Inhalt

VGH München, Beschluss v. 21.09.2023 – 20 CS 23.1432
Titel:

Überwiegend erfolgloser Eilantrag gegen die Anforderung eines Masernschutznachweises und die Anordnung eines Zwangsgeldes

Normenketten:
IfSG § 20 Abs. 12
BayVwVfG Art. 35
Leitsätze:
1. Bei der Anordnung zur Beibringung eines Nachweises zum Impschutz gegen Masern dürfte es sich um einen selbstständig angreifbaren Verwaltungsakt handeln (entgegen BeckRS 2021, 43061). (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Nachweis einer Kontraindikation gegen die Masernimpfung obliegt dem Nachweisverpflichteten; die Behörden sind nicht gehalten, von Amts wegen die Voraussetzungen einer Kontraindikation zu prüfen. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die behördliche Zwangsvollstreckung einer Anforderung nach § 20 Abs. 12 IfSG bedarf der behördlichen Ermessensausübung im Einzelfall. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anforderung zur Vorlage eines Nachweises zum Impfschutz gegen Masern, Behauptung des Vorliegens einer Kontraindikation, Entschließungsermessen bei einer Zwangsgeldandrohung, Masern, Impfung, Nachweis, Anforderung, Kontraindikation, Zwangsvollstreckung, Entschließungsermessen
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 01.08.2023 – M 26a S 23.2699
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26247

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 1. August 2023 wird geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen Ziffer III. des Bescheides der Antragsgegnerin vom 3. Mai 2023 wird angeordnet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

1
Die zulässige Beschwerde ist überwiegend unbegründet. Die mit der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, rechtfertigen eine Änderung des angegriffenen Beschlusses nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang.
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1. Nach Änderung des § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG mit dem Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19 vom 16. September 2022 (BGBl. I S. 1454-1472) ist die sofortige Vollziehbarkeit der Anordnung zur Beibringung eines Nachweises aus § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG durch Bundesgesetz vorgeschrieben (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO). Da die gesetzliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nur im Hinblick auf Verwaltungsakte in Betracht kommt (vgl. etwa Schoch in Schoch/Schneider, VerwR, Stand August 2022, § 80 VwGO Rn. 37), dürfte es sich bei der Anordnung zur Beibringung eines Nachweises im Sinne des § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG (jedenfalls) seit der o.g. Gesetzesänderung aus systematischen Gründen um einen selbständig angreifbaren Verwaltungsakt nach Art. 35 Satz 1 BayVwVfG handeln (anders dagegen noch BayVGH, B.v. 29.12.2021 – 20 CE 21.2778 – BeckRS 2021, 43061 zur vorherigen Rechtslage). Insoweit kommt es entgegen der Ansicht der Antragsteller nicht darauf an, ob dieser Verwaltungsakt als „Anordnung“ oder „Aufforderung“ oder „Anforderung“ bezeichnet wird. Die Bezeichnung als Aufforderung und Anordnung stellt deswegen auch keinen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz dar.
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2. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass eines die Nachweisvorlagepflicht begründenden Verwaltungsaktes in der Person der Antragsteller (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG) vor. Dies wird mit der Beschwerde nicht in Zweifel gezogen.
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3. Sofern geltend gemacht wird, beim schulpflichtigen Sohn der Antragsteller liege aus medizinischen Gründen eine Kontraindikation gegen die Masernimpfung vor, haben die Antragsteller für diese Behauptung kein ärztliches Zeugnis vorgelegt. Ihnen obliegt dies jedoch nach der gesetzlichen Konzeption des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2, Abs. 12 Satz 1 Nr. 1, Abs. 13 Satz 1 i.V.m. § 33 Nr. 3 IfSG . Die Antragsgegnerin ist deswegen nicht gehalten, von Amts wegen die Voraussetzungen einer Kontraindikation zu prüfen. Soweit die Antragsteller davon ausgehen, dass sie eine Kontraindikation durch ihren Vortrag glaubhaft gemacht hätten, genügt dies nach der gesetzlichen Konzeption des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG – wonach es zwingend eines „ärztlichen Zeugnisses“ über die Kontraindikation bedarf – gerade nicht. Deshalb kommt es auf die mit der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob eine medizinische Kontraindikation auch aus psychiatrischen Gründen denkbar ist, im vorliegenden Verfahren nicht an. Grundsätzlich ausgeschlossen dürfte eine medizinische Kontraindikation insbesondere bei einer wahnhaften Störung nicht sein. Soweit die Antragsteller in diesem Zusammenhang vortragen, dass Ärzten, die eine entsprechende Kontraindikation aus medizinischer Sicht bestätigen würden, grundsätzlich eine Strafverfolgung drohe, handelt es sich um eine unbelegte Behauptung, die im Widerspruch steht zum Gesetzeswortlaut, zu den Motiven des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 19/13452 S. 2, 28 f.) und zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 2022 (1 BvR 469/20 u.a. – juris Rn. 75), wonach die Regelungen des § 20 Abs. 8 ff. IfSG gerade den Schutz derjenigen bezwecken, die aus gesundheitlichen Gründen selbst nicht gegen Masern geimpft werden können, bei denen also eine medizinische Kontraindikation i.S.d. § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG vorliegt.
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Die Verfassungsmäßigkeit des § 20 Abs. 8 ff. IfSG hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 21. Juli 2022 (1 BvR 469/20 u.a. – BVerfGE 162, 378-454) nicht durchgreifend in Frage gestellt. Insbesondere verweist das Bundesverfassungsgericht auf die Dringlichkeit des Gesundheitsschutzes denjenigen Personen gegenüber, die sich nicht durch Impfung schützen können, mittels Gemeinschaftsschutz. Der Gesetzgeber verfolge mit der Nachweispflicht aus § 20 IfSG unter anderem auch die Stärkung der Impfbereitschaft in der Bevölkerung, um die Lücken im Impfschutz in Deutschland zu schließen (vgl. auch BT-Drs. 19/13452 S. 16). Das Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch dadurch abgemildert, dass die Nachweispflicht die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufhebe und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belasse. Die Nachweispflicht ordnet keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an (vgl. auch § 28 Abs. 1 Satz 3 IfSG). Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum (vgl. zum verbleibenden Freiheitsraum auch BVerfG, B.v. 27.4.2022 – 1 BvR 2649/21 – juris Rn. 209, 221, 232). Sorgeberechtigte Eltern können auf eine Schutzimpfung des Kindes verzichten. Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass es sich im vorliegenden Fall um einen eingeforderten Masernimpfnachweis eines schulpflichtigen Kindes handelt, welches der Nachweispflicht regelmäßig nicht ausweichen kann (vgl. hierzu BVerfG, B.v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 u.a. – juris Rn. 145). Nachdem der Gesetzgeber mit der Einführung der Nachweispflicht bei Masern ausdrücklich keine Impfpflicht begründen wollte (vgl. BT-Drs. 19/13452 S. 27), ist diese Intention im Rahmen der Durchsetzung der Nachweispflicht zu berücksichtigen. Die Anwendung von Verwaltungszwang in Form von Zwangsgeld darf daher bei schulpflichtigen Kindern nicht zu einer faktischen Impfpflicht führen.
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Soweit die Antragsteller noch vortragen, die Nachweispflicht der Masernimpfung für ihren Sohn beeinträchtige den Antragsteller zu 2, indem sie dessen psychische Gesamtsituation noch verschlechtere, kommt diesem Gesichtspunkt nach der gesetzlichen Konzeption keine Bedeutung zu.
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Der fehlende Mitwirkungswille der Antragsteller steht der streitgegenständlichen Anordnung nicht entgegen, da Ziel der Anordnung gerade ist, die Mitwirkung der Eltern durch Vorlage des angeforderten Nachweises nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG herbeizuführen. Sollte lediglich ein Elternteil bereit sein, den Nachweis einer Masernimpfung nach § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSG zu erbringen, kann er sich ggf. die Entscheidung über die Durchführung einer Impfung durch das Familiengericht nach § 1628 BGB übertragen lassen (vgl. OLG Frankfurt a. M., B.v. 11.7.2023 – 6 UF 53/23 – BeckRS 2023, 17356).
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Schließlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Masern in Deutschland zwischenzeitlich eliminiert wurden. Die Regionale Verifizierungskommission der europäischen WHO-Region bewertet alljährlich die eingesandten Berichte aller Mitgliedstaaten der Region und entscheidet, ob einem Mitgliedstaat eine Unterbrechung der Transmission oder letztendlich der Status der Elimination der Masern oder Röteln ausgesprochen werden kann. Für die Masern konnte im Gegensatz zu den Röteln aus Sicht der Regionalen Verifizierungskommission bisher nicht eindeutig belegt werden, dass in Deutschland eine endemische Transmission der Masern unterbrochen ist. Somit gilt für Deutschland aktuell weiterhin der Status einer endemischen Transmission (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Praevention/elimination_04.html, Stand: 14. März 2023).
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4. Die ebenfalls kraft Gesetzes (Art. 21a Satz 1 VwZVG) sofort vollziehbare Zwangsgeldandrohung (Ziffer III. des Bescheides der Antragsgegnerin vom 3. Mai 2023) stellt sich bei summarischer Prüfung jedoch als rechtswidrig dar, weil die Antragsgegnerin ihr Entschließungsermessen nicht ausgeübt hat. Ob die zuständige Behörde das Vollstreckungsverfahren einleitet und welche Maßnahmen sie ergreift, steht in ihrem pflichtgemäßem Ermessen (vgl. Art. 19 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 VwZVG), das einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt (§ 114 Satz 1 VwGO). Das behördliche Ermessen erstreckt sich dabei sowohl auf die Frage, ob überhaupt Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet werden (Entschließungsermessen), als auch auf die Frage, gegen wen und auf welche Art und Weise (Ausübungsermessen). Auch der Bundesgesetzgeber hat ausdrücklich angenommen, dass die behördliche Zwangsvollstreckung einer Anforderung nach § 20 Abs. 12 IfSG der behördlichen Ermessensausübung im Einzelfall bedarf (vgl. BT-Drs. 19/13452 S. 30). Im vorliegenden Fall ging die Antragsgegnerin ausweislich der Begründung des Bescheids dagegen von einer gebundenen Entscheidung aus und hat damit ihr Entschließungsermessen nicht ausgeübt. Auch in Hinblick auf das Auswahlermessen ist die Begründung des Bescheids floskelhaft. Die Zwangsgeldandrohung in Ziffer III. des Bescheides ist somit aller Voraussicht nach rechtswidrig, weshalb insoweit die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen war.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47, 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 in Verbindung mit Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.