Inhalt

VGH München, Beschluss v. 18.09.2023 – 10 B 23.521
Titel:

Maßgebliches Aufenthaltsbeendigungsregime bei britischen Staatsangehörigen nach Austrittsabkommen 

Normenketten:
AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1, §§ 53 ff.
FreizügG/EU § 1 Abs. 1 Nr. 3, § 4a, § 6, § 7, § 11 Abs. 12, § 16 Abs. 1, Abs. 2
BrexitAbk Art. 15 Abs. 1 S. 1, Art. 20 Abs. 1, Abs. 2, Art. 126
Freizügigkeits-RL Art. 16
VwGO § 86
Leitsätze:
1. Bei britischen Staatsangehörigen, die auch nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches ein Aufenthaltsrecht nach dem Austrittsabkommen haben, kann eine Aufenthaltsbeendigung nur nach Maßgabe der §§ 6 und 7 FreizügG erfolgen, wenn das dazu führende Verhalten vor dem 31.12.2020 stattgefundenen hat. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die Bestimmung des einschlägigen Aufenthaltsbeendigungsregimes maßgeblich ist insofern der Zeitpunkt des sicherheitsgefährdenden Verhaltens des Betroffenen, das Anlass für die Aufenthaltsbeendigung gibt. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung und Folgemaßnahmen, Erwerb der britischen Staatsangehörigkeit kraft Abstammung nach dem British, Nationality Act 1981, Maßgebliches Aufenthaltsbeendigungsregime bei britischen Staatsangehörigen nach Austrittsabkommen, Ende des Übergangs- und Durchführungszeitraums, Daueraufenthaltsrecht, Ausweisung, Aufenthaltsbeendigung, britischer Staatsangehöriger, maßgeblicher Zeitpunkt, Austrittsabkommen, anwendbares Recht, Erwerb der britischen Staatsangehörigkeit kraft Abstammung, British Nationality Act 1981, RL 2004/38/EG
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 23.07.2020 – M 12 K 20.657
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26221

Tenor

I. Soweit die Parteien das Verfahren hinsichtlich des Anspruchs auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer (Nr. 3 und Nr. 14 des Bescheids der Beklagten vom 15.12020, letztere soweit darin eine Gebühr für die Ablehnung des Antrags auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer festgesetzt wurde) in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 23. Juli 2020 ist insofern unwirksam.
II. Im Übrigen wird unter Abänderung von Nr. l. des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 23. Juli 2020 der Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 2020 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 12. März 2020, 27. März 2020, 8. Januar 2021 und 14. Oktober 2022 mit Ausnahme von Nr. 2, Nr. 3, Nr. 5 und Nr. 14 des Bescheids aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Bescheinigung über ein Recht auf Einreise und Aufenthalt i.S.v. § 16 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 15 Abs. 1 Satz 1 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (Recht auf Daueraufenthalt) auszustellen.
III. In Abänderung von Nr. Il. des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 23. Juli 2020 trägt der Kläger ein Achtel der Verfahrenskosten beider Rechtszüge, die Beklagte sieben Achtel.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
VI. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 20.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet und entsprechende Folgeentscheidungen mit Bescheid vom 15. Januar 2020 (in der Fassung mehrerer Änderungsbescheide) sowie seine Verpflichtungsklage auf Ausstellung der Bescheinigung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt für britische Staatsangehörige weiter.
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Der im Jahr 2001 im Bundesgebiet geborene Kläger ist das Kind einer irakischen und eines britischen Staatsangehörigen. Seine Eltern sind und waren nicht miteinander verheiratet. Der Vater trennte sich noch vor der Geburt des Klägers von der Mutter, hielt sich aber weiterhin im Bundesgebiet auf. Einer bereits am 9. Januar 2002 abgegebenen Vaterschaftsanerkennungserklärung des Vaters des Klägers stimmte die Mutter mit notarieller Erklärung vom 24. Februar 2020 zu.
3
Ende des Jahres 2014 wandte sich die Mutter des Klägers an die Behörden. Der Kläger habe sich islamistisch-extremistischem Gedankengut zugewandt und in diesem Zusammenhang den Kontakt zu seiner streng gläubigen Tante intensiviert. Der Kläger wurde daraufhin mit Einverständnis seiner Mutter vorläufig in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. Am 20. Juli 2015 reiste er mit einer Tante und deren Sohn in die Türkei aus, um von dort nach Syrien weiterzureisen und sich der Terrororganisation Islamischer Staat OS) anzuschließen. Er wurde in Gaziantep von türkischen Sicherheitskräften aufgegriffen und nach Aufenthalten im Gefängnis und in einem Jugenderziehungsheim am 14. April 2016 wieder nach Deutschland gebracht. Von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat wurde abgesehen, da der Kläger zum Tatzeitpunkt noch nicht strafmündig war. In der Folge wurden gegen den Kläger Ermittlungen u.a. wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Vereinsgesetz, der Gewaltdarstellung und der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat geführt. Am 30. Januar 2018 wurden die Wohnräume des Klägers durchsucht und mehrere Smartphones, ein Laptop sowie (Schreib-)Unterlagen sichergestellt.
4
Durch Urteil des Amtsgerichts – Jugendschöffengerichts – München vom 16. Mai 2019 wurde der Kläger wegen Zuwiderhandlungen gegen Verbote nach dem Vereinsgesetz gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 5 VereinsG in vier Fällen sowie Diebstahls zu einer Jugendfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Vollstreckung der Jugendstrafe wurde mit Beschluss vom selben Tage vorbehalten und nach Ablauf der sechsmonatigen Vorbewährungszeit mit Beschluss vom 6. November 2019 zur Bewährung ausgesetzt. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts hatte der Kläger in der Zeit vom 12. Januar 2018 bis zum 25. Januar 2018 über seinen Instagram-Account mehrfach Beiträge veröffentlicht, die propagandistische Inhalte in Bezug auf den IS enthielten, darunter auch Kennzeichen des IS.
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Mit Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 2020 wurde der Kläger nach vorheriger Anhörung aus dem Bundesgebiet ausgewiesen (Nr. 1), seine Anträge auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis (Nr. 2) sowie auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer (Nr. 3) abgelehnt, ein auf 13 Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot verhängt (Nr. 4), die Abgabe seiner Fiktionsbescheinigung angeordnet (Nr. 5), seine Abschiebung in den Irak angedroht (Nr. 6), sein Aufenthalt auf das Stadtgebiet der Beklagten beschränkt (Nr. 7), eine tägliche Meldepflicht auferlegt (Nr. 8) und die Nutzung bestimmter Telekommunikationsmittel untersagt (Nr. 9). Hinsichtlich der Nrn. 1, 4, 7 und 8 wurde die sofortige Vollziehung angeordnet (Nr. 10). Daneben wurden für etwaige Verstöße gegen Nummern 7, 8 und 9 jeweils Zwangsgelder angedroht (Nrn. 1 1 bis 13) und gegenüber dem Kläger Verwaltungsgebühren für die Verfahren zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sowie zur Ausstellung eines Reiseausweises festgesetzt (Nr. 14). Zur Begründung führte die Beklagte aus, im Fall des Klägers seien das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG und das schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG verwirklicht. Der Kläger habe eine terroristische Vereinigung unterstützt und einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen. Die Ausweisung sei auch aus generalpräventiven Gründen geboten. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse des Klägers. Der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis stehe die Ausweisung und das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen. Ohne Aufenthaltstitel dürfe dem Kläger auch kein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. Abschiebungshindernisse seien nicht ersichtlich. Die Überwachungsmaßnahmen seien nach § 56 Abs. 1 AufenthG anzuordnen, das Kommunikationsverbot beruhe auf § 56 Abs. 4 Satz 1 AufenthG.
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Hiergegen erhob der Kläger Klage. Im Laufe des Verfahrens erklärten die Parteien den Rechtsstreit im Hinblick auf die Verpflichtung zur Abgabe der Fiktionsbescheinigung in der Hauptsache für erledigt. Im Übrigen wies das Verwaltungsgericht die Klage mit Urteil vom 23. Juli 2020 ab.
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Am 31. Dezember 2020 endete der Übergangszeitraum nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union.
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Seine vom Senat zugelassene Berufung (zunächst Az. 10 B 21.635) begründete der Kläger u.a. damit, er sei von Geburt an britischer Staatsangehöriger und Inhaber eines Daueraufenthaltsrechts gewesen, das ihm auch nach dem Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union noch zustehe. Schon deswegen seien sämtliche Maßnahmen auf der Grundlage des AufenthG rechtswidrig.
9
Im Hinblick auf ein vom Kläger während des Berufungsverfahrens eingeleitetes Passantragsverfahren bei den britischen Behörden hat der Senat das Verfahren im Einverständnis mit den Beteiligten durch Beschluss vom 28. Juni 2022 nach § 94 VwGO ausgesetzt.
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Mit Schriftsatz vom 15. März 2023 beantragte der Kläger die Fortsetzung des Berufungsverfahren (jetzt Az. 10 B 23.521). Er habe nunmehr von den britischen Behörden einen Pass erhalten. Da hierfür kein Antrag auf Registrierung als britischer Staatsangehöriger erforderlich gewesen sei, sei davon auszugehen, dass er seit Geburt britischer Staatsangehöriger sei. Da er auch die weiteren Anforderungen an ein Daueraufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU in Verbindung mit dem Austrittsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich erfülle, seien sämtliche Maßnahmen auf der Grundlage des AufenthG rechtswidrig.
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Einem vom Kläger zugleich gestellten den Antrag, den Beschluss des Verwaltungsgerichts im Eilverfahren im Hinblick auf die Überwachungsmaßnahmen abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen bzw. wiederherzustellen, gab der Senat mit Beschluss vom 20. April 2023 statt (10 AS 23.522). In der Folge holte der Senat eine amtliche Auskunft bei den zuständigen britischen Behörden zur Frage, ob der Kläger die britische Staatsangehörigkeit kraft Abstammung im Zeitpunkt seiner Geburt oder erst später durch Registrierung erworben habe, ein. Mit Schreiben vom 17. Juli 2023 teilten die britischen Behörden mit, der Kläger sei seit seiner Geburt britischer Staatsangehöriger.
12
Hinsichtlich des Anspruchs auf Ausstellung eines Reisepasses für Ausländer (§ 5 AufenthV) haben die Parteien den Rechtsstreit in der Hauptsache mit Erklärungen vom 15. März 2023 und 28. Juli 2023 übereinstimmend für erledigt erklärt.
13
Der Kläger beantragt zuletzt sinngemäß:
14
Unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 23. Juli 2020 wird der Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 2020 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 12. März 2020, 27. März 2020, 8. Januar 2021 und 14. Oktober 2022 mit Ausnahme von Nr. 2, Nr. 3, Nr. 5 und Nr. 14 des Bescheids aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Bescheinigung über ein Recht auf Einreise und Aufenthalt i.S.v. § 16 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 15 Abs. 1 Satz 1 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (Recht auf Daueraufenthalt) auszustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
17
Sie ist der Auffassung, dass der Kläger seinen britischen Pass aufgrund einer Registrierung als britischer Staatsangehöriger erhalten habe. Sein Vortrag, eine Registrierung nicht beantragt zu haben, lasse keinen rechtssicheren Schluss darauf, dass eine Registrierung vor der Ausstellung des Passes nicht doch erfolgt sei, zu. Die Registrierung begründe die Staatangehörigkeit nur für die Zukunft und könne damit im Ergebnis keine Auswirkung auf die Rechtmäßigkeit der Ausweisung und der weiter verfügten Maßnahmen haben. Daran sei auch nach dem Beschluss des Senats vom 20. April 2023 und der nachfolgenden Auskunft der britischen Behörden festzuhalten. Es müsse aufgeklärt werden, warum die britischen Konsularbehörden ihr gegenüber zunächst erklärt hätten, der Kläger könne die Staatsangehörigkeit nur durch ein Registrierungsverfahren erhalten.
18
Der Vertreter des öffentlichen Interesses hat eine Stellungnahme zwar im Zulassungsverfahren, nicht aber im Berufungsverfahren abgegeben.
19
Den Beteiligten wurde Gelegenheit gegeben, zu einer Entscheidung über die Berufung durch einstimmigen Beschluss Stellung zu nehmen. Der Kläger hat dem zugestimmt, die Beklagte und der Vertreter des Öffentlichen Interesses haben sich nicht geäußert.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakten und der Gerichtsakten beider Instanzen.
II.
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1. Soweit die Beteiligten das Verfahren im Hinblick auf die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, war das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen und insoweit die Unwirksamkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (deklaratorisch) auszusprechen (§ 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO).
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2. Im Übrigen kann der Verwaltungsgerichtshof nach erfolgter Anhörung der Beteiligten (§ 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO) über die Berufung des Klägers gemäß § 130a Satz 1 VwGO durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht mehr für erforderlich hält.
23
a) Der Rechtsstreit ist ohne weitere Sachaufklärung auf Grundlage des Akteninhalts entscheidungsreif. Im Berufungsverfahren sind nur noch Sach- und Rechtsfragen zu klären, zu denen die Beteiligten ausreichend Stellung nehmen konnten. Auch Art. 6 Abs. 1 EMRK (allgemein hierzu etwa BVerwG, B.v. 14.6.2019 – 7 B 25/18 – juris Rn. 10) gebietet in der vorliegenden Konstellation nichts anderes, zumal der Kläger einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt hat.
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Es besteht – entgegen der im Schriftsatz vom 26. Juli 2023 geäußerten Auffassung der Beklagten – kein Anlass für eine weitere Sachverhaltsaufklärung. Dies gilt insbesondere für die Frage nach dem Zeitpunkt des Erwerbs der britischen Staatsangehörigkeit durch den Kläger.
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Die Amtsermittlungspflicht nach § 86 VwGO hat Grenzen. Das Gericht braucht nur die Ermittlungen anzustellen, die es bei vernünftiger Betrachtung unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten nach seinem Ermessen für notwendig erachten muss. Es braucht nicht jedem geringfügigen und eher fernliegenden Zweifel nachgehen, der an der Richtigkeit einer Tatsache bestehen mag. Insoweit ist auch die Zumutbarkeit der Ermittlungen von Bedeutung. Ist das Gericht vom Vorliegen einer Tatsache aufgrund gegebener Erkenntnisse und nach Vornahme geeigneter Ermittlungen bereits hinreichend überzeugt, braucht es zusätzliche, insbesondere aufwendige Ermittlungen nicht anzustellen, um den Anforderungen des § 108 Abs. 1 VwGO zur Bildung seiner Überzeugung gerecht zu werden. Der Ermessensspielraum ist erst dann überschritten, wenn sich (weitere) Ermittlungen nach den konkreten Umständen aufdrängen, also auch einem entsprechenden Beweisantrag stattgegeben werden müsste (Breunig in BeckOK VwGO, Stand 1.1.2023, § 86 VwGO Rn. 31; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 86 Rn. 33).
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Gemessen daran sind weitere Ermittlungen durch den Senat nicht mehr angezeigt. Der Senat hat bereits im Eilverfahren die verfügbaren Rechtsquellen zum britischen Staatsangehörigkeitsrecht einschließlich eines vom Kläger vorgelegten, speziell zu seinem Fall angefertigten Rechtsgutachtens ausgewertet, den vorliegenden Sachverhalt nach eingehender Prüfung darunter subsumiert und das Ergebnis dieser Prüfung im Beschluss vom 20. April 2023 im Verfahren 10 AS 23.522 ausführlich dargestellt. Seine Auffassung hat er im Nachgang durch Einholung einer amtlichen Auskunft der zuständigen britischen Behörden überprüft. Sowohl die eigene Prüfung des Senats als auch die Auskunft der britischen Behörden decken sich in Ergebnis und Begründung und lassen sich mit den nachvollziehbaren Schilderungen des Klägers ohne Weiteres in Einklang bringen (dazu sogleich). Die Beklagte beruft sich dagegen auf einen nicht näher begründeten rechtlichen Standpunkt der britischen Behörden, den diese im Laufe des Passantragsverfahrens offensichtlich aufgegeben haben, und auf ein (angeblich erfolgtes) Registrierungsverfahren, für das es – worauf der Senat bereits hingewiesen hat – keine Anhaltspunkte gibt. Für die Behauptung, der Kläger habe die Staatsangehörigkeit durch eine Registrierung und damit lediglich ex nunc erlangt, gibt es keinerlei Hinweise. Insofern spricht nichts dafür, dass weitere Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung möglich und erfolgversprechend sind, zumal die Beklagte solche auch nicht nennt und die eigene Anfrage der Beklagten bei den britischen Behörden vom 3. Mai 2023 (BI. 3630 der Behördenakte) offenbar unbeantwortet blieb. Im Übrigen ist die Frage, aus welchem Grund die britischen Behörden ihre Rechtsauffassung geändert haben, nicht entscheidungserheblich.
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3. Gegenstand der im Berufungsverfahren anhängigen Klage des Klägers sind nach einer Teilerledigungserklärung der Parteien und einer Klageänderung mit dem Berufungsbegründungsschriftsatz noch die Anfechtung der Ausweisungsentscheidung im Bescheid vom 15. Januar 2020 (Nr. 1 des angegriffenen Bescheids) sowie der entsprechenden Folgeentscheidungen (Nr. 4 und Nr. 6 bis Nr. 9) einschließlich der entsprechen Sofortvollzugsanordnung (Nr. 10) und der jeweiligen Zwangsmittelandrohungen (Nr. 11 bis Nr. 13) in ihrer jeweils gültigen Fassung sowie das Verpflichtungsbegehren auf die Ausstellung einer Bescheinigung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt für britische Staatsangehörige.
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Nicht mehr Gegenstand des Verfahrens sind die Entscheidung über den Reiseausweis für Ausländer und die entsprechende Gebührenfestsetzung (Nr. 3 bzw. Nr. 14 des Bescheids), weil die Beteiligten den Rechtsstreit insofern übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben. Weiter wurde die Anfechtungsklage gegen die Verpflichtung zur Rückgabe der Fiktionsbescheinigung (Nr. 5 des Bescheides) von den Parteien bereits vor dem Verwaltungsgericht in der Hauptsache für erledigt erklärt. Nachdem der Kläger seine Verpflichtungsklage zwischen der ersten und der zweiten Instanz von der Verpflichtung zur Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis auf die Verpflichtung zur Ausstellung einer Bescheinigung über ein Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht) für britische Staatsangehörige zulässigerweise geändert hat, sind auch die Ablehnung des Antrags auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Nr. 2 des Bescheids) und die entsprechende Gebührenfestsetzung (Nr. 14) nicht mehr Gegenstand des gerichtlichen Verfahren.
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4. Die Klage ist insgesamt zulässig. Soweit der Kläger seinen Verpflichtungsantrag zwischen der ersten und der zweiten Instanz von der Verpflichtung der Beklagten zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bzw. der Ausstellung einer Bescheinigung über eine Daueraufenthaltsrecht für EU-Bürger auf die Verpflichtung zur Ausstellung einer Bescheinigung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt für britische Staatsangehörige geändert hat, ist dies sachdienlich (vgl. § 91 Abs. 1 VwGO).
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5. Die Anfechtungsklage des Klägers ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 2020 in der Gestalt sämtlicher Änderungsbescheide ist, soweit er noch Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die verfügten Maßnahmen erweisen sich schon deswegen als rechtswidrig, weil die Beklagte sie auf § 53 ff, AufenthG gestützt hat, diese Vorschriften im Falle des Klägers jedoch nicht anwendbar sind.
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a) Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG finden die Regelungen des AufenthG keine Anwendung auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) geregelt ist, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 FreizügG/EU findet das FreizügG/EU Anwendung auf Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland nach dessen Austritt aus der Europäischen Union, denen nach dem Austrittsabkommen Rechte zur Einreise und zum Aufenthalt gewährt werden.
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§ 16 Abs. 1 FreizügG/EU verweist auf das in Teil Zwei Titel Il Kapitel 1 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABI. L 29 vom 31.1.2020, S. 7 – im Folgenden: Austrittsabkommen) vorgesehene Recht auf Einreise und Aufenthalt und bestimmt, dass dieses Recht im Bundesgebiet ausgeübt werden kann, ohne dass es hierfür eines Antrages bedarf. Zu Teil Zwei Titel Il Kapitel 1 des Austrittsabkommens gehören die Rechte nach Art. 13 bis Art. 23 des Austrittsabkommens. Nach Art. 13 Abs. 1 des Austrittsabkommens haben Unionsbürger und britische Staatsangehörige das Recht, sich mit den Beschränkungen und unter den Bedingungen, die in Artikel 21, 45 oder 49 AEUV sowie in Artikel 6 Absatz 1, Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a, b oder c, Artikel 7 Absatz 3, Artikel 14, Artikel 16 Absatz 1 oder Artikel 17 Absatz 1 der RL 2004/38/EG vorgesehen sind, im Aufnahmestaat aufzuhalten. Nach Art. 15 Abs. 1 Satz 1 des Austrittsabkommens haben Unionsbürger und britische Staatsangehörige sowie ihre jeweiligen Familienangehörigen, die sich im Einklang mit dem Unionsrecht fünf Jahre lang oder während des in Artikel 17 der RL 2004/38/EG genannten Zeitraums ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmestaat aufgehalten haben, das Recht, sich unter den Voraussetzungen der Artikel 16, 17 und 18 der RL 2004/38/EG auf Dauer im Aufnahmestaat aufzuhalten.
33
Einfachgesetzliche Spezialregelungen zur Aufenthaltsbeendigung enthält § 11 Abs. 12 Satz 1 FreizügG/EU, der Art. 20 Abs. 1 und 2 des Austrittsabkommens im Wesentlichen wortgleich in nationales Recht umsetzt. Danach finden §§ 6 und 7 nach Maßgabe des Artikels 20 Absatz 1 des Austrittsabkommens entsprechende Anwendung, wenn ein Verhalten, auf Grund dessen eine Beendigung des Aufenthalts eines Inhabers eines Rechts nach § 16 erfolgt oder durchgesetzt wird, vor dem Ende des Übergangszeitraums am 31. Dezember 2020 stattgefunden hat. Daraus folgt, dass bei britischen Staatsangehörigen, die auch nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches ein Aufenthaltsrecht nach dem Austrittsabkommen haben, eine Aufenthaltsbeendigung nur nach Maßgabe der §§ 6 und 7 FreizügG/EU erfolgen kann, wenn das Verhalten, das Anlass für eine Aufenthaltsbeendigung gibt, vor dem 31. Dezember 2020 (vgl. Art. 1 Buchst. e i.V.m. Art. 126 des Austrittabkommens) stattgefunden hat. Nur „im Übrigen“, d. h. also bei britischen Staatsangehörigen, die kein Recht i.S.v. § 16 FreizügG/EU innehaben oder deren für eine Aufenthaltsbeendigung Anlass gebendes Verhalten nach dem 31. Dezember 2020 stattgefunden hat, sind die §§ 53 ff. AufenthG einschlägig (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 letzter Halbsatz AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 12 Satz 2 FreizüG/EU; vgl. zum Ganzen BMI, Anwendungshinweise zur Umsetzung des Austrittsabkommens Vereinigtes Königreich – Europäische Union des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 29. April 2021, abrufbar unter https://www.bmi.bund.de/Shared-Docs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/verfassung/anwendungshinweisebrexit.pdf; jsessionid=06F517B406279C40BEFCD544C3307DD7.2_cid287?_blob =publicationFile& v=8, Nr. 15).
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b) Gemessen daran werden im Falle des Klägers die allgemeinen Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG durch §§ 6 und 7 FreizügG/EU verdrängt. Der Kläger ist Inhaber eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt i.S.v. § 16 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. Teil Zwei Titel Il Kapitel 1 des Austrittsabkommens und sein Verhalten, auf Grund dessen die Beklagte eine Beendigung seines Aufenthalts betreibt, hat vor dem 31. Dezember 2020 stattgefunden.
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aa) Der Kläger ist Inhaber eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt i.S.v. § 16 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 15 Abs. 1 Satz 1 des Austrittsabkommens (Recht auf Daueraufenthalt), denn er war im Zeitpunkt des Austritts des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union daueraufenthaltsberechtigt im Sinne von § 4a AufenthG, der Art. 16 der RL 2004/38/EG in nationales Recht umsetzt. Danach haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht).
36
(1) Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 108 VwGO) ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger seit seiner Geburt britischer Staatsangehöriger ist. Dass der Kläger britischer Staatsangehöriger ist, wird bereits dadurch belegt, dass die britischen Behörden ihm einen britischen Nationalpass ausgestellt haben. Dies ist letztlich unstreitig. Dabei geht der Senat aufgrund der ihm zum Inhalt ausländischen Rechts obliegenden Sachverhaltsaufklärung (vgl. § 108 i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 293 ZPO) weiter davon aus, dass der Kläger ein im Sinne des englischen Rechts „legitimer“ Sohn eines britischen Staatsangehörigen und weiter als sog. „citizen by descent“ seit seiner Geburt britischer Staatsangehöriger ist.
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Hierfür spricht ganz maßgeblich die vom Senat eingeholte amtliche Auskunft der britischen Behörden vom 17. Juli 2023. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Auffassung der britischen Behörden auch korrekt ist. Hierauf deuten sowohl das vom Kläger vorgelegte Rechtsgutachten eines auf Staatsangehörigkeitsfragen spezialisierten englischen Rechtsanwalts (BI. 220 ff., 222 der Akte des Zulassungsverfahrens 10 ZB 20.2829: „citizen by descent and therefore a full British citizen from his birth date of 25th July 2001 and fully entitled to apply for and hold a British passport“) als auch weitere Erkenntnisse aus öffentlich zugänglichen (und im Übrigen aktenkundigen) Quellen hin.
38
Nach dem maßgeblichen British Nationality Act 1981 (in der Fassung der offenbar letzten Änderung vom 23.11.2022, abrufbar unter https://www.legislation.gov.uk/ukpga/1981/61) ist der Kläger trotz seiner Geburt im Bundesgebiet als „citizen by descent“ von Anfang an britischer Staatsangehöriger, ohne dass er hierfür einen Antrag auf Registrierung als britischer Staatsangehöriger stellen musste, bei der die Staatsangehörigkeit (wie bei einer Einbürgerung nach deutschem Recht) nur mit Wirkung für die Zukunft entsteht (vgl. Section 42B (1) des British Nationality Act 1981). Britischer Staatsangehöriger „by descent“ ist nach Section 2 (1) (a) des British Nationality Act 1981 auch das außerhalb des Vereinigten Königreichs geborene Kind, wenn sein Vater oder seine Mutter die britische Staatsagenhörigkeit anders als durch Abstammung („otherwise then by descent“) erworben hat. Da der Vater des Klägers in London geboren wurde, ist er Staatsangehöriger „by birth“ im Sinne von Section 1 (1) (a) des British Nationality Act 1981 (davon geht im Übrigen auch die Beklagte in ihrer E-Mail vom 9. März 2021 an das britische Innenministerium aus: „His father was born in London and is a British citizen by birth.“) und der Kläger erfüllt daher die Voraussetzungen einer Staatsangehörigkeit „by descent“.
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Die Auskunft des britischen Innenministeriums mit E-Mail vom 30. Juli 2021 an die Beklagte (BI. 157 der Gerichtsakte des Berufungsverfahrens 10 B 21.635), auf die die Beklagte sich beruft und die im Falle des Klägers auf die Notwendigkeit einer Registrierung als britischer Staatsangehöriger (Section 3, 4 ff. des British Nationality Act 1981) verweist, ist in der vorliegenden Konstellation nicht schlüssig. Sie beruht offensichtlich auf der für vor 2006 geborene Kinder geltenden Differenzierung des britischen Rechts nach „legitimen“ und „illegitimen“ Kindern, wonach sich vor 2006 geborene Kinder auf die Abstammung von einem britischen Vater nur als „legitime“ Kinder – also regelmäßig die Kinder verheirateter Eltern – berufen können (vgl. dazu etwa British Home Office „Nationality policy: children of unmarried parents“ vom 13.3.2019, abrufbar unter https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/786448/Nat-policy-children-of-unmarried-parents-v3ext.pdf#page=5-policy-children-of-unmarried-parents-v3-ext.pdf, S. 6: „For children born before 1 July 2006, you may need to consider whether a Child was 'legitimate'.“, British Homeoffice, „Registration as a British citizen: children“ vom 2.122022, S. 12 ff., abrufbar unter https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment data/file/1 122659/Registration as_British_citizen_-_children.Pdf, sowie weitere Hinweise der britischen Regierung unter https://www.gov.uk/apply-citizenship-british-parent/born-between-1983-and-2006).
Dabei berücksichtigt die Auskunft jedoch erkennbar nicht, dass das britische Recht für vor dem Jahr 2006 geborene Personen im Hinblick auf die Legitimität der Abstammung auf das Recht des Aufenthaltsortes des Vaters im Zeitpunkt der Geburt verweist (vgl. dazu das vom Antragsteller vorlegte Privatgutachten: „ln UK law, when considering questions of legitimacy, the Home Office look at the law of the place where the child was domiciled at the time of the child's brith. If the law treats a child as legitimate, the UK law will likewise recognise that status.“ sowie British Home Office „Nationality policy: children of unmarried parents“ vom 13.32019, a.a.O. S. 6: „Legitimacy depends on where the father was domiciled at the time of the child's birth.“). Das damit und aufgrund des Aufenthalts des Vaters des Klägers im Bundesgebiet zum Zeitpunkt der Geburt maßgebliche deutsche Abstammungsrecht kennt jedoch – anders als andere Rechtsordnungen – keine „illegitimen“ Kinder, was auch das britische Staatsangehörigkeitsrecht anerkennt und zwar unabhängig von der Frage, ob die Eltern miteinander verheiratet sind oder waren (vgl. British Home Office „Nationality policy: children of unmarried parents“ vom 13.3.2019, a.a.O., S. 8: „Many countries do not distinguish between children of married and unmarried parents. (…) If the laws of the country where the father is domiciled recognise the child as legitimate, then the child will be regarded as legitimate for the purposes of the British nationality law.“ sowie das vom Kläger vorgelegte Privatgutachten: „Therefore, if there is no concept of illegitimacy according to the law of the place of the fathers's domicile at the time of the child's birth the child born outside of marriage will be considered legitimate in UK law irrespective of whether the child's parents subsequently marry.“). Zum deutschen Abstammungsrecht weist das britische Home Office ausdrücklich auch auf die legitimierende Wirkung einer Vaterschaftsanerkennung nach deutschem Recht hin (Home Office, „Legitimacy and Domicile, Annex A – Legitimation laws in other countries“ vom 22. September 2022, Bl. 109 f der Gerichtsakte des Zulassungsverfahrens 10 ZB 20.2829 „The child's legitimacy requires the additional legal act oft the father's acknowledgement of paternity.“). Mit der wirksamen Vaterschaftsanerkennung nach § 1592 Nr. 2 BGB wurde der Kläger folglich zu einem im Sinne des britischen Rechts „legitimen“ Kind seines britischen Vaters. Soweit die Beklagte eingewandt hat, dass die Vaterschaftsanerkennung erst mit der Zustimmung der Kindsmutter im Februar 2020 und damit nach Erlass des angefochtenen Bescheids am 15. Januar 2020 wirksam geworden sei, folgt daraus nicht, dass der Kläger im Zeitpunkt des Bescheidserlasses rechtlich betrachtet kein britischer Staatsangehöriger gewesen wäre, denn die Vaterschaftsanerkennung wirkt auf den Zeitpunkt der Geburt zurück (Balzer in BeckOGK, Stand 1.2.2023, § 1592 BGB Rn. 98; Wellenhofer, Münchner Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 1592 Rn. 15).
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Im Übrigen spricht für die Richtigkeit der Darstellung des Klägers, er habe kein Verfahren zur Registrierung als britischer Staatsangehöriger angestrengt, insbesondere der von ihm vorgelegte maßgebliche Schriftwechsel unter dem Betreff „Passport application“ mit dem „HM Passport Office“. Zudem hat der Kläger eine Bestätigung vorgelegt, wonach sein Passantrag (nicht: Registrierungsantrag) bearbeitet werde („Your passport application is being processed.“). Auch gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass der Kläger etwa die für eine Registrierung erforderliche „citizenship ceremony“ (vgl. Section 41 des British Nationality Act 1981 durchlaufen oder ein „certificate of registration“ erhalten hätte (s. Section 41 (1) (d) (de) des British Nationality Act sowie den Leitfaden der britischen Regierung zur Registrierung als britischer Staatsangehöriger, abrufbar unter: https://www.gov.uk/government/publications/form-ukfguidance/form-ukf-guidance-accessible-version und näher https://www.gov.uk/citizenship-ceremonies). Die Beklagte ihrerseits hat keinerlei Belege für ihre Behauptung, der Kläger sei aufgrund einer Registrierung und damit erst im Jahr 2023 mit Wirkung für die Zukunft britischer Staatsangehöriger geworden, angeführt oder auch nur entsprechende Indizien genannt. Sie beschränkt sich vielmehr auf ein bloßes Bestreiten der substantiierten und mit Belegen unterfütterten Ausführungen des Klägers zur Sach- bzw. Rechtslage.
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Erweist sich der Kläger aber bereits als britischer Staatsangehöriger durch Abstammung („by descent“), gehen die Ausführungen der Beklagten zu den zeitlich begrenzten Wirkungen des Staatsangehörigkeitserwerbs durch Registrierung von vornherein an der Sache vorbei.
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(2) Der Kläger erfüllte auch die Voraussetzung eines mindestens fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet. Er war im Zeitraum spätestens vom 1. August 2009 (Beginn einer bis Ende 2020 andauernden Vollerwerbstätigkeit seiner Mutter) mindestens bis zum 13. Februar 2015 (Zeitpunkt des erstmaligen Bezugs von Jugendhilfeleistungen) nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU, der Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/38/EG umsetzt, aufenthaltsberechtigt, weil er als britischer Staatsangehöriger über ausreichende Existenzmittel einschließlich Krankenversicherungsschutz verfügte. Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) der RL 2004/38/EG sind ausreichende Existenzmittel solche, die sicherstellen, dass der Freizügigkeitsberechtigte die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats nicht in Anspruch nehmen muss. Ausreichende Mittel wurden ihm im genannten Zeitraum – letztlich unstreitig – ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch seine erwerbstätige, ihm Unterhalt gewährende Mutter vermit-telt, was nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausreichend ist (vgl. EuGH, U.v. 10.10.2013 – C-86/12 <A10kpa u. Moudoulou> -juris Rn. 27, 29, 30 u. Rn. 31 m.w.N.; BayVGH, U.v. 16.11.2022 – 10 B 20.2616 -juris Rn. 36). Mit Ablauf des Fünfjahreszeitraums spätestens am 1. August 2014 hat der Kläger ein Daueraufenthaltsrecht erworben. Da dieses Daueraufenthaltsrecht nach seiner Entstehung nicht mehr an die Voraussetzungen des Kapitels III und insbesondere von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/38/EG geknüpft war (vgl. EuGH, U.v. 13.9.2016 <Große Kammer> – C-165/14 <Rendón Marín> – juris Rn. 47 i.V.m. Rn. 53; BayVGH, U.v. 16.11.2022 – 10 B 20.2616 – juris Rn. 36), war der Bezug von Jugendhilfeleistungen ab dem 13. Februar 2015 für seinen Fortbestand von vornherein unschädlich.
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Das Daueraufenthaltsrecht ist auch nicht durch die Ausreise des Klägers am 20. Juli 2015 wieder erloschen. Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust (Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG). Da der Kläger bereits am 14. April 2016 wieder in das Bundesgebiet zurückgebracht worden war, hat seine Abwesenheit zwei aufeinanderfolgende Jahre nicht überschritten.
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Dieses Daueraufenthaltsrecht begründet auch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ein Daueraufenthaltsrecht (Art. 15 Abs. 1 Satz 1 des Austrittsabkommens i.V.m. Art. 16 RL 2004/38/EG).
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bb) Das Verhalten des Klägers, aufgrund dessen die Beklagte die Aufenthaltsbeendigung betreibt, fand vor dem Ende des Übergangszeitraums am 31. Dezember 2020 statt. Dies ergibt sich im Grunde bereits aus dem Umstand, dass die Beklagte den Kläger mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 15. Januar 2020 ausgewiesen und darin Handlungen des Klägers im Wesentlichen im Jahr 2018 und insgesamt – soweit ersichtlich – längstens bis Ende 2019 zur Begründung ihrer Entscheidung angeführt hat. Ein Fortsetzungszusammenhang von Handlungen des Klägers (d.h. ein Verhalten, dessen einzelne Komponenten einen einzigen Zweck verfolgen und die durch dieselbe oder eine ähnliche Art der Begehung sowie durch einen engen zeitlichen und gegenständlichen Zusammenhang miteinander verbunden sind), bei denen Handlungen des Klägers nach dem 31. Dezember 2020 für sich allein eine Ausweisung gerechtfertigt hätten (vgl. dazu BMI, Anwendungshinweise zur Umsetzung des Austrittsabkommens Vereinigtes Königreich – Europäische Union des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 29. April 2021, Nr. 15.27.) ist ebenfalls nicht ersichtlich.
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An dieser Beurteilung ändert auch der Umstand, dass sowohl eine Ausweisung auf Grundlage von §§ 53 ff. AufenthG als auch eine Verlustfeststellung nach §§ 6 und 7 FreizügG/EU eine aktuelle Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erfordern (stRspr, vgl. etwa BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 11), nichts. Für die Bestimmung des einschlägigen Aufenthaltsbeendigungsregimes maßgeblich bleibt insofern der Zeitpunkt des sicherheitsgefährdenden Verhaltens des Betroffenen, das Anlass für die Aufenthaltsbeendigung gibt. Für diese Lösung streitet nicht nur der Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 und 2 des Austrittsabkommens bzw. § 11 Abs. 12 Satz 1 FreizügG/EU, sondern auch dessen Sinn und Zweck. Wollte man im Rahmen von Art. 20 Abs. 1 und 2 des Austrittsabkommens bzw. § 11 Abs. 12 Satz 1 FreizügG/EU gleichsam auf das gesamte Verhalten des Betroffenen bis zur Entscheidung des Gerichts abstellen, hinge das maßgebliche Aufenthaltsbeendigungsregime letztlich vom Verhalten der Ausländerbehörden und der Gerichte ab, was mit der einschlägigen Regelung im Austrittsabkommen, die im Interesse des Rechtssicherheit erkennbar auf objektive Kriterien abstellen möchte, unvereinbar wäre.
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Nach alledem konnte die Beklagte gegen den Kläger keine auf § 53 ff. AufenthG gestützten Maßnahmen erlassen.
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6. Auch die Verpflichtungsklage ist begründet. Der Kläger hat nach dem oben Ausgeführten einen Anspruch auf die Ausstellung einer Bescheinigung über sein Recht auf Einreise und Aufenthalt i.S.v. § 16 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 15 Abs. 1 Satz 1 des Austrittsabkommens. Die Rechtsgrundlage hierfür ergibt sich aus § 16 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und S. 161 Abs. 2 VwGO. Hinsichtlich des übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärten Verpflichtungsklage auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländers (und die Anfechtung der damit zusammenhängenden Gebührenfestsetzung in Nr. 14 des angegriffenen Bescheids), die ein Viertel des Gesamtstreitwertes ausmacht, hält der Senat eine hälftige Kostenteilung für billig. Zwar haben die Ausführungen der Beklagten die Ablehnung der Erteilung eines Reiseausweises nicht getragen, weil der Kläger Inhaber eines Daueraufenthaltsrechts für britische Staatsangehörige war. Allerdings wäre weiter aufzuklären gewesen und ist damit offen, ob der Kläger bereits alles ihm Zumutbare unternommen hatte, einen britischen Reisepass zu erhalten, was Voraussetzung für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer gewesen wäre (vgl. § 5 Abs. 1 AufenthV, der nach § 79 AufenthV auch auf Ausländer anwendbar ist, deren Rechtsstellung durch das FreizügG/EU geregelt ist).
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO, § 708 ff. ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
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Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG.