Titel:
Kein Anspruch auf Verfahrensduldung – Chancen-Aufenthaltsrecht
Normenkette:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, § 104c Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Leitsätze:
1. Der Addition mehrerer Geldstrafen iRd § 104c Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG kann im ausländerrechtlichen Verfahren nicht entgegengehalten werden, es müsse eine Gesamtstrafe gebildet oder ein sog. Härteausgleich durchgeführt werden, da derartige Entscheidungen den Strafgerichten vorbehalten sind. (Rn. 7 – 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Überschreiten des in § 104c Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG genannten Strafmaßes besteht ein zwingender Versagungsgrund; in atypischen Fällen können jedoch auch geringfügigere Verurteilungen dem Betroffenen entgegengehalten werden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verfahrensduldung, Chancen-Aufenthaltsrecht, Verurteilung, Addition von Geldstrafen, Aufenthaltserlaubnis, Gesamtstrafe
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 03.07.2023 – M 24 S 23.2334, M 24 K 23.2333
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26219
Tenor
I. Die Verfahren 10 CS 23.1334 und 10 C 23.1335 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II. Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
III. Der Antragsteller hat die Kosten der Beschwerdeverfahren zu tragen.
VI. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren 10 CS 23.1334 wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.
Gründe
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Mit seiner Beschwerde im Verfahren 10 CS 23.1334 verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Eilantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO weiter, mit dem er die Verpflichtung des Antragsgegners zur einstweiligen Aussetzung seiner Abschiebung erreichen will. Mit der Beschwerde im Verfahren 10 C 23.1335 wendet er sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Eilverfahren (M 24 S 23.2334) und für die noch anhängige Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG (M 24 K 23.2333).
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Die Verfahren über die Beschwerden wurden gemäß § 93 Satz 1 VwGO zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
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1. Die zulässige Beschwerde im Verfahren 10 CE 23.1334 ist unbegründet. Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Abänderung der angegriffenen Entscheidung.
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Der Antragsteller hat – entgegen der Vorschrift des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO – im Beschwerdeverfahren keinen bestimmten Antrag gestellt. Seinem weiteren Vortrag und seinem Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren kann jedoch entnommen werden (§ 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO), dass er die einstweilige Aussetzung der Abschiebung und damit die Erteilung einer Duldung (§ 60a Abs. 2 AufenthG) begehrt, bis über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG (Chancen-Aufenthaltsrecht) entschieden ist.
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Der Antragsteller hat jedoch weiterhin nicht glaubhaft gemacht, dass ihm ein Anspruch auf Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis zusteht und ihm damit zur Sicherung dieses Anspruchs eine Duldung (sog. Verfahrensduldung) zu erteilen wäre.
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Eine – lediglich ausnahmsweise mögliche (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 30; BayVGH, B.v. 12.9.2022 – 10 CE 22.1925 – juris Rn. 4; B.v. 6.12.2021 – 10 CE 21.2930 – juris Rn. 3) – Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG setzt voraus, dass die Aussetzung der Abschiebung geboten ist, weil zweifelsfrei ein (Rechts-)Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels besteht beziehungsweise – wenn der Ausländerbehörde in Bezug auf die Titelerteilung Ermessen eröffnet ist – keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten (BayVGH, B.v. 1.12.2022 – 10 CE 22.2378, 10 C 22.2379 – juris Rn. 28; VGH BW, B.v. 22.10.2020 – VGH 11 S 1812/20 – juris Rn. 15; B.v. 2.3.2021 – VGH 11 S 120/21 – juris Rn. 16 jew. m.w.N.).
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Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass im Fall des Antragstellers eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht ausgeschlossen ist, weil die Voraussetzung des § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt ist. Hiernach wird verlangt, dass der Betroffene nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Der Antragsteller ist durch rechtskräftige Strafbefehle vom 25. November 2019 wegen Leistungserschleichung und Sachbeschädigung zu 40 Tagessätzen und vom 14. Januar 2020 wegen Leistungserschleichung zu 30 Tagessätzen verurteilt worden. Die Geldstrafen von „insgesamt“ 70 Tagessätzen übersteigen damit die Grenze von 50 Tagessätzen, bis zu der die Verurteilungen „grundsätzlich“ außer Betracht bleiben.
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Der Antragsteller wendet in seiner Beschwerde lediglich ein, dass die beiden Geldstrafen nicht addiert werden dürften, sondern eine Gesamtstrafe gebildet werden müsste oder ein sog. Härteausgleich durchzuführen wäre. Dem steht jedoch entgegen, dass derartige Entscheidungen (vgl. § 55 StGB; von Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, Stand 1.8.2023, § 55 Rn. 20 u. 26 ff.) den Strafgerichten zustehen und nicht von Verwaltungsgerichten (oder Ausländerbehörden) „korrigierend“ nachzuvollziehen oder zu ersetzen sind (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2022 – 10 CS 21.1706 – juris Rn. 6). Solange eine derartige strafgerichtliche Entscheidung nicht vorliegt, muss der Antragsteller die rechtskräftigen Urteile bzw. Strafbefehle gegen sich gelten lassen.
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Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die gegen den Antragsteller verhängten Geldstrafen zu addieren sind; das ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Norm („insgesamt“). Die strafrechtlichen Verurteilungen können dem Antragsteller solange entgegengehalten werden, wie sie im Bundeszentralregister nicht getilgt oder zu tilgen sind (VGH BW, B.v. 21.7.2023 – 11 S 1153/23 – juris Rn. 7 ff.; OVG Hamburg, B.v. 2.6.2023 – 6 Bs 60/23 – juris Rn. 25; OVG Berlin-Bbg, B.v. 1.6.2023 – 3 S 10/23 – juris Rn. 2 f.). Bei Überschreiten des in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Strafmaßes besteht ein zwingender Versagungsgrund; das am Ende der Vorschrift genannte Wort „grundsätzlich“ bedeutet, dass in atypischen Fällen auch geringfügigere, also die genannten Obergrenzen des Strafmaßes unterschreitende Verurteilungen nicht außer Betracht bleiben müssen, sondern dem Betroffenen entgegengehalten werden können (OVG Hamburg, B.v. 2.6.2023 – 6 Bs 60/23 – juris Rn. 26 m.w.N.; VG München, B.v. 27.6.2023 – M 27 E 23.1734 – juris Rn. 28).
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Unabhängig davon steht dem Antragsteller aber auch deswegen jedenfalls derzeit kein Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis zu, weil gegen ihn weitere strafrechtliche Verfahren anhängig sind. Zum einen wurde er bereits wegen verschiedener Widerstands- und Körperverletzungsdelikte erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt; über die Berufung ist noch nicht entschieden. Zum anderen wurde er wegen weiterer Widerstandsdelikte von der Staatsanwaltschaft angeklagt. Die Ausländerbehörde wäre daher auch deswegen gemäß § 79 Abs. 2 AufenthG an der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gehindert; vielmehr müsste sie zwingend die Entscheidung über den Aufenthaltstitel bis zur Rechtskraft der strafgerichtlichen Entscheidung aussetzen.
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2. Die Beschwerde (10 C 23.1335) gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe in Nr. IV. und V. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts ist ebenfalls unbegründet, weil das Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Eilrechtsschutz- und das Klageverfahren des Antragstellers aus den oben dargelegten Gründen mangels hinreichender Erfolgsaussichten (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO) zu Recht abgelehnt hat.
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3. Die Kostenentscheidung für beide Beschwerdeverfahren folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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3. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren 10 CS 23.1334 beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 2 GKG. Einer Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren 10 C 23.1335 bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine Festgebühr anfällt.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).