Titel:
Ausweisungsverfügung gegen russischen Staatsbürger nach strafrechtlicher Verurteilung wegen Drogenhandels rechtmäßig
Normenketten:
GG Art. 6
EMRK Art. 8 Abs. 1
StGB § 56 Abs. 1, Abs. 2
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1b, Nr. 4, § 55 Abs. 1, Abs. 2
VwGO § 117 Abs. 5
Leitsätze:
1. Die Bezugnahme in den Entscheidungsgründen auf eine zwischen denselben Beteiligten ergangene andere Entscheidung desselben Gerichts zur Vermeidung von Wiederholungen, kann - selbst wenn bei der Bezugsentscheidung der Maßstab einer summarischen Prüfung gegolten hat - der Prozessökonomie dienen und ist nach dem Rechtsgedanken des § 117 Abs. 5 VwGO zulässig, sofern das Gericht bei der Bezugnahme deutlich macht, dass es sich die rechtlichen Erwägungen zu eigen macht und weiter daran festhält. (Rn. 12 – 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der von einem Verwaltungsgericht bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen eigenständig zu treffenden Prognose zur Wiederholungsgefahr bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die Gerichten allgemein zugänglich sind. (Rn. 15 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung durch das Strafgericht hat keinen Einfluss darauf, dass im Zusammenhang mit dem Handel mit Marihuana das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 1b AufenthG erfüllt ist. (Rn. 17 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
4. Kommen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte im Rahmen der ihnen obliegenden aufenthaltsrechtlichen Prognose zu einer von tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen des Strafgerichts abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr, bedarf es hierfür einer substantiierten, dh eigenständigen Begründung. (Rn. 23 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
5. Ein Ausländer kann kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bzw. schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG in Anspruch nehmen, wenn seine Aufenthaltserlaubnis infolge der Kündigung des Arbeitsverhältnisses gem. § 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erloschen ist. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
6. Das Ausweisungsrecht dient nicht der Resozialisierung des von der Ausweisung Betroffenen. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Drogenhandel, Bewährungsstrafe, Bleibeinteresse, Verwurzelung, Resozialisierung, Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Betäubungsmittelhandel, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Gefahrenprognose
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 07.09.2022 – AN 5 K 21.891
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26248
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 10.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts bleibt ohne Erfolg.
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1. Mit seinem Antrag auf Zulassung wendet sich der Kläger (ein am 9.11.1997 geborener russischer Staatsangehöriger, am 15. April 2014 gemeinsam mit seiner Mutter mit einem Visum zur Familienzusammenführung erstmals in das Bundesgebiet eingereist, am 11.7.2014 wieder ausgereist, am 5.9.2014 erneut zum Zweck der Teilnahme an einem Deutschkurs eingereist, der im Mai 2015 einen Integrationskurs mit Erfolg beendete sowie den Nachweis deutscher Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1 erbrachte, im Jahr 2018 eine Berufsausbildung zum Fliesen-, Platten- und Mosaikleger erfolgreich mit der Gesellenprüfung abschloss, dem ab 7.4.2015 fortlaufend Aufenthaltserlaubnisse erteilt wurden <zuletzt mit einer Gültigkeitsdauer bis 31.10.2021 für die qualifizierte Beschäftigung als Fliesenleger mit der auflösenden Bedingung des Erlöschens der Aufenthaltserlaubnis innerhalb von vier Wochen bei Beendigung oder Abbruch der Berufstätigkeit bzw. sofort bei Bezug von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII>, der mit rechtskräftig gewordenem Urteil des Amtsgerichts A. vom 15.12.2020 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wurde <dem lag zugrunde, dass der Kläger im Zeitraum zwischen September 2019 und März 2020 mehrmals Mengen von jeweils mindestens 100 Gramm Marihuana sowie am 20.3.2020 1180 Gramm Marihuana gewinnbringend weiterveräußert hatte>, wobei die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde <Bewährungszeit drei Jahre>, und der sich vom 25.7.2020 bis zu seiner Verurteilung am 15.12.2020 in Untersuchungshaft befand <in deren Verlauf sein Arbeitsverhältnis am 20.8.2020 in der Probezeit durch Kündigung des Arbeitgebers beendet wurde> und der am 20.12.2020 die Beklagte per E-Mail unter Übersendung eines neuen Arbeitsvertrags um einen Termin zur Vorsprache bat <welches die Beklagte als Antrag auf Aufenthaltserlaubniserteilung wertete>) gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 7. September 2022, mit welchem seine Klage auf Aufhebung des Bescheids des Landratsamtes W. vom 22. März 2021 sowie auf Verpflichtung der Beklagten zur Aufenthaltserlaubniserteilung abgewiesen wurde. Mit dem genannten Bescheid wurde der Kläger nach erfolgter Anhörung aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziffer 1 des Bescheides), gegen ihn ein auf fünf Jahre ab dem Tag der nachweislichen Ausreise bzw. Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen (Ziffer 2), sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt (Ziffer 3), der Kläger aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen ab Vollziehbarkeit des Bescheids zu verlassen (Ziffer 4) sowie für den Fall der nicht fristgerecht erfolgenden Ausreise die Abschiebung des Klägers nach Russland oder in einen anderen zu seiner Übernahme verpflichteten oder bereiten Staat angedroht (Ziffer 5).
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Zur Begründung der Klageabweisung nahm das Verwaltungsgericht auf seinen Beschluss im Prozesskostenhilfeverfahren vom 1. Juli 2022 sowie auf den angefochtenen Bescheid Bezug und führte ergänzend aus, dass der Kläger auch zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt seine deutsche Lebensgefährtin (noch) nicht geheiratet habe, sodass es mit der vorgenommenen Abwägung – insbesondere mangels besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG – sein Bewenden habe. In dem genannten Beschluss hatte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, nach dem persönlichen Verhalten des Klägers müsse mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Bei dem abgeurteilten Betäubungsmitteldelikt handele es sich um eine schwerwiegende Straftat, die typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sei, was insbesondere für den illegalen Handel mit Betäubungsmitteln gelte. Auch sei aus der Entwicklung des Klägers nach der Anlassverurteilung (noch) nicht darauf zu schließen, dass seine durch die begangene Straftat indizierte Gefährlichkeit beseitigt sei. Zwar habe der Kläger in der Untersuchungshaft erstmals einen Hafteindruck erhalten und sich in der Justizvollzugsanstalt sowie während seiner bisherigen Bewährungszeit beanstandungsfrei geführt. Angesichts der schützenden und überwachten Verhältnisse während der Haft und des erheblichen Wohlverhaltensdrucks komme einem dort gezeigten regelgerechten Verhalten jedoch keine wesentliche Indizwirkung hinsichtlich eines zukünftig straffreien Verhaltens zu. Ebenfalls nicht zu beanstanden sei, dass der Beklagte die Ausweisung darüber hinaus auf generalpräventive Erwägungen gestützt habe. Der Kläger habe schwerwiegend gegen die Rechtsordnung verstoßen; es sei sachgerecht, diesem Umstand mit einer auch generalpräventiv motivierten Ausweisung zu begegnen. Zu Recht führe der Beklagte aus, dass ein gewichtiges öffentliches Interesse an der konsequenten ausländerrechtlichen „Würdigung“ von Betäubungsmitteldelikten bestehe, um anderen Ausländern deutlich vor Augen zu führen, dass das gezeigte Verhalten nicht hingenommen werde und zur unverzüglichen Aufenthaltsbeendigung mit allen rechtlichen Konsequenzen führe. Die nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergebe, auch unter Berücksichtigung des Art. 6 GG, des Art. 8 EMRK und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das Überwiegen des öffentlichen Interesses an seiner Ausweisung. Im Fall des Klägers liege ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Andererseits beständen keine gesetzlich normierten Bleibeinteressen gemäß § 55 AufenthG, insbesondere sei das schwerwiegende Bleibeinteresse des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG aufgrund der nicht mehr bestehenden Aufenthaltserlaubnis nicht gegeben. Die Beklagte habe in ihrer Abwägung weiterhin berücksichtigt, dass sich der Kläger seit etwa sieben (mittlerweile acht) Jahren im Bundesgebiet aufhalte, hierbei bis zum Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis sogar sechs Jahre davon rechtmäßig, und sich in dieser Zeit sprachlich, wirtschaftlich und sozial in Deutschland integriert habe. Zudem halte sich die Mutter des Klägers im Bundesgebiet auf und er beabsichtige mittlerweile das Eingehen der Ehe mit seiner (derzeitigen) Lebensgefährtin. Der Beklagte sei jedoch zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger die bestehende Begegnungsgemeinschaft mit seiner ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtigen Mutter auch in Russland fortsetzen könne; zudem habe auch die Mutter den Kläger nicht von der Begehung der Anlasstat abgehalten. Die (nichteheliche) Beziehung zu der (nunmehrigen) Lebensgefährtin sei nicht von Art. 6 GG geschützt. Eine Eheschließung werde zwar bereits angebahnt, sei aber noch nicht erfolgt. Zuletzt habe der Beklagte zutreffend ausgeführt, dass sich der Kläger aufgrund seines 16-jährigen Aufenthalts in Russland, seiner russischen Sprachkenntnisse sowie seiner dort erzielten Bildungsabschlüsse ohne größere Schwierigkeiten wieder in seinem Heimatland integrieren könne. Im Rahmen der Gesamtabwägung überwiege damit das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse am weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet. Ermessensfehler hinsichtlich der Bemessung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots seien nicht ersichtlich. Dem Kläger stehe auch kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis insbesondere nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu. Dem stehe zum einen die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegen. Weiterhin liege aufgrund des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG die allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht vor.
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Hiergegen wendet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit welchem der Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils geltend macht.
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2. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Der dargelegte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestehen nur dann, wenn der Rechtsmittelführer im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellt (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 19). Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen. Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente schlagen jedoch nach dem Rechtsgedanken des § 144 Abs. 4 VwGO nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – juris Rn. 9). Maßgeblich für die Beurteilung dieses Zulassungsgrundes ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12), so dass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 – 10 ZB 15.1804 – juris Rn. 7).
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Gemessen daran wirft der klägerische Vortrag keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils auf.
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2.1 Der Kläger trägt zur Begründung seines Zulassungsbegehrens vor, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 AufenthG als erfüllt angesehen, indem es die entsprechende Gefahrenprognose nicht ausreichend begründet habe. Bei seiner Prüfung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 AufenthG verweise das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil ausschließlich auf den Prozesskostenhilfebeschluss der Kammer vom 1. Juli 2022 (es folgt ein wörtliches Zitat aus dem genannten Beschluss des Verwaltungsgerichts). Da im Urteil keine weiteren Erwägungen angestellt würden, bedeute dies im Umkehrschluss, dass das Verwaltungsgericht zu der Frage, ob von dem Kläger eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG ausgehe und daher eine Ausweisung rechtmäßig sei, lediglich eine summarische Prüfung angestellt habe. Eine solche sei aber nicht ausreichend, um die Rechtmäßigkeit der durch den Beklagten getroffenen Verfügung zu überprüfen. Das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht von einer Wiederholungsgefahr gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG aus beziehungsweise treffe eine fehlerhafte Prognose. So lasse das angefochtene Urteil eine ausreichende Berücksichtigung des Umstandes, dass das Amtsgericht die Vollstreckung der Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt habe, vermissen. Zwar treffe es zu, dass Ausländerbehörde und Verwaltungsgerichte für die Frage der Wiederholungsgefahr nicht an die Strafaussetzungsentscheidung der Strafgerichte beziehungsweise der Strafvollstreckungskammern gebunden seien. Solchen Entscheidungen komme jedoch eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Es bedürfe daher einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden solle (m.V.a. BVerfG, B.v. 27.8.2010 – 2 BvR 130/10 – juris, Rn. 36). Eine solche substantiierte Begründung lasse das angefochtene Urteil jedoch vermissen. Nicht ausreichend berücksichtigt worden sei zudem, dass sich der Kläger seit der Verurteilung „schadlos“ halte und keine weiteren Straftaten begangen habe – mithin sich die Prognose des Strafgerichts als bisher richtig herausgestellt habe. Das Verwaltungsgericht habe im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG die Bleibeinteressen des Klägers in nicht ausreichendem Maße gewürdigt. So seien das Ausmaß der „Verwurzelung“ beziehungsweise die für den Ausländer mit einer „Entwurzelung“ verbundenen Folgen unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben sowie der Regelung des Art. 8 EMRK zu ermitteln, zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprächen, abzuwägen (m.V.a. OVG LSA BeckRS 2014, BeckRS 55103 Rn. 8). Im Rahmen der Abwägung sei auch dem Gedanken der Resozialisierung Rechnung zu tragen. Ausgehend von diesen Grundsätzen sei das Bleibeinteresse des Klägers höher zu gewichten als das öffentliche Ausweisungsinteresse. Der Kläger halte sich seit über acht Jahren in Deutschland auf. Er habe sich sprachlich und wirtschaftlich integriert. Er sei hier einer qualifizierten Beschäftigung nachgegangen und mit einer deutschen Staatsangehörigen verlobt. Seine ebenfalls in Deutschland lebende Mutter verfüge – entgegen den Ausführungen auf Seite 13 des PKH-Beschlusses – über ein Aufenthaltsrecht gemäß §§ 28 ff. AufenthG, weshalb eine Begegnungsgemeinschaft nicht in Russland fortgeführt werden könne. Zuletzt habe das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt, dass eine Ausweisung beziehungsweise etwaige Abschiebung auch dem Resozialisierungsgedanken zuwiderlaufen würde.
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2.2 Daraus ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils.
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Für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung ist – wie ausgeführt – nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.2007 – 1 C 45.06 – BVerwGE 130, 20). Nach den danach anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen erweist sich die Ausweisungsverfügung der Beklagten als rechtmäßig. Das Zulassungsvorbringen vermag die vom Verwaltungsgericht bestätigte Gefahrenprognose nicht in Frage zu stellen; es ist auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung weiterhin davon auszugehen, dass der Aufenthalt des Klägers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (§ 53 Abs. 1 AufenthG, vgl. nachfolgend 2.2.1). Das gegen die Gesamtabwägung gem. § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG des Verwaltungsgerichts gerichtete Zulassungsvorbringen rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Berufung (2.2.2). Des Weiteren ist hinsichtlich der Beurteilung des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie der weiteren Maßnahmen zu Lasten des Klägers im angegriffenen Bescheid, welche das Verwaltungsgericht als rechtmäßig beurteilt hat, kein Zulassungsgrund dargelegt (2.2.3) bzw. geltend gemacht (2.2.4).
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2.2.1 Die von dem Verwaltungsgericht angestellte Gefahrenprognose begegnet keinen ernstlichen Zweifeln.
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Mit seinem Einwand, das Verwaltungsgericht habe hinsichtlich der Gefahrenprognose lediglich auf seinen Beschluss im Prozesskostenhilfeverfahren verwiesen und damit lediglich eine summarische Prüfung angestellt, welche nicht ausreiche, um die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung (im Hauptsacheverfahren) zu überprüfen, dringt der Kläger nicht durch. Die Bezugnahme in den Entscheidungsgründen der angefochtenen Entscheidung auf eine zwischen denselben Beteiligten ergangene andere Entscheidung desselben Gerichts zur Vermeidung von Wiederholungen dient der Prozessökonomie und ist nach dem Rechtsgedanken des § 117 Abs. 5 VwGO zulässig, sofern das Gericht bei der Bezugnahme deutlich macht, dass es sich die rechtlichen Erwägungen zu eigen macht und (ggf. auch in Anbetracht einer Veränderung des zugrundeliegenden Sachverhaltes) weiter daran festhält (vgl. auch Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, § 117 Rn. 16). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können die für die gerichtliche Überzeugung leitend gewesenen Gründe auch durch eine in den Entscheidungsgründen ausgesprochene Bezugnahme auf rechtliche Erwägungen in einer – genau bezeichneten – anderen Entscheidung angegeben werden. Die in einem Urteil oder Beschluss enthaltene Bezugnahme auf rechtliche Erwägungen in einem anderen Schriftstück stellt demnach eine Form der Angabe dieser Feststellungen und Erwägungen im Urteil oder Beschluss dar (vgl. BVerwG, B.v. 27.5.1988 – 9 CB 19.88 – juris Rn. 9). Durch die Bezugnahme auf eine andere Entscheidung, die den Parteien bekannt ist, wird auch die Funktion der schriftlichen Entscheidungsgründe eines Urteils nicht beeinträchtigt, nämlich deutlich zu machen und sicherzustellen, dass das Gericht alle wesentlichen Gesichtspunkte, insbesondere das Vorbringen der Beteiligten, im Rahmen des ihnen zukommenden rechtlichen Gehörs berücksichtigt und sich mit ihnen in der gebotenen Weise auseinandergesetzt hat, dass ferner den Beteiligten die Einschätzung der Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels und dem Rechtsmittelgericht die Nachprüfung der Entscheidung ermöglicht werden. Dies alles ist auch bei einer Darlegung der maßgebenden rechtlichen Erwägungen in Form der Bezugnahme gewährleistet, sofern sich für Beteiligte und Rechtsmittelgericht aus einer Zusammenschau der Ausführungen in dem Bezug nehmenden und dem in Bezug genommenen Urteil die für die richterliche Überzeugung leitend gewesenen Gründe mit hinreichender Klarheit ergeben (vgl. BVerwG, B.v. 27.5.1988 – 9 CB 19.88 – juris Rn. 9 m.w.N.). Dem schließt sich der erkennende Senat an. Durch die Bezugnahme wird die in Bezug genommene Entscheidung – soweit die Bezugnahme reicht – Bestandteil der Entscheidungsgründe des Urteils (vgl. BayVGH, B.v. 25.7.2023 – 19 ZB 23.870 – juris Rn. 10; B.v. 25.7.2023 – 19 ZB 23.875 – juris Rn. 10, jeweils m.V.a. Clausing/Kimmel in Schoch/Schneider, VwGO, Stand August 2022, § 117 Rn. 20) und bildet zusammen mit den Ausführungen zu etwaigem neuen Vorbringen der Beteiligten beziehungsweise (ggf.) zum Ergebnis der mündlichen Verhandlung die Entscheidungsgründe im Sinne von § 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (vgl. BVerwG, B.v. 13.6.1988 – 4 C 4.88 – NVwZ-RR 1989, 334, juris <nur LS>). Im Umfang der Anfechtung und Darlegung von Zulassungs- bzw. Beschwerdegründen sind die in Bezug genommenen Rechtsausführungen damit (erneut) Gegenstand der Überprüfung durch die Rechtsmittelinstanz, womit der von Art. 19 Abs. 4 GG geforderten Effektivität des Rechtsschutzes in vollem Umfang Rechnung getragen wird. Unter solchen Umständen ist nicht ersichtlich, dass es dem Rechtsschutz dienlich wäre, wenn das Gericht gezwungen wäre, rechtliche Erwägungen zu wiederholen, welche den Beteiligten bereits in einer anderen Entscheidung hinreichend bekannt gegeben wurden.
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Diese Erwägungen gelten grundsätzlich auch für den Fall, dass für die in Bezug genommene Entscheidung – wie etwa in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes oder der Prozesskostenhilfebewilligung – der Maßstab einer summarischen Prüfung gilt, ungeachtet der Frage, inwieweit sich eine solche Beschränkung der Prüfungstiefe (zulässigerweise) auf die rechtliche Beurteilung beziehen kann (vgl. zu etwaigen Einschränkungen: Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 48, § 166 Rn. 26; Hoppe in Eyermann a.a.O., § 80 Rn. 99). Im vorliegenden Fall ist das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 1. Juli 2022 ausführlich (siehe Seite 9 bis 12 des Beschlussabdrucks) auf die Gefahrenprognose sowohl in spezial- als auch in generalpräventiver Hinsicht eingegangen. Da sich hinsichtlich der Gefahrenprognose in der mündlichen Verhandlung ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 13. Juli 2022 keine neuen Aspekte ergeben haben, war – vom Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts aus betrachtet – keine andere rechtliche Beurteilung gegenüber der Entscheidung im Prozesskostenhilfeverfahren veranlasst. Unter solchen Umständen – und in Ermangelung anderweitiger Anhaltspunkte – kann davon ausgegangen werden, dass das Verwaltungsgericht die rechtlichen Erwägungen in der in Bezug genommenen Entscheidung anhand des für das Hauptsacheverfahren geltenden Maßstabs der freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) erneut überprüft hat. Insoweit gilt gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO, dass die Entscheidungsgründe (nur) die für die richterliche Überzeugungsbildung leitenden Gründe darstellen (vgl. dazu z.B. Kraft in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 117 Rn. 19), was bei – unter Anwendung des Maßstabs des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO – unveränderter rechtlicher Beurteilung nach den oben dargestellten Grundsätzen auch durch die Bezugnahme auf eine vorgängige Entscheidung erfolgen kann. Für die gegenteilige Annahme ergeben sich vorliegend weder aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils, noch aus der vorgelegten Akte des Verwaltungsgerichts Anhaltspunkte, noch legt der Kläger solche substantiiert dar. Dass das Verwaltungsgericht sich der Notwendigkeit einer erneuten Überprüfung seiner (in dem genannten Beschluss dargelegten) Rechtsauffassung bewusst war, zeigen im Übrigen die ergänzenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zur Abwägung nach § 53 Abs. 1, 2 AufenthG, in welchen begründet wird, warum sich im Hinblick auf die – in der mündlichen Verhandlung ausweislich des Sitzungsprotokolls eingehend erörterte – Eheschließungsabsicht des Klägers keine andere Beurteilung des Bleibeinteresses ergebe (vgl. dazu 2.2.2).
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Auch im Übrigen begründen die Rügen des Klägers keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts.
15
Bei der von den Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen eigenständig zu treffenden Prognose zur Wiederholungsgefahr sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (st.Rspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn. 11 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, B.v. 3.3.2016 a.a.O.; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Gemessen daran kommt der Senat zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung mit dem Verwaltungsgericht zu der Bewertung, dass nach dem Verhalten des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass er erneut jedenfalls durch vergleichbar gravierende Delikte die öffentliche Sicherheit und Ordnung beeinträchtigen wird.
16
Bei der Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die Gerichten allgemein zugänglich sind. Gerade die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann daher grundsätzlich von den Gerichten im Wege einer eigenständigen Prognose ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden (stRspr BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20/11 – juris Rn. 23; BayVGH, B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 36; B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 7 m.w.N.). Nur ausnahmsweise bedarf es der Zuziehung eines Sachverständigen, wenn – wie hier nicht – die Prognose aufgrund besonderer Umstände – etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen – nicht ohne spezielle fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 5). Im Übrigen kann auch ein Sachverständigengutachten die Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern nur Hilfestellung bieten (BVerwG, U.v. 13.3.2009 – 1 B 20.08 – juris Rn. 5).
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Vorliegend sprechen zunächst die Schwere der begangenen Straftaten sowie der Umstand, dass es sich dabei um Betäubungsmitteldelikte handelte, für eine hinreichende Wiederholungsgefahr.
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Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten (vgl. Art. 83 Abs. 1 Unterabschnitt 2 AEUV). Die Folgen des Betäubungsmittelkonsums, insbesondere für junge Menschen, können äußerst gravierend sein. In ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris Rn. 12 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR; BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sieht in der Rauschgiftsucht ein „großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit“ (EuGH, U.v. 23.11.2010 – Rs. C-149/09, „Tsakouridis“ NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mehrfach klargestellt, dass er bei der Verurteilung eines Ausländers wegen eines Betäubungsmitteldelikts – wie hier vorliegend – in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser Plage beitragen, entschlossen durchgreifen (EGMR, U.v. 30.11.1999 – Nr. 3437-97, „Baghli“ – NVwZ 2000, 1401, U.v. 17.4.2013 – Nr. 52853/99‚ “Yilmaz“ – NJW 2004, 2147; vgl. OVG NRW, B.v. 17.3.2005 – 18 B 445.05 – juris). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang einnehmen. Rauschgiftkonsum bedroht diese Schutzgüter der Abnehmer in hohem Maße und trägt dazu bei, dass deren soziale Beziehungen zerbrechen und ihre Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 11.10.2022 – 19 ZB 20.2139 – juris Rn. 32; B.v. 14.3.2013 – 19 ZB 12.1877 und B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 8).
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Bei der Bewertung der Gefährlichkeit eines im Zusammenhang mit dem Handel mit Marihuana strafrechtlich verurteilten Ausländers – wie dem Kläger – sind überdies die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den insbesondere Jugendlichen durch den Konsum drohenden gesundheitlichen Schäden in den Blick zu nehmen (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2022 – 19 ZB 22.129 – juris). Neuere wissenschaftliche Untersuchungen belegen die dauerhafte Veränderung der Hirnstruktur und des Verhaltens bei Jugendlichen und die Erhöhung des Risikos u.a. für psychotische Störungen wie cannabisinduzierte Psychosen oder Schizophrenien sowie affektive Störungen wie Depressionen, Angststörungen, bipolare Störungen, Suizidalität (Studie Albaugh u.a. in JAMA psychiatry 2021; 78(9). 1031-1040; vgl. auch Horn/Friemel/Schneider, Abschlussbericht Cannabis. Potenzial und Risiko, Stand 11/2018, www.bundesgesundheitsministerium.de).
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Nach diesen Maßgaben hat sich der Kläger mit dem verübten Drogenhandel schwerwiegend strafbar gemacht, er wurde mit Urteil vom 15. Dezember 2020 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Das hohe Maß der Freiheitsstrafe spiegelt die Schwere der Schuld wider. Insgesamt lässt die abgeurteilte Tat des Klägers insbesondere in Anbetracht der gehandelten Menge an Marihuana und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Größenordnung (insbesondere hatte der Kläger am 20.3.2020 1180 Gramm Marihuana sowie im Zeitraum zwischen September 2019 und März 2020 mehrmals Mengen von jeweils mindestens 100 Gramm Marihuana verkauft) eine besondere kriminelle Energie erkennen, die über herkömmliche Beschaffungskriminalität weit hinausgeht.
21
Ernstliche Zweifel ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägers, das Amtsgericht habe die Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe (lediglich) zur Bewährung ausgesetzt. Denn die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung gemäß § 56 StGB durch das Strafgericht hat keinen Einfluss darauf, dass vorliegend das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 1b AufenthG erfüllt ist. Vor Inkrafttreten des Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern (BGBl. I, 394) am 17. März 2016 musste eine Strafe von „mehr als“ zwei Jahren vorliegen, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden konnte. Die jetzige Gesetzesfassung stellt eine gewollte weitere Verschärfung des Ausweisungsrechts dar (vgl. BT-Drs. 18/7537, S. 5, 7), da § 56 StGB es ermöglicht, eine Freiheitsstrafe von genau zwei Jahren noch zur Bewährung auszusetzen (Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 54 Rn. 9).
22
Ebenso wenig greift insoweit der Vortrag des Klägers im Hinblick auf die anzustellende Gefahrenprognose durch. Der Senat ist der Auffassung, dass die Entwicklung des Klägers seit der der Ausweisung zugrundeliegenden strafgerichtlichen Verurteilung vom 15. Dezember 2020 nicht darauf schließen lässt, dass die durch diese Delinquenz indizierte Gefährlichkeit des Klägers abgenommen hat oder gar beseitigt ist.
23
Dem Strafrecht und dem Ausländerrecht liegen unterschiedliche Gesetzeszwecke zugrunde (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19; B.v. 27.8.2010 – 2 BvR 130/10 – juris Rn. 36). In seinem Beschluss vom 2. Mai 2017 (19 CS 16.2466 – juris, insbesondere Rn. 8 ff.; KommunalPraxis BY 2017, 275 – Leitsatz, NVwZ 2017, 1637/1638 – Leitsatz – und ZAR 2017, 339 – Leitsatz) hat sich der Senat detailliert mit der Unterschiedlichkeit der Prognosen bei Strafrestaussetzungen und Ausweisungsentscheidungen befasst. Er hat dargelegt, dass die Rechtsordnung insoweit (hinsichtlich des Prognoserahmens) aus guten Gründen nicht einheitlich ist. Nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen ist zu berücksichtigen, dass die in diesen beiden Rechtsbereichen zu erstellenden Prognosen auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften in einem jeweils eigenen Regelungskontext gründen und deshalb an unterschiedlichen Maßstäben zu orientieren sind (systematische Auslegung, vgl. etwa Zippelius, Juristische Methodenlehre, JuS-Schriftenreihe 93, 11. Aufl. 2012, § 8 S. 36). Eine Strafaussetzung zur Bewährung trifft (wie ein Beschluss über die Aussetzung des Strafrests) zur ausweisungsrechtlichen Frage, ob der Ausländer (auch) in Zukunft eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit darstellt, keine unmittelbar verwertbare Aussage. Eine positive Entscheidung über die Straf(rest) aussetzung zur Bewährung schließt daher nicht von vornherein aus, dass im Einzelfall (schwerwiegende) Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die eine spezialpräventive Ausweisung rechtfertigen können. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an die tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen des Strafgerichts rechtlich nicht gebunden. Allerdings kommt diesen eine tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung zu. Eine Straf(rest) aussetzung stellt eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr und damit zugleich für die Erforderlichkeit der Ausweisung dar (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19; B.v 1.3.2000 – 2 BvR 2120/99 – juris Rn. 16, 18 m.w.N.; B.v. 27.8.2010 – 2 BvR 130/10 – juris Rn. 36: „tatsächliches Gewicht“ und „wesentliche Bedeutung“), wobei einer Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB ausweisungsrechtlich ein geringeres Gewicht zukommt als einer Strafaussetzung nach § 56 StGB (BVerfG, B.v. 27.8.2010 – 2 BvR 130/10 – juris Rn. 36 m.w.N.; B.v. 1.3.2000 – 2 BvR 2120/99 – juris Rn. 18).
24
Kommen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte im Rahmen der ihnen obliegenden aufenthaltsrechtlichen Prognose, insbesondere mit Blick auf den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts, zu einer von dieser Indizwirkung abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr, bedarf es hierfür einer substantiierten, d. h. eigenständigen Begründung (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19). Die Ausländerbehörde und die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit müssen bei ihrer Beurteilung der Wiederholungsgefahr der sachkundigen strafrichterlichen Prognose wesentliche Bedeutung beimessen und dürfen von ihr grundsätzlich nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abweichen (vgl. OVG Bremen, B.v. 2.2.2021 – 2 B 330/20 – juris Rn. 18).
25
Dies alles in den Blick nehmend musste das Verwaltungsgericht dem Umstand, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe vom Strafgericht gem. § 56 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt worden ist, keine ausschlaggebende Bedeutung beimessen. Zu Recht weisen das Verwaltungsgericht und der Beklagte im Übrigen darauf hin, dass dem Umstand, dass der Kläger seit seiner Verurteilung vom 15. Dezember 2020 ersichtlich unter dem Druck der offenen Bewährungsstrafe und der streitgegenständlichen Ausweisung bisher nicht mehr strafrechtlich auffällig geworden ist, kein ausschlaggebendes Gewicht zukommt. Denn die Strafaussetzung zur Bewährung erzeugt nach allgemeiner Erfahrung häufig einen hohen Legalbewährungsdruck, da die Strafaussetzung gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB widerrufen wird, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Auch erzeugt eine drohende Ausweisung häufig einen Legalbewährungsdruck, der über denjenigen einer drohenden Inhaftierung hinausgeht.
26
Gemessen daran kann im vorliegenden Fall bei der notwendigen Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände auch unter Berücksichtigung der positiven Entwicklungen nicht der Schluss gezogen werden, dass die von dem Kläger ausgehende Gefahr soweit entfallen ist, dass dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung bzw. sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr gefährdet. Die in der Vergangenheit begangenen, schwerwiegenden Straftaten des Klägers aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz führen unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger noch unter Bewährungsdruck steht, zum Fortbestehen der konkreten Gefahren für höchste Rechtsgüter:
27
Unabhängig davon, ob der Kläger selbst drogenabhängig ist (siehe zu den dann geltenden Anforderungen an die Widerlegung der Gefahrenprognose z.B. BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – juris Rn. 9; B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 7.2.2018 – 10 ZB 17.1386 – juris Rn. 10; BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 B 14.1613 – juris Rn. 32 m.w.N.) – worauf die von der Landesanwaltschaft Bayern genannte Stellungnahme einer Beratungsstelle hindeuten könnte –, kann auch bei nicht durch Drogenabhängigkeit bedingter (schwerwiegender) Strafbarkeit, solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf einen Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (vgl. BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11).
28
Hinsichtlich der (anhand der Vorgeschichte sowie den insbesondere durch das Strafgericht festgestellten Tatumständen und -motiven) erkennbaren Persönlichkeitsstruktur des Klägers ist zu dessen Gunsten zu würdigen, dass er bis zum Tatzeitpunkt trotz der mit seiner Ausreise aus dem Herkunftsland und Niederlassung im Bundesgebiet notwendig gewordenen Umstellung und Anpassung an ein anderes soziokulturelles Umfeld einen durchaus soliden, erfolgreichen Werdegang vorweisen kann. So hatte der im November 1997 geborene Kläger bereits im Herkunftsland einen qualifizierten Schulabschluss absolviert und im Anschluss daran eine Berufsschule für Innenarchitektur besucht. Im April bzw. Juli 2014, mithin im Alter von 16 Jahren, siedelte er nach Deutschland über und schloss hier erfolgreich einen Sprachkurs sowie eine Ausbildung als Fliesenleger ab. Bis zu seiner Inhaftierung arbeitete der Kläger als Fliesenleger und beabsichtigte nach den Feststellungen des Strafgerichts eine Fortbildung zum Sanierungsfacharbeiter und Trocknungsmonteur zu absolvieren. In strafrechtlicher Hinsicht ist er vor der abgeurteilten Tat nicht in Erscheinung getreten. Auch beabsichtigte der Kläger, dessen bisheriges Arbeitsverhältnis infolge der Untersuchungshaft durch den Arbeitgeber gekündigt worden war, unmittelbar nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft und noch vor dem Eintritt der Rechtskraft der strafrechtlichen Verurteilung wieder (für ein anderes Unternehmen) als Fliesenleger zu arbeiten, wozu er der Ausländerbehörde einen Arbeitsvertrag mit der Firma B. in N. vorlegte. Zu Lasten des Klägers – als Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr – ist jedoch festzuhalten, dass der Kläger sich mit seinen wiederholten Drogengeschäften und dem damit erzielten Gewinn regelmäßige Einkünfte verschaffen und damit sein Einkommen insgesamt verbessern wollte, mithin in Gewinnerzielungsabsicht handelte und seinen Profit über die Rechtsordnung sowie die durch die Drogengeschäfte gefährdeten Rechtsgüter der Allgemeinheit und der Drogenkonsumenten stellte. Des Weiteren ergibt sich eine Wiederholungswahrscheinlichkeit auch aus dem Umstand, dass der Kläger – wie er selbst unter anderem in seiner Anhörung durch den Beklagten angegeben hat – bei seinen sozialen Kontakten in die falschen Kreise geraten ist, was auf eine leichte Beeinflussbarkeit des Klägers hindeutet. Dabei handelt es sich um Indizien für eine Persönlichkeitsstruktur des Klägers, welche Kriminalität unter entsprechenden Umständen begünstigen kann, was für eine erhebliche Wiederholungsgefahr spricht. Das Amtsgericht hat bei der Strafzumessung zugunsten des Klägers insbesondere dessen vollumfassendes Geständnis (welches im Rahmen der Verständigung zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft erreicht wurde, folglich unter Strafzumessungsaspekten mit einem Vorteil für den Kläger verknüpft war) sowie den Umstand gewertet, dass es sich bei den abgeurteilten Straftaten um Geschäfte mit sog. weichen Drogen handelte. Zu Lasten des Klägers wurde jedoch berücksichtigt, dass er eine entsprechend große Gesamtmenge an Betäubungsmitteln in einer Vielzahl von Fällen in einem relativ kurzen Zeitraum weiter in den Verkehr gebracht hat. Die Gesamtstrafe von zwei Jahren wurde sodann anhand der Gesamtwürdigung von Taten und Täterpersönlichkeit sowie der Anzahl und des Ausmaßes der begangenen Taten gebildet.
29
Aus der im Ausweisungsrecht anzusetzenden gefahrenabwehrrechtlichen Perspektive ist des Weiteren zu berücksichtigen, dass gegen den Kläger weitere, durch das Amtsgericht nicht abgeurteilte Vorwürfe wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz im Raum stehen, welche durch entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte (Indizien) untermauert werden. So hat die Polizeiinspektion B. wegen eines weiteren Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz im Juni 2020 ermittelt (dem Tatblatt der Polizei zufolge war im Rucksack des Klägers im vorderen Fach in einer Blechschachtel ein Röhrchen mit 0.7 g Crystal Meth gefunden worden, der Kläger hatte angegeben, nicht zu wissen, wie das Röhrchen in seinen Rucksack gekommen war, vgl. Bl. 289 ff. der Behördenakte). Am selben Tag bewahrte der Kläger staatsanwaltlichen Feststellungen zufolge in der Wohnung eines anderweitig Verfolgten in N., nicht ausschließbar mit diesem gemeinschaftlich, wissentlich und willentlich ca. 1.500 g Amphetamin auf (vgl. Anklageschrift, Bl. 331 ff. der Behördenakte), dieser mit angeklagte Vorwurf wurde in der Hauptverhandlung – wohl im Rahmen der Verständigung – fallen gelassen. Beide Vorfälle stellen in der Gesamtbetrachtung gewichtige Indizien für das Bestehen einer Wiederholungsgefahr dar.
30
In der Gesamtschau sind damit zwar als risikomindernd die bis zur Begehung der abgeurteilten Taten unbeanstandete und nach rechtskräftiger Verurteilung bisher straffreie Führung sowie das anhand seiner persönlichen, schulischen und beruflichen Entwicklung gezeigte hohe Potential des Klägers zu sehen. Als gefahrerhöhend schlagen jedoch die genannten zahlreichen und gewichtigen Indizien zu Lasten des Klägers sowie der Umstand, dass die dreijährige Bewährungszeit seit der letzten Verurteilung vom 15. Dezember 2020 noch nicht abgeschlossen ist, zu Buche. Hinzu kommt, dass in Anbetracht des deutlich längeren Bezugszeitraumes der gefahrenabwehrrechtlichen Prognose der zu betrachtende Bewährungszeitraum von (bisher) zwei Jahren und acht Monaten zu kurz ist, um eine verlässliche positive Einschätzung abzugeben. Zusammenfassend besteht aus den dargestellten Gründen die konkrete Wiederholungsgefahr fort.
31
2.2.2 Die von dem Verwaltungsgericht bestätigte Gesamtabwägung der Beklagten gemäß § 53 Abs. 1, 2 AufenthG ist nicht zu beanstanden.
32
Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Eine schematische und allein in den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten, da gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedarf (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Der Gesetzgeber hat im Ausweisungsrecht in differenzierter Weise die Schutzwürdigkeit familiärer Bindungen ausdrücklich berücksichtigt und ihnen normativ verschieden gewichtete Bleibeinteressen zugeordnet (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG). Die Katalogisierung schließt es aber nicht aus, dass andere, nicht ausdrücklich in § 55 Abs. 1 AufenthG benannte Interessen und Umstände bei der zu treffenden Abwägungsentscheidung jeweils mit einem Gewicht einzustellen sein können, das einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse entsprechen kann (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt/Bauer, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 55 Rn. 5).
33
Nach der gesetzlichen Typisierung hat der Kläger besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG (aufgrund der Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren) verwirklicht. Auch die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung vermag das Gewicht des Ausweisungsinteresses, wie dargelegt, nicht maßgeblich zu reduzieren.
34
Dem steht schon kein gleich gewichtiges Bleibeinteresse des Klägers gegenüber.
35
Der Kläger kann kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 bzw. schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG in Anspruch nehmen, weil seine Aufenthaltserlaubnis infolge der Kündigung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erloschen ist. Des Weiteren kann der Kläger sich nicht wegen seiner Lebensgefährtin bzw. Verlobten mit deutscher Staatsangehörigkeit auf § 55 Abs. 1 Nr. 4 Var. 1 AufenthG berufen, nach dem das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer wiegt, wenn der Ausländer mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt. Die Vorschrift stellt eine einfachgesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes der Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 EU-GR-Charta und Art. 8 EMRK dar (Fleuß in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 36. Ed. Stand 1.1.2023, AufenthG § 55 Rn. 42 m.V.a.). Insbesondere Art. 6 Abs. 1 GG vermittelt in diesen Fällen zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthaltsgewährung, er verpflichtet die zuständigen Behörden in seiner Funktion als wertentscheidende Grundsatznorm jedoch, die ehelichen Bindungen des Ausländers an im Bundesgebiet lebende Personen bei der Entscheidung über den Aufenthalt entsprechend dem jeweiligen Gewicht der Beziehung angemessen zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 31.8.1999 – 2 BvR 1523/99 – juris). Verlobte sind davon jedoch ebenso wenig erfasst wie nichteheliche Lebensgefährten (Fleuß in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 36. Ed. Stand 1.1.2023, AufenthG § 55 Rn. 42 m.w.N.). Daneben stellt die Vorschrift die Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft den Ehegatten gleich (Fleuß in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 36. Ed. Stand 1.1.2023, AufenthG § 55 Rn. 47 m.w.N.), schützt jedoch nicht die Lebensgefährten im Sinne einer nicht durch das Rechtsinstitut der Ehe oder der eingetragenen Lebenspartnerschaft staatlich anerkannten, durch enge wechselseitige rechtliche Beziehungen verbundenen Partnerschaft. Derartige nicht als Rechtsinstitut anerkannte Beziehungen nehmen deshalb keinen mit einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse gleich gewichtigen Rang ein, weil sie nicht unter dem besonderen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG stehen. Auch eine nach der strafrechtlichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe (auf Bewährung) und dem Erlass der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung erfolgte Eheschließung würde das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse im vorliegenden Falle nicht überwiegen, da diese in Kenntnis der Ausweisung erfolgt wäre und den Ehegatten damit bewusst sein musste, dass sie die eheliche Lebensgemeinschaft jedenfalls für den Zeitraum des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht im Inland würden führen können. Eine Ehe ist zwar nicht deshalb weniger schutzwürdig, weil sie nach der Verwirklichung eines Ausweisungstatbestands eingegangen worden ist, dennoch darf, worauf der Beklagte zu Recht hinweist, dem Vertrauen auf die Führung der Ehe im Inland geringeres Gewicht beigemessen werden, wenn schon bei Eheschließung mit einer Ausweisung zu rechnen war (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG vor § 53 Rn. 48).
36
Des Weiteren erreicht die persönliche Beziehung des Klägers zu seiner im Bundesgebiet lebenden Mutter, die zwar im Ansatz als Beziehung zu einer nahen Verwandten in aufsteigender Linie ein gewichtiges Bleibeinteresse begründen kann, nach den konkreten Umständen des Einzelfalles nicht den erforderlichen Grad der Schutzwürdigkeit, um mit den verwirklichten Ausweisungsinteressen auf einer Stufe zu stehen oder diese zu überwiegen. Hierbei ist vor allem zu sehen, dass die Mutter des Klägers nach dem Vortrag des Beklagten vollziehbar ausreisepflichtig ist und es dem Kläger und ihr daher zumutbar ist, den persönlichen Kontakt im Herkunftsland zu pflegen. Dafür, dass die Mutter des Klägers – wie von diesem im Berufungszulassungsverfahren vorgetragen – über eine Aufenthaltserlaubnis verfügte, bestehen nach dem Akteninhalt keine Anhaltspunkte, zumal die für die Erteilung des Visums zur Familienzusammenführung im Jahr 2014 ausschlaggebende Ehe mit einem deutschen Staatsangehörigen geschieden wurde. Der Kläger hat seine dahingehenden Angaben auch nicht substantiiert. Aber auch bei Annahme eines Aufenthaltsrechtes der Mutter des Klägers im Inland kommt der persönlichen Beziehung zwischen den beiden erwachsenen, zudem nicht – etwa aufgrund Pflege- oder Betreuungsbedürftigkeit – aufeinander angewiesenen Menschen keine mit einem besonders schwerwiegenden oder schwerwiegenden Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AufenthG vergleichbare Gewichtigkeit zu. Art. 6 Abs. 1 GG gewährt nicht von vornherein einen Schutz vor Ausweisung, sondern verpflichtet dazu, die familiären Bindungen entsprechend ihrem Gewicht angemessen in die Abwägung einzustellen (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NVwZ 2013, 1207, Rn. 12). Die Beziehung zwischen sonstigen erwachsenen Verwandten ist in ihrem verfassungsrechtlichen Kern nicht auf eine Lebens- oder Haushaltsgemeinschaft, sondern in aller Regel auf eine Begegnungsgemeinschaft angelegt und kann deshalb regelmäßig durch wiederholte Besuche oder Brief- und Telefonkontakte aufrechterhalten werden (vgl. BVerfG, B.v. 18.4.1989 – 2 BvR 1169/84 – juris Rn. 42, 44). Selbst im Falle des Bestehens einer schützenswerten familiären Beziehung ist insbesondere bei besonders schweren Straftaten eine Aufenthaltsbeendigung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4).
37
Schließlich kann der Kläger gegen die Ausweisung auch nicht mit Erfolg einwenden, dass er durch seine Aufenthaltsdauer und Integration im Bundesgebiet einen Grad der Verwurzelung erreicht habe, dem eine entsprechende Entwurzelung im Herkunftsland gegenüberstehe, dass die Aufenthaltsbeendigung vor dem Hintergrund des grund- und menschenrechtlichen Schutzes des Privatlebens nach Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK unverhältnismäßig wäre. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht insoweit ausgeführt, dass sich der Kläger – trotz seiner Aufenthaltsdauer von (im Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts) mittlerweile etwa acht Jahren im Bundesgebiet, davon bis zum Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis sechs Jahren rechtmäßigen Aufenthaltes, und seiner sprachlichen, wirtschaftlichen und sozialen Integration in Deutschland in diesem Zeitraum – aufgrund seines 16-jährigen Aufenthalts in Russland, seiner russischen Sprachkenntnisse sowie seiner dort erzielten Bildungsabschlüsse ohne größere Schwierigkeiten wieder in seinem Heimatland integrieren könne.
38
Der vom Kläger ins Feld geführte Aspekt der Resozialisierung steht einer Ausweisung – weder gefahrenabwehrrechtlich noch als Bleibeinteresse in der Abwägung – entgegen (vgl. BVerwG, B.v. 14.3.2013 – 1 B 17.12 – juris Rn. 7; U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 20; BayVGH, B.v. 10.2.2022 – 19 ZB 21.2650 – juris Rn. 37 ff.). Dies gilt auch für den Umstand, dass ein Verlassen des Aufnahmestaates für die weitere Resozialisierung des Klägers möglicherweise – ohne dass dieser Gesichtspunkt näher dargelegt worden wäre – weniger günstig ist, weil das Ausweisungsrecht nicht der Resozialisierung des von der Ausweisung Betroffenen dient (vgl. BVerwG, B.v. 14.3.2013 a.a.O.; U.v. 15.1.2013 a.a.O.; BayVGH, B.v. 10.2.2022 a.a.O.).
39
Davon ausgehend hat das Verwaltungsgericht im Rahmen der Abwägung die Bleibeinteressen des Klägers zutreffend gewürdigt, ist jedoch in nicht zu beanstandender Weise in Anbetracht des Gewichts der begangenen Straftaten von einem Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses ausgegangen. Diese Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts sind nicht zu beanstanden. Selbst im Falle des Bestehens einer schützenswerten familiären Beziehung ist insbesondere bei besonders schweren Straftaten eine Aufenthaltsbeendigung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4).
40
Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 AufenthG, welche im Rahmen der Abwägung der Bleibeinteressen des Klägers zu berücksichtigen wären, da dieser keinen Asylantrag gestellt hat, werden mit dem Zulassungsvorbringen nicht geltend gemacht. Der Kläger ist insoweit auf die Möglichkeit eines Asylantrags zu verweisen (§ 13 AsylG).
41
2.2.3 Der Kläger wendet sich mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung zwar auch gegen das mit der Ausweisung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot (vgl. die zweite Seite des Begründungsschriftsatzes vom 14.11.2022, erster Absatz nach der Überschrift „Begründung“), trägt gegen dessen Rechtmäßigkeit jedoch keine substantiierten Einwände vor. Es fehlt daher insoweit schon an einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Darlegung eines Zulassungsgrundes.
42
2.2.4 Hinsichtlich der Versagung des (konkludent durch Übersendung eines neuen Arbeitsvertrags an den Beklagten am 20.12.2020) beantragten Aufenthaltstitels unter der Ziffer 3 bzw. der Ausreiseaufforderung mit Fristsetzung zur freiwilligen Ausreise und Abschiebungsandrohung unter den Ziffern 4 und 5 des Bescheids des Beklagten vom 22. März 2021 macht der Kläger keine Zulassungsgründe gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts geltend. Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung verweist der Senat ergänzend auf § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, wonach deren Erlass ein etwaiges Bestehen von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nicht entgegenstehen würde.
43
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
44
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1, 158 Abs. 1 VwGO).
45
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).