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Italiens festzustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
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Die Berufung sei unbegründet, der Bescheid rechtmäßig. Die vom Kläger aufgeworfenen Zweifel an der Beachtung der unionsrechtlichen Vorschriften zum Minderjährigenschutz sei jedenfalls nach erfolgter Schutzerteilung nicht mehr relevant. Verfahrensfehler müssten gegebenenfalls in Italien geltend gemacht werden.
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Auf Anfrage des Senats teilte die zuständige Zentrale Ausländerbehörde über die Landesanwaltschaft ... mit E-Mail vom 28. April 2022 mit, dass Italien erfahrungsgemäß bei Schutzberechtigten, die sich – wie der Kläger – seit längerer Zeit in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, das Europäische Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 anwenden und daher beim Kläger von einem Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik ausgehen werde.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und auf die Behördenakte sowie das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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A. Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 29. März 2018 erweist sich in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 des Asylgesetzes – AsylG – i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2022 (BGBl I S. 2817), als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Asylantrag des Klägers ist aufgrund des in Italien zuerkannten subsidiären Schutzes zu Recht als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt worden (I.). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz (AufenthG) – i.d.F. d. Bek. vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 15. August 2019 (BGBl I S. 1294) hinsichtlich Italien liegen nicht vor (II.). Die Abschiebungsandrohung und die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG begegnen keinen Bedenken (III.).
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I. Der Bescheid kann sich auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stützen. Der Anwendung der Norm steht weder der Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland (1.) noch das Europäische Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (BGBl II 1994 S. 2645, 2646) – englischer Titel: European Agreement on Transfer of Responsibility for Refugees, im Folgenden: EATRR – entgegen (2.). Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift liegen ebenfalls vor (3.), der gewährte Schutz durch Italien ist auch nicht wegen der möglichen Missachtung der besonderen Garantien der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie), die zugunsten unbegleiteter minderjähriger Antragsteller bestehen, normativ irrelevant (4.). Schließlich ist die Unzulässigkeitsentscheidung auch nicht deshalb rechtswidrig, weil der Kläger bei Rückkehr nach Italien der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union i.d.F. d. Bek. vom 12. Dezember 2007 (EU-Grundrechtecharta – GRCh, ABl C 303 S. 1) unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden (5.).
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1. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist anwendbar, auch wenn der Asylantrag des Klägers in der Bundesrepublik vor dem 20. Juli 2015 und damit vor dem in der Übergangsbestimmung des Art. 52 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensrichtlinie genannten Stichtags gestellt wurde. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie, auf den sich § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stützt, entschieden, dass es Art. 52 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensrichtlinie einem Mitgliedstaat gestattet, Unzulässigkeitsvorschriften auf noch nicht bestandskräftig beschiedene Asylanträge anzuwenden, die vor dem 20. Juli 2015 und vor dem Inkrafttreten der nationalen Bestimmung gestellt worden sind (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – Rn. 64 f., 69, 74; s. nachfolgend BVerwG, U.v. 21.4.2020 – 1 C 4.19 – juris Rn. 17).
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2. Das Europäische Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge hindert nicht die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Der Anwendungsbereich des Übereinkommens beschränkt sich schon dem Wortlaut nach auf Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Art. 1 Buchst. a EATRR) und findet daher für den Kläger keine Anwendung. Eine Erstreckung des Übereinkommens auf subsidiär Schutzberechtigte ist auch nicht unionsrechtlich veranlasst, da es nicht Teil des Sekundärunionsrechts, sondern ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Staaten ist, dem der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zukommt (vgl. ausführlich VGH BW, U.v. 29.3.2022 – 11 S 1142/21 – juris Rn. 44; s.a. Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand April 2023, § 35 AsylG Rn. 6b). Im Übrigen ist obergerichtlich geklärt, dass die Zustimmung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EATRR zumindest voraussetzt, dass eine stillschweigende Billigung des Zweitstaates für den dauerhaften Aufenthalt vorliegt. Solch eine stillschweigende Billigung kann nicht aus der rein verfahrensakzessorischen Gestattung des Aufenthalts während des laufenden Asylverfahrens nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG hergeleitet werden, die unmittelbar kraft Gesetzes eintritt (vgl. BayVGH, B.v. 3.12.2019 – 10 ZB 19.34074 – juris Rn. 8 m.w.N.). Jedenfalls daran fehlt es mit Blick auf den Kläger.
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3. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen vor. Dem Kläger wurde durch Italien als Mitgliedstaat der Europäischen Union subsidiärer Schutz und damit internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt; dies ergibt sich unmittelbar aus der Mitteilung der italienischen Behörden an das Bundesamt vom 21. Oktober 2022 (Bl. 39 GA: „he was granted a residence permit for ‚Subsidiary‘“). Da die italienischen Behörden damit erkennbar davon ausgehen, dass sie dem Kläger wirksam Schutz gewährt haben, kommt es nicht darauf an, ob etwa eine etwaige Missachtung von Vorschriften zum Minderjährigenschutz nach italienischem Verfahrensrecht Zustellungs- oder andere Wirksamkeitsmängel begründen könnte. Der Senat geht davon aus, dass – wie es das Unionsrecht in Art. 19 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl Nr. L 337 S. 9, ber. ABl 2017 Nr. L 167 S. 58, im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie) verlangt – der Schutzstatus nicht ohne individuelle Prüfung, mithin nicht ohne Widerrufsverfahren entzogen wird (vgl. die – in englischer Sprache verfügbaren – Ausführungen zum Widerrufsverfahren auf den Seiten des italienischen Innenministeriums, abrufbar unter https://asylum-coll.dlci.interno.it/en/protezione-in-italia/procedura-di-revoca). Die von Italien im gleichen Schreiben mitgeteilte Befristung bis zum 26. Mai 2019 bezieht sich (nur) auf die Aufenthaltserlaubnis (Bl. 39 GA: „The residence permit is expired on 26/05/2019“). Aber auch wenn der Kläger seinen Schutzstatus im Zusammenhang mit dem Ablauf seines Aufenthaltstitels zwischenzeitlich verloren haben sollte, wäre er als in diesem Zeitpunkt jedenfalls Volljähriger so zu behandeln, als bestünde der Schutzstatus fort, weil dessen Verlust in diesem Fall auf seinen Willensentschluss zurückzuführen wäre. Es wäre mit dem Zweck der Norm nicht vereinbar, wenn der Kläger durch dieses freiwillige Handeln der Beklagten die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unmöglich machen könnte (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 20.4.2023 – 24 ZB 23.30078 – juris Rn. 16 f.).
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4. Der Bescheid der Beklagten ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil die italienischen Behörden nach Angaben des Klägers seine damalige (vom Bundesamt allerdings bezweifelte) Minderjährigkeit übergangen und infolgedessen die besonderen Garantien nach der Verfahrensrichtlinie (vgl. Art. 25) nicht beachtet haben sollen. Eine weitere Aufklärung, ob dies tatsächlich der Fall war, etwa durch Anforderung und Übersetzung der italienischen Verfahrensakten, war für den Senat nicht veranlasst.
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a) Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie zählt abschließend die Konstellationen auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten dürfen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2020 – C-564/18 – juris Rn. 29 ff.). Zu diesen Situationen gehört die Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat (Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie), es genügt insoweit die Gewährung von subsidiärem Schutz, auch wenn der Drittstaatenangehörige Flüchtlingsschutz erstrebt.
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b) Es besteht kein Grund, die durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie bewirkte und gewollte Lockerung der andernfalls bestehenden Pflicht, Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes inhaltlich zu prüfen, für den Fall der Minderjährigkeit eines Antragstellers generell zurückzunehmen und die Mitgliedstaaten für verpflichtet zu halten, zu prüfen, ob im jeweiligen asylrechtlichen Verfahren in Italien die besonderen Garantien für Minderjährige eingehalten worden sind.
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aa) Schon der Wortlaut differenziert nicht zwischen Erwachsenen und Minderjährigen. Außerdem könnten andernfalls die mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie verfolgten Regelungszwecke bei minderjährigen Antragstellern von vornherein nicht erreicht werden. Weder würden Verwaltungsressourcen der Mitgliedsstaaten geschont (vgl. EG 36 Verfahrensrichtlinie) noch Sekundärmigrationsbewegungen verhindert (kein „forum shopping“: siehe jeweils den Erwägungsgrund 13 der Anerkennungs- und der Verfahrensrichtlinie, vgl. dort zudem EG 44 Satz 3; zum Ganzen auch O´Brien in Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 18 Rn. 13; Progin-Theuerkauf in Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 20 Rn. 37; zu den Vorgänger-Richtlinien EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – juris Rn. 79). Darüber hinaus wäre eine Bereichsausnahme für minderjährige Antragsteller nicht mit der grundlegenden Prämisse des Unionsrechts vereinbar, wonach jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt und deshalb das gegenseitige Vertrauen darauf besteht, dass das Unionsrecht – auch das Sekundärunionsrecht – wechselseitig beachtet wird (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 27 f.). Selbst ein erwiesener Verstoß gegen eine Vorschrift des Unionsrechts, die Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ein materielles Recht verleiht, hindert die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht an einer Unzulässigkeitsentscheidung (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 36). Entsprechend kommt es nicht auf die verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit des konkreten Asylverfahrens an.
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bb) Dieses Ergebnis harmoniert auch mit dem Konzept des Minderjährigenschutzes im Unionsasylrecht. So billigt die Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl Nr. L 180 S. 31, ber. ABl 2017 Nr. L 49 S. 50, im Folgenden: Dublin III-Verordnung), die ebenfalls der Sekundärmigration vorbeugen will (vgl. EuGH, U.v. 1.8.2022 – C-720/20 – juris Rn. 42; EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17 – juris Rn. 77), einem unbegleiteten Minderjährigen ein auf die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates gerichtetes Wahlrecht nach Maßgabe von Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO zu. Damit soll sichergestellt werden, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht unsachgemäß in die Länge zieht und auf diese Weise ein rascher Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft gewährt wird (vgl. EuGH, U.v. 6.6.2013 – C-648/11 – juris Rn. 61 zur Dublin II-Verordnung). Ein Zuständigkeitswechsel nach Begründung der Zuständigkeit ist hingegen nicht vorgesehen – weder während des durch den Mitgliedstaat durchgeführten Verfahrens noch nach Ablehnung des Antrags. Für den letztgenannten Fall hat der Europäische Gerichtshof explizit entschieden, dass die bestehenden Unzulässigkeitstatbestände verhindern, dass der unbegleitete Minderjährige „anschließend einen anderen Mitgliedstaat zur Prüfung eines Asylantrags zwingen“ kann (EuGH, U.v. 6.6.2013 – C-648/11 – juris Rn. 63 zur Dublin II-Verordnung). Die unionrechtskonforme Durchführung des konkreten Asylverfahrens ist für den Gerichtshof bislang keine Voraussetzung gewesen und kann es wegen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens auch nicht sein. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, wenn auch nach einer positiven Entscheidung über den gestellten Asylantrag eines unbegleiteten Minderjährigen ein Wechsel der Zuständigkeit nicht mehr möglich ist, mithin bei erneuter Antragstellung eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie bzw. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG möglich bleibt.
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c) Es besteht ferner kein Anlass, den Gedanken der Funktionsstörung, mit dessen Hilfe die Vermutung der Beachtung des Unionsrechts erschüttert werden kann, auf die vorliegende Fallgestaltung zu übertragen. Anerkannt ist, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, sich auf den Unzulässigkeitstatbestand des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie zu stützen, wenn systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen und es im Hinblick auf diese Schwachstellen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 31). Während Art. 4 GRCh ein absoluter Charakter zukommt, der eine Abweichung vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens rechtfertigen kann, ist dies bei anderen Grundrechten nicht der Fall. Deren Verletzung hindert eine Unzulässigkeitsentscheidung nicht. Ausdrücklich hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 7 und Art. 24 GRCh, die insbesondere den sekundärrechtlichen Minderjährigenschutz prägen, kein mit Art. 4 GRCh vergleichbarer absoluter Charakter beizumessen ist (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 36; s. a. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 92 für den Fall eines möglichen Verstoßes gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie, die nicht zu einer Verletzung von Art. 4 GRCh führen; ebenso BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16).
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Infolgedessen könnten selbst systemische Schwachstellen im Bereich des verfahrensrechtlichen Minderjährigenschutzes in Italien – für die der Senat keine Anhaltspunkte hat – für die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nur relevant sein, wenn dadurch die Betroffenen zugleich im Sinne von Art. 4 GRCh unmenschlich oder erniedrigend behandelt worden sind. Dies ist vorliegend nicht ersichtlich. Im Ergebnis darf die Bundesrepublik daher darauf vertrauen, dass die unionsrechtlichen Verfahrensgarantien zugunsten von Minderjährigen im italienischen Recht umgesetzt und im Einzelfall beachtet worden sind.
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5. Der Unzulässigkeitsentscheidung gegenüber dem – inzwischen unstreitig volljährigen – Kläger steht vorliegend auch nicht Art. 4 GRCh deshalb entgegen, weil ihn bei Rückkehr Lebensverhältnisse erwarten würden, die für ihn mit der Gefahr verbunden wären, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 31; ausführlich jüngst BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 20 ff.). Wegen § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG kommt es entgegen des klägerischen Vortrags nicht in Betracht, bei der gebotenen Beurteilung der Lage in Italien, zu unterstellen, der Kläger sei noch minderjährig.
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Für volljährige, anerkannt schutzberechtigte Personen, die nach Italien zurückkehren sollen und erwerbsfähig sowie alleinstehend sind, ist nach Rechtsprechung des Senats derzeit nicht davon auszugehen, dass die Aufnahmebedingungen in allgemeiner Hinsicht regelhaft Schwachstellen aufweisen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung von Art. 4 GRCh führen, auch wenn sie keinen Anspruch auf Unterbringung im Rahmen des Zweitaufnahmesystems „Sistema Asilo Integrazione“ (SAI) haben. Da der Kläger zu dieser Personengruppe gehört, wird entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO bzw. entsprechend § 77 Abs. 3 AsylG (vgl. insoweit BVerwG, B.v. 30.11.1995 – 4 B 248.95 – juris Rn. 7 f.; OVG NW, B.v. 23.1.2020 – 9 A 950/19.A – Rn. 8) auf die den Beteiligten bekannte Einschätzung und Beurteilung des Senats im Urteil vom 25. Mai 2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 20 ff. verwiesen.
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II. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch hinsichtlich seiner Nummer 2 rechtmäßig. Nationale Abschiebungsverbote nach Maßgabe des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen nicht. In der Person des Klägers liegen keine Gründe vor, die zu einer von der allgemeinen Lage für nach Italien zurückkehrende international Schutzberechtigte abweichenden Beurteilung führen und seiner Abschiebung nach Italien entgegenstehen könnten.
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1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der im deutschen Recht im Rang eines Bundesgesetzes geltenden Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts umfasst der Verweis auf die Konvention lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 35). Mit Blick auf den Zweck der Konvention, grundsätzlich Rechte und Freiheiten innerhalb des eigenen Machtbereichs der Vertragsstaaten selbst zu sichern (vgl. BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34.99 – juris Rn. 8), kommt als ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis meist nur die Gefahr der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK in Betracht. Es ist geklärt, dass die im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen müssen (vgl. EGMR (GK), U.v. 13.12.2016 – Paposhvili/Belgien, Nr. 41738/10, NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – NVwZ 2017, 691 Rn. 68).
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Bei der Prüfung, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung als Folge schlechter Lebens- und Rückkehrbedingungen droht und deshalb ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht, kommt es maßgeblich darauf an, wie sich die – bei der Prüfung der Unzulässigkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – allgemein festgestellten Aufnahmebedingungen im Lichte der jeweils individuellen Umstände und persönliche Besonderheiten des konkreten Klägers (im Falle seiner Rückkehr) auswirken werden. Denn die Frage nach einem nationalen Abschiebungsverbot kann nicht allein aufgrund der Umstände in einem Mitgliedstaat, sondern nur in der Auswirkung dieser Umstände auf den konkret Betroffenen beurteilt werden.
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2. Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es ist weder ersichtlich noch wurde vorgetragen, dass bei dem Kläger besondere individuelle Umstände bestehen, die in seinem konkreten Fall dazu führen, dass abweichend von den allgemeinen Feststellungen eine Verletzung von Art. 3 EMRK hinreichend wahrscheinlich erscheint.
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3. Da der Kläger im Wesentlichen gesund ist – seine vormalige Tuberkuloseerkrankung ist inzwischen ausgeheilt (vgl. Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 3.8.2023, S. 2) – kommt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von vorherein nicht in Betracht.
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III. Auch die Nummern 3 und 4 des Bescheids vom 29. März 2018 sind rechtmäßig. Die Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG ist nicht zu beanstanden. Selbst bei Annahme eines Verantwortungsübergangs nach dem Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge auch im Falle der Gewährung von subsidiärem Schutz läge ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis vor, das in den Regelungsbereich des § 60a AufenthG und in die Zuständigkeit der Ausländerbehörden fallen würde und keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung hätte (vgl. OVG RhPf, B.v. 18.8.2022 – 13 A 10044/21.OVG – juris Rn. 14 f.; BayVGH, B.v. 3.12.2019 – 10 ZB 19.34074 – juris Rn. 6). Gegen die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2, § 75 Nr. 12 AufenthG bestehen ebenfalls keine Bedenken.
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B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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C. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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D. Die Revision ist nach Maßgabe des § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG als sogenannte „Tatsachenrevision“ zuzulassen, da der Senat im Rahmen der Überprüfung der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien von deren Beurteilung durch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A – juris) abweicht.
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Ferner lässt der Senat die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, weil die Frage, ob eine Missachtung von dem Minderjährigenschutz dienenden Vorschriften des Unionsrechts bei einer Unzulässigkeitsentscheidung durch das Bundesamt zu ermitteln ist und gegebenenfalls einer Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entgegensteht, grundsätzliche Bedeutung aufweist.