Titel:
Erfolglose Beschwerde gegen Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Nachbarklage
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a, § 146 Abs. 4 S. 1, S. 6
BayBO Art. 6, Art. 63
Leitsätze:
1. Von einer Tekturgenehmigung wird ausgegangen, wenn die Identität des (genehmigten) Vorhabens gewahrt bleibt, die bauliche Anlage also im Wesentlichen die gleiche bleibt, und die vom Bauherrn verfolgte Änderung das Vorhaben nicht zu einem „aliud“ wird, wobei für die Identität eines Bauvorhabens als wesentliche Merkmale Standort, Grundfläche, Bauvolumen, Zweckbestimmung, Höhe, Dachform oder Erscheinungsbild sprechen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer Baugenehmigung muss zwischen dem verfügenden (rechtsgestaltenden) und dem feststellenden Teil der Genehmigung unterschieden werden, wobei sich die Baufreigabe mit der Fertigstellung des Vorhabens erledigt und die Feststellungswirkung so lange bestehen bleibt, wie die bauliche Anlage, die durch das genehmigte Vorhaben geschaffen wurde, existiert. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erteilung von Abweichungen von den Abstandsflächen, Abgrenzung „aliud“ und Änderungsgenehmigung, Verzicht auf Baugenehmigung, Erledigung der Baugenehmigung durch Bauausführung, Atypik bei der Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen, Eilrechtsschutz, Beschwerdeverfahren, Drittschutz, Baugenehmigung, Tekturgenehmigung, Aliud, Abstandsfläche, Abweichung, atypische Situation
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 20.06.2023 – RO 2 S 23.678
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26241
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Beigeladene hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Beigeladene begehrt die Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 20. Juni 2023, soweit das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage der Kläger gegen die Baugenehmigungsbescheide für den Neubau von drei Mehrfamilienhäusern und Sanierung zweier Bestandsgebäude im Hinblick auf den Neubau 3 angeordnet hat.
2
Gegen den der Beigeladenen erteilten Baugenehmigungsbescheid vom 21. März 2022 erhoben die Kläger am 30. März 2022 Klage unter dem Aktenzeichen RO 2 K 22.1056, über die noch nicht entschieden ist.
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Unter dem 1. Dezember 2022 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen einen Bescheid für eine Änderung der Baugenehmigung vom 21. März 2022. Hiergegen wurde kein Rechtsbehelf eingelegt.
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Am 19. April 2023 beantragten die Kläger Eilrechtsschutz.
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Am 9. Mai 2023 erging ein Ergänzungsbescheid an die Beigeladene.
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Am 2. Juni 2023 erweiterten die Kläger ihre Klage auch auf den Ergänzungsbescheid vom 9. Mai 2023.
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Mit Beschluss vom 20. Juni 2023 ordnete das Verwaltungsgericht Regensburg die aufschiebende Wirkung der Klage vom 30. März 2022 gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 21. März 2022 in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 9. Mai 2023 im Hinblick auf den Neubau 3 an (Az. RO 2 S 23.678). Im Übrigen lehnte es den Eilantrag ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, das Vorhaben verstoße im Hinblick auf den Neubau 3 gegen die Regelungen des Abstandsflächenrechts. Es könne offenbleiben, ob mit der Änderung des Art. 6 BayBO das Erfordernis der Atypik entfallen sei, da auch ohne das Erfordernis der Atypik auf der Tatbestandsebene die erteilte Abweichung voraussichtlich rechtswidrig sei. Die Überschreitung von 0,75 qm sei im Bagatellbereich verortet worden. Die nachbarlichen Belange seien aber ins Verhältnis zu den Belangen des Bauherrn zu setzen. Eine ermessensgerechte Abwägung sei nicht zu erkennen. Es seien 11 Abweichungen von den Erfordernissen der Abstandsflächenvorgaben erteilt worden. Der leicht schräge Verlauf des Grundstücks allein rechtfertige den Wunsch des Bauherrn, das Grundstück stärker zu nutzen, nicht. Vielmehr würde ein kürzerer Neubau 3 nicht zu unzumutbaren Beeinträchtigungen der Bebaubarkeit führen.
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Mit ihrer Beschwerde beantragt die Beigeladene,
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unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 20. Juni 2023 den Antrag abzulehnen.
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Die Kläger treten dem Vorbringen entgegen und beantragen,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten im Klage- und Eilverfahren in beiden Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben oder abzuändern wäre. Die vorzunehmende Abwägung der gegenseitigen Interessen geht zulasten der Beigeladenen aus.
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1. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 21. März 2022 in Gestalt des Ergänzungsbescheids vom 9. Mai 2023 im Hinblick auf den Neubau 3 angeordnet, da die Klage insoweit erfolgreich sein dürfte, weil die streitgegenständlichen Bescheide insoweit nicht rechtmäßig sein und die Kläger in ihren Rechten verletzen dürften.
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a) Anders als die Beigeladene meint, fehlt der Klage nicht das Rechtsschutzbedürfnis, da sich, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, die Genehmigung vom 21. März 2022 durch die Genehmigung vom 1. Dezember 2022 weder erledigt hat noch erloschen ist. Denn mit der Genehmigung vom 1. Dezember 2022 wurde kein „aliud“ genehmigt. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass die Änderungs- bzw. Tekturgenehmigung vom 1. Dezember 2022 nicht insgesamt an die Stelle der Baugenehmigung vom 21. März 2022 tritt, sondern die ursprüngliche Genehmigung vom 21. März 2022 sich nur hinsichtlich der in der Genehmigung vom 1. Dezember 2022 getroffenen neuen Regelungen erledigt hat. Daran ändert auch die Erklärung der Beigeladenen, von der Genehmigung vom 21. März 2022 keinen Gebrauch zu machen und das Vorhaben stattdessen ausschließlich in der mit Bescheid vom 1. Dezember genehmigten Planung verwirklichen zu wollen, nichts. Eben so wenig führt die Bauausführung in der Fassung des Bescheids vom 1. Dezember 2022 zum Erlöschen der Ursprungsgenehmigung.
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Entgegen der Auffassung der Beigeladenen ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 1. Dezember 2022 den Ursprungsbescheid vom 21. März 2022 lediglich abgeändert hat, demnach eine Tekturgenehmigung darstellt und kein „aliud“ genehmigt wurde.
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Von einer Tekturgenehmigung wird in der Rechtsprechung ausgegangen, wenn die Identität des (genehmigten) Vorhabens gewahrt bleibt (die bauliche Anlage also im Wesentlichen die gleiche bleibt) und die vom Bauherrn verfolgte Änderung das Vorhaben nicht zu einem „aliud“ wird. Als für die Identität eines Bauvorhabens wesentliche Merkmale werden Standort, Grundfläche, Bauvolumen, Zweckbestimmung, Höhe, Dachform oder Erscheinungsbild herausgestellt. Ob eine Veränderung dieser für ein Vorhaben charakteristischen Merkmale die Identität von genehmigten und errichteten Vorhaben aufhebt, hängt vom Umfang der Abweichungen und von der Bewertung ihrer Erheblichkeit im jeweiligen Einzelfall ab. Es kommt dabei entscheidend darauf an, ob durch die Änderung Belange, die bei der ursprünglichen Genehmigung des Vorhabens zu berücksichtigen waren, neuerlich oder andere Belange erstmals so erheblich berührt werden, dass sich die Zulässigkeitsfrage neu stellt (BayVGH, U.v. 26.10.21 – 15 B 19.2130 – juris Rn. 28).
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Zwar ergeben sich, wie die Beigeladene zur Recht ausführt, durch den vollständigen Wegfall der Tiefgarage mit Entfall der unterirdischen Verbindung und Unterkellerung der Gebäude bei dem streitgegenständlichen Vorhaben Grundrissänderungen, wie z.B. die Erstellung zusätzlicher Kellerabteile. Auch wird das Fahrrad- und Müllhäuschen vergrößert. Zudem wird eine Wohneinheit weniger gebaut, da im Erdgeschoss der Gebäude nun z.T. eine Änderung der Nutzung als Garage geplant ist. Hierdurch verändern sich auch die durch den Rangierverkehr ausgelösten Lärmimmissionen. Zudem ergeben sich im Gebäude Bestand 2 Grundrissänderungen sowie eine Änderung des Geschossdeckenaufbaus und der Geschosshöhen.
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Wie das Verwaltungsgericht auf Seite 24 seines Beschlusses aber zu Recht ausführt, sind für die Identität eines Bauvorhabens wesentliche Merkmale der Standort, die Grundfläche, das Bauvolumen, die Zweckbestimmung, die Höhe, die Dachform und das Erscheinungsbild. Auf den eingereichten und genehmigten Plänen ergeben sich die geplanten Veränderungen aus den eingezeichneten roten „Wolken“. Aus den Ansichten und Schnitten der geplanten Gebäude sowie den Grundrissplänen zeigt sich, dass das ursprüngliche Erscheinungsbild im Wesentlichen beibehalten bleibt. Auch die Identität des Bauvorhabens ändert sich nicht. Die Standorte der Hauptgebäude, die Kubatur, die Höhe, die Dachform sowie die Zweckbestimmung des Vorhabens an sich (Wohnbebauung mit Stellplätzen) bleibt unverändert. Das Bauvolumen ändert sich nur geringfügig, der Hof wird z.B. durch den Car-Sharing-Stellplatz und durch die Garagentore im Erdgeschoss anders wahrgenommen. Zudem war die Stellplatzsituation von der Beklagten neu zu bewerten. Die Änderungen gehen aber nicht so weit, dass damit die Identität des Vorhabens als Ganzes infrage gestellt wird. In Übereinstimmung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts ist darauf abzustellen, ob durch die Abweichung Belange, die bei der Baugenehmigung berücksichtigt waren, oder andere zusätzliche Belange erstmals erheblich berührt werden, so dass sich die Zulässigkeitsfrage neu stellt. Hiervon kann vorliegend nicht ausgegangen werden, weswegen das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen ist, dass die Ursprungsgenehmigung vom 21. März 2022 sich nicht erledigt hat oder erloschen ist. Sie wurde nur durch die Regelungen in der Genehmigung vom 1. Dezember 2022 angepasst. Dies ergibt sich zudem auch aus der Bezugnahme des Änderungsbescheids auf den Ursprungsbescheid.
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Nachdem der Bescheid vom 21. März 2022 und der Änderungsbescheid vom 1. Dezember 2022 die Grundlage für das Bauvorhaben der Beigeladenen bilden, kann ein Verzicht der Beigeladenen auf die Ausführung der Ursprungsgenehmigung vom 21. März 2022, wie das Verwaltungsgericht zu Recht auf S. 25 seines Beschlusses ausführt, nur so verstanden werden, dass sie das Vorhaben in der durch den Bescheid vom 1. Dezember 2022 geänderten Form der Ursprungsgenehmigung vom 21. März 2022 ausführen möchte. Andernfalls würde sie bei einer Rückgabe der Baugenehmigung vom 21. März 2022 wegen der untrennbaren Verbindung auch die Änderungsgenehmigung vom 1. Dezember 2022 verlieren und somit ohne Genehmigung bauen.
21
Eben so wenig führt, wie die Beigeladene meint, die begonnene Umsetzung der Genehmigung vom 1. Dezember 2022 zu einem Erlöschen der Ursprungsbaugenehmigung vom 21. März 2022, denn bei den – gesetzlich nicht speziell geregelten – Folgen der Beendigung des Vorhabens für die Wirksamkeit der Baugenehmigung muss zwischen dem verfügenden und dem feststellenden Teil der Genehmigung unterschieden werden. Der rechtsgestaltende (verfügende) Teil einer Baugenehmigung, die Baufreigabe, erledigt sich mit der Fertigstellung der Anlage (Art. 43 Abs. 2 Alt. 5 BayVwVfG). Die jeweils für ein bestimmtes Vorhaben erteilte Genehmigung ist insoweit „verbraucht“. Die Feststellungswirkung der Genehmigung bleibt hingegen so lange bestehen, wie die bauliche Anlage, hier das streitgegenständliche Vorhaben, die durch das genehmigte Vorhaben geschaffen wurde, existiert (Laser in Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 5. Auflage 2022, Art. 69 Rn. 13 f.).
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b) Unzutreffend ist die Auffassung der Beigeladenen, die Begründung auf die sich das Gericht bei der Annahme eines Abstandsflächenverstoßes stütze, sei fehlerhaft, da nach aktueller Rechtslage und zutreffender Rechtsprechung es keiner Atypik mehr als Grundvoraussetzung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO bedürfe (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2023 – 2 ZB 22.2484 – juris Rn. 10). Abgesehen davon, dass die Frage der Atypik in dem o.g. Verfahren nicht entscheidungstragend war, erfordert die Erteilung einer Abweichung von der Einhaltung der erforderlichen Abstandstiefe (Art. 6 Abs. 5 BayBO) nach Art. 63 BayBO auch in der seit dem 1. September 2018 geltenden Fassung noch eine atypische Situation, um dem Schutzzweck der Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO entsprechen zu können. In Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO findet ein etwa vorhandener Wille des Gesetzgebers, dass eine Atypik bei der Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen generell nicht mehr zu prüfen sein soll, keinen hinreichenden Niederschlag (BayVGH, U.v. 23.5.2023 – 1 B 21.2139 – juris Leitsatz und Rn. 26).
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2. Aufgrund der im Beschluss des Verwaltungsgerichts auf S. 41 angeführten Gründe, die sich auch der Senat zu eigen macht, und die mit dem Beschwerdevorbringen nicht angegriffen wurden, fällt die Interessenabwägung nicht zu Gunsten der Beigeladenen aus.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).