Titel:
Einfügen eines gewerblichen Schulungs- bzw. Seminargebäudes im allgemeinen Wohngebiet
Normenkette:
BauNVO § 4 Abs. 3 Nr. 2
Leitsätze:
1. Die Auswirkungen eines einem Gewerbebetrieb zuzurechnenden Verkehrs können auch unabhängig davon, ob die im Betrieb selbst vorgenommenen Arbeiten gebietsunverträgliche Störungen verursachen, bereits für sich allein die Schwelle zur Störung überschreiten. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine gewerbliche Schulungs- und Seminarstätte, in der jeweils bis zu 30 Personen gleichzeitig geschult werden können, löst bereits durch den Zu- und Abgangsverkehr Störungen aus, die eine gebietsunverträgliche Unruhe in ein allgemeines Wohngebiet bringen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einfügen eines gewerblichen Schulungs- bzw. Seminargebäudes im allgemeinen Wohngebiet, Gebietserhaltungsanspruch, sonstiger nicht störender Gewerbebetrieb, Zu- und Abfahrtsverkehr, Parkplatzsuchverkehr, Gebietsunverträglichkeit, Eilbedürftigkeit, Baufortschritt
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 03.05.2023 – M 9 SN 22.3495
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26252
Tenor
I. Unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 3. Mai 2023 (M 9 SN 22.3495) wird die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Baugenehmigung des Antragsgegners vom 29. Dezember 2021 (Az. 51/602 1-2021-1050-B) angeordnet.
II. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen haben der Antragsgegner und die Beigeladene jeweils zur Hälfte zu tragen.
III. Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf jeweils 7.500 € festgesetzt.
Gründe
1
Die zulässige Beschwerde ist in Ansehung des Beschwerdevorbringens (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO) begründet.
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1. Nach § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eines Nachbarn die nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO und § 212a Abs. 1 BauGB zunächst ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung anordnen, wobei es insoweit inhaltlich eine eigene Ermessensentscheidung trifft, die sich in erster Linie an den Hauptsacheerfolgsaussichten orientiert.
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2. Im hier zu entscheidenden Fall wird die Hauptsacheklage nach Ansicht des Senats entgegen der Meinung des Erstgerichts voraussichtlich Erfolg haben, da der sogenannte Gebietserhaltungsanspruch des Antragstellers verletzt sein dürfte. Dieser gibt einem Grundstückseigentümer in einem wie hier durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung unzulässige Vorhaben – unabhängig von spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigungen – zur Wehr zu setzen (BVerwG, U. v. 16.09.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151; BayVGH, B.v. 21.3.2023 – 2 ZB 22.639 – juris). Festgesetzt ist ein allgemeines Wohngebiet. Die streitgegenständliche Baugenehmigung wurde für den Neubau eines Seminarhauses mit Tiefgarage erteilt. Dieses hat eine Grundfläche von ca. 384 m² und verfügt in zwei Geschossen unter anderem über mehrere Seminar- und Behandlungsräume, Küche, Esszimmer sowie zehn Beherbergungszimmer für die Teilnehmer. Das Gebäude soll an sieben Tagen die Woche mit bis zu 30 Teilnehmern betrieben werden. In erster Linie sollen Seminare zu kosmetischen und gesundheitlichen Themen sowie Kochkurse für Mitarbeiter der Betreiberin, aber auch für externe Teilnehmer gegen Gebühr angeboten werden.
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Mit dem Erstgericht ist davon auszugehen, dass eine (ausnahmsweise) Zulässigkeit des Vorhabens nach der Art der baulichen Nutzung im allgemeinen Wohngebiet allenfalls als sonstiger nicht störender Gewerbebetrieb nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO in Betracht kommt. Ein gewerbliches Schulungs- und Seminargebäude, wie es hier zur Genehmigung gestellt ist, ist aber bei der nach den Baugebietsvorschriften der Baunutzungsverordnung gebotenen typisierenden Betrachtungsweise (vgl. BVerwG, U. v. 18.11.2010 – 4 C 10.09 – BVerwGE 138, 166) in einem allgemeinen Wohngebiet weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig (§ 4 Abs. 2 u. 3 BauNVO; so auch VGH Mannheim, U. v. 2.11.2016 – 5 S 2291/15 – BauR 2017, 220). Aus § 13 BauNVO ergibt sich nichts anderes, weil in einem Wohngebiet für die aufgeführten freiberuflichen Tätigkeiten nur Räume, nicht aber ganze Gebäude zulässig sind.
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Ein Gewerbebetrieb stört nur dann nicht im Sinne des § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO, wenn er im Sinne von § 4 Abs. 1 BauNVO gebietsverträglich ist; maßgebend für die Gebietsverträglichkeit sind wiederum alle mit der Zulassung des Betriebs nach seinem Gegenstand, seiner Struktur und Arbeitsweise typischerweise verbundenen Auswirkungen auf die nähere Umgebung (vgl. BVerwG, B. v. 25.03.2004 – 4 B 15.04 – juris). Zu diesen Auswirkungen gehört je nach der Art des zuzulassenden Gewerbebetriebes auch der mit ihm regelmäßig verbundene Zu- und Abfahrtsverkehr sowie die von ihm bewirkten Geräusch- und sonstigen Immissionen (BVerwG, U. v. 25.11.1983 – 4 C 64.79 – BVerwGE 68, 207). Dabei können die Auswirkungen des dem Betrieb zuzurechnenden Verkehrs auch unabhängig davon, ob die im Betrieb selbst vorgenommenen Arbeiten gebietsunverträgliche Störungen verursachen, bereits für sich allein die Schwelle zur Störung überschreiten (VGH Mannheim, U. v. 2.11.2016 – 5 S 2291/15 – BauR 2017, 220).
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Die Gebietsunverträglichkeit der im hier zu entscheidenden Fall genehmigten gewerblichen Schulungs- und Seminarstätte ergibt sich daraus, dass sie aufgrund der vorgehaltenen Räumlichkeiten (Schulungs-, Übungs-, Koch-, Speise- und Beherbergungsräume), in denen jeweils bis zu 30 Personen gleichzeitig geschult werden können, keine kleine Schulungsstätte mehr darstellt. Damit dient sie auch nicht mehr der Versorgung des Gebiets, was zwar kein direktes Ausschlusskriterium darstellt, aber auf ein überörtliches Einzugsgebiet hindeutet. Hierfür spricht auch die ausdrückliche Erstreckung auf externe Teilnehmer. Hierdurch werden bereits durch den Zu- und Abgangsverkehr Störungen ausgelöst, die eine gebietsunverträgliche Unruhe in das Wohngebiet bringen. Außer dem – auch am Wochenende – auf die Morgen- und Abendstunden konzentrierten An- und Abgangsverkehr, der typischerweise – proportional zur Teilnehmerzahl – durch die An- und Abfahrt zahlreicher Kraftfahrzeuge gekennzeichnet ist, muss auch während der Mittagspausen mit weiteren Fahrzeugbewegungen gerechnet werden, auch wenn teilweise eine Verpflegung im Seminargebäude angeboten wird. In diesem Zusammenhang ist auch mit einem nicht unerheblichen Parkplatzsuchverkehr zu rechnen, da nach den genehmigten Plänen Stellplätze noch nicht einmal für die Hälfte der Seminarteilnehmer vorhanden sind. Hinzukommen die mit einem Schulungsablauf typischerweise verbundenen Störungen in den Pausen, die erfahrungsgemäß – gerade bei schönem Wetter – trotz möglicherweise vorhandener Pausenräume auch im Freien stattfinden. Etwaige lärmbeschränkende Auflagen in der Genehmigung stehen dieser Wertung nicht entgegen. Der Ausgleich der in einem Gebiet zulässigen Nutzungen soll nach den Vorstellungen des Verordnungsgebers ohne ständige Überwachung stark individualisierter, gleichsam maßgeschneiderter Baugenehmigungen, sondern von vorneherein durch die Beschränkung auf die den Gebietscharakter typischerweise wahrenden Vorhaben erfolgen. Damit sollen Konflikte und Spannungen, die auftreten, wenn „typischerweise“ gebietsunverträgliche Betriebe im Einzelfall durch maßgeschneiderte Baugenehmigungen erst an ihre Umgebung angepasst werden müssen oder wenn sie ein zukünftiges Störpotential in sich tragen, das einer ständigen, nur schwer praktikablen Überwachung bedarf, vermieden werden (vgl. BayVGH, U. v. 8.3.2013 – 15 B 10.2922 – juris).
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Soweit Erstgericht, Antragsgegner und die Beigeladene die Gebietsverträglichkeit mit dem Hinweis auf die auch mit allgemein zulässigen Nutzungen verbundenen Störwirkungen zu begründen versuchen, geht dies fehl. Denn solche Störungen sind nach dem Willen des Verordnungsgebers im Rahmen der gebietsbezogenen Versorgung hinzunehmen (vgl. VGH Mannheim, U. v. 8.11.2013 – 5 S 3218/11 – juris) und daher in einem allgemeinen Wohngebiet üblich (BVerwG, B. v. 7.9.1995 – 4 B 200.95 – NVwZ-RR 1996, 251). Bei der gebotenen typisierenden Betrachtungsweise kommt es im Übrigen auch sonst nicht entscheidend auf die Umgebung an, in die ein Betrieb gestellt ist, zumal sich umgebende Anlagen hinsichtlich der von ihnen ausgehenden Störungen und Belästigungen jederzeit ändern können (Fickert/Fieseler, BauNVO, 13. Aufl. 2018, Vorbem. §§ 2 – 9 Rn. 9).
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3. Vor diesem Hintergrund ist von deutlich überwiegenden Hauptsacheerfolgsaussichten der Anfechtungsklage des Antragstellers auszugehen, was für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung spricht. Hiergegen kann nicht eingewandt werden, dass aufgrund des mittlerweile eingetretenen erheblichen Baufortschritts keine Eilbedürftigkeit mehr bestünde. Im Gegenteil zeigt die Praxis, dass eine wie auch immer geartete Rückgängigmachung von vor Bestandskraft der Baugenehmigung begonnenen Vorhaben umso schwieriger durchzusetzen ist, je weiter die Realisierung fortgeschritten ist. Unabhängig hiervon hängt die Unzulässigkeit des Vorhabens im allgemeinen Wohngebiet auch von der Ausübung der konkret geplanten Nutzung ab, die noch nicht begonnen hat.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 159 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf 52 Abs. 1 VwGO i.V.m. den Nrn. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).