Inhalt

VG München, Urteil v. 25.07.2023 – M 1 K 20.6108
Titel:

Vorbescheid für Wohnhaus - Geltendmachung der Unwirksamkeit eines Bebauungsplans als Verstoß gegen Treu und Glauben

Normenketten:
BayBO Art. 71
BauGB § 30 Abs. 1
BGB § 242
Leitsätze:
1. Die Grundsätze von Treu und Glauben können die Befugnis zur Geltendmachung der Unwirksamkeit eines Bebauungsplans beschränken. In Betracht kommt die Annahme eines treuwidriges Verhalten etwa dann, wenn der Kläger zunächst eine ihm günstige Festsetzung eines Bebauungsplans, etwa im Form einer ihm erteilten Baugenehmigung ausnutzt und sich erst dann gegen die ihn ungünstige Festsetzung wendet. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Treuwidrig ist es (auch), wenn der Kläger zunächst eine Änderungsplanung anstößt, diese dann ausnutzt, indem er das damit geschaffene neue Baurecht verwirklicht und sodann deren Unwirksamkeit vorträgt, um zusätzlich das Baurecht der alten Plansituation zu verwirklichen. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorbescheid für Wohnhaus, kein Berufen auf die Unwirksamkeit eines Bebauungsplans wegen widersprüchlichen Verhaltens, Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans (abgelehnt), Treu und Glauben, Änderungsplanung, Festsetzung von Baugrenzen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26071

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Kläger begehren die Erteilung eines Bauvorbescheids für die Errichtung eines Doppelwohnhauses.
2
Die Kläger sind seit dem Jahr 2012 Eigentümer des Grundstücks FlNr. …/8 Gem. … (im Folgenden: Vorhabengrundstück). Dieses ist ca. 1.800 m² groß und hängig; zwischen der daran südlich angrenzenden Straße und der nördlichen Grundstücksgrenze besteht ein Höhenunterschied von ca. 15 m. Der nördliche Grundstücksteil ist mit einem Einzelhaus bebaut. Nördlich an das Grundstück angrenzend liegt das ebenfalls im Eigentum der Kläger stehende Grundstück FlNr. 105/4 Gem. …
3
Das Vorhabengrundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans „Ortsteil …“. Dessen Urfassung vom 23. Juli 1965 setzt als Art der zulässigen Nutzung ein allgemeines Wohngebiet fest und sieht für das Vorhabengrundstück im südlichen Bereich ein Baufenster von ca. 13 x 8 m vor. Es werden ferner die Mindestgröße der Baugrundstücke von 700 m² und eine zulässige Geschossflächenzahl von höchstens 0,25 bei einem Vollgeschoss und von höchstens 0,35 bei zwei Vollgeschossen festgesetzt.
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Zu diesem Bebauungsplan führte die Beigeladene einige Änderungsverfahren durch. Die hier maßgebliche Änderung wurde am 11. Februar 2016 als Satzung beschlossen und anschließend bekanntgemacht. Die Änderungen betreffen ausschließlich das Vorhabengrundstück und das nördlich gelegene Grundstück FlNr. …/4. Der Änderungsbebauungsplan sieht weiterhin nur ein Baufenster, gelegen im nördlichen Bereich des Vorhabengrundstücks, vor. Es ist die Errichtung eines einzelnen Hanghauses, mit talseitig zwei Vollgeschossen und bergseitig einem Vollgeschoss zulässig; ferner werden Flächen für Nebenanlagen ausgewiesen. Eine Geschoßflächenzahl von höchstens 0,35 ist festgesetzt. In den textlichen Festsetzungen wird eine maximale überbaubare Fläche für die Wohngebäude von 200 m² vorgegeben. Die weiteren Zeichenerklärungen und Festsetzungen des Urbebauungsplans werden für weiterhin geltend erklärt.
5
Mit Erklärung vom 2. Mai 2016 stellte die Beigeladene einen Bauantrag der Kläger für die Errichtung eines Wohnhauses mit drei Wohneinheiten auf Grundlage des geänderten Bebauungsplans von der Genehmigung frei. Das Haus wurde in der Folge errichtet.
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Einen Vorbescheidsantrag vom 15. April 2018 zur Errichtung eines Doppelhauses im Süden des Grundstücks außerhalb des Baufensters des Änderungsplans nahmen die Kläger nach Anhörung zur beabsichtigten Ablehnung zurück.
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Unter dem 23. Juli 2020 beantragten die Kläger erneut einen Bauvorbescheid und fragten die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der Errichtung eines Doppelhauses im südlichen Teil des Vorhabengrundstücks nebst Garagen und Stellplätzen ab.
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Die Beigeladene verweigerte am 31. August 2020 das gemeindliche Einvernehmen und leitete die Unterlagen an das Landratsamt weiter.
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Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 29. Oktober 2020, den Klägern am 31. Oktober 2020 zugestellt, die Erteilung eines positiven Bauvorbescheids ab und verneinte die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens. Der Bebauungsplan in der 24. Änderungsfassung sehe im südlichen Grundstücksbereich, in dem das Vorhaben geplant sei, keine Baugrenzen vor. Die Erteilung einer Befreiung komme nicht in Betracht, ohnehin sei kein Antrag gestellt.
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Die Kläger, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, haben am … November 2020 Klage erhoben und beantragen,
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I. Der ablehnende Vorbescheid des Landratsamts … vom 29. Oktober 2020, Az. …, wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den beantragten Vorbescheid zu erteilen.
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II. Vorsorglich: die Beklagte wird verpflichtet, den Antrag der Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
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Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens sei nach den Vorschriften über den Innenbereich zu beurteilen. Der Änderungsbebauungsplan sei unwirksam; der Urbebauungsplan sei zumindest hinsichtlich der festgesetzten Baugrenzen funktionslos geworden. Die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung in der Änderungsfassung seien mit den Vorhaben der Baunutzungsverordnung unvereinbar, weil die zwingend erforderliche Festsetzung der Grundflächenzahl bzw. der Größe der Grundflächen der baulichen Anlagen fehle. Zwar sei unter Nr. 1.3 eine maximal überbaubare Grundstücksfläche von 200 m² für Wohngebäude festgesetzt, jedoch sei dies nicht von den Ermächtigungsgrundlagen der Baunutzungsverordnung gedeckt. Es sei ein Summenmaß für alle baulichen Anlagen auf einem Baugrundstück anzugeben; hier würden die Nebenanlagen nicht berücksichtigt. Das Defizit werde auch von der festgesetzten Baugrenze nicht ausgeglichen, weil dieser Festsetzung ein anderer Regelungszweck zukomme als denen zum baulichen Maß. Es sei von der Gesamtunwirksamkeit des Bebauungsplans auszugehen. Der Urbebauungsplan aus dem Jahr 1965 sei zumindest hinsichtlich der Baugrenzen funktionslos geworden. Die festgesetzten Baulinien bzw. -grenzen würden auf nahezu keinem Grundstück in der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks eingehalten; auf den Grundstücken FlNrn. …/9, …/10, …/17, …/18, …/1, …/2, …/2 und …/4 würden sie entweder deutlich überschritten, oder die Bebauung sei an einer anderen Stelle, also außerhalb der Bauräume errichtet worden. Darüber hinaus entspräche der Bestand weder hinsichtlich des Maßes noch der Ausgestaltung den planerischen Vorgaben. Einzig auf den Grundstücken FlNrn. …/12 und …/19 entspreche die Bebauung den Festsetzungen. Das streitgegenständliche Vorhaben entspreche im Übrigen weitestgehend den Vorgaben des Plans. Das Vorhaben füge sich in die maßgebliche Umgebung in allen Belangen ein, und die Erschließung sei gesichert.
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Der Beklagte beantragt
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Klageabweisung.
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Die Klage sei unzulässig, weil das Begehren der Kläger rechtsmissbräuchlich sei. Auch die Ausübung prozessualer Rechte unterliege den Geboten von Treu und Glauben; und die prozessuale Durchsetzung von Rechten sei demjenigen Bauwerber verwehrt, der der sich durch seinen Bauantrag in Widerspruch zu seinem eigenen vorherigen Verhalten setze. Es sei treuwidrig, zunächst gestützt auf eine grundstücksbezogene Änderung des Bebauungsplans ein Wohnhaus mit drei Wohneinheiten verwirklicht zu haben und sich sodann auf die Unwirksamkeit genau dieses Bebauungsplans zu berufen, um ein weiteres Baurecht zu erlangen. Die Beigeladene halte im Übrigen an dem Planungskonzept fest; eine weitere Verdichtung werde nicht verfolgt. Die liege zum einen an der Hanglage, zum anderen sei durch die Lage an der Autobahn eine auch gutachtlich festgestellte erhebliche Lärmbelästigung gegeben. Ein Antrag auf Befreiung von den Baugrenzen liege nicht vor und könne im Übrigen nicht positiv beschieden werden.
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Hierauf erwidert die Klagepartei, dass der Vorwurf des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens abwegig sei. Die Kläger hätten sich keineswegs in Widerspruch zu ihrem ursprünglichen Verhalten gesetzt. Die Beigeladene habe bereits seit dem Jahr 2001 eine Bebaubarkeit mit zwei Wohnhäusern in Aussicht gestellt und später sogar einer Ausweisung von drei Baugrundstücken offen gegenübergestanden. Es sei stets das Anliegen der Kläger gewesen, ein zweites Baurecht zu schaffen, und dies sei auch offen kommuniziert worden. Ein einzelnes Baurecht sei nie in ihrem Sinne gewesen, damit entspreche die Änderungsplanung nicht ihren Wünschen. Der Bebauungsplan sei zu keinem Zeitpunkt unter Mitwirkung der Kläger individuell zu deren Gunsten abgeändert worden. Eine Ausweisung zusätzlichen Baurechts sei wegen der Hanglage und der damit verbundenen Niederschlagswassersituation des Grundstücks abgelehnt worden. Im Jahr 2013 hätten die Kläger festgestellt, dass ein kommunaler Abwasserkanal durch das Baufenster des Urbebauungsplans laufe. Dessen Beseitigung habe die Beigeladene ablehnend gegenübergestanden, sodass die Kläger um eine Bebauungsplanänderung gebeten hätten, nämlich um die Verlegung des Baufensters nach Norden und die Ausweisung eines weiteren Baurechts im Süden. Das hierfür geforderte Entwässerungsgutachten sei erbracht worden. Der Gemeinderat habe einer Verlegung des Baurechts nach Norden zugestimmt, jedoch die Schaffung weiteren Baurechts im Süden wegen der nicht vorhandenen Oberflächenentwässerung abgelehnt. Die Kläger hätten durch den Änderungsbebauungsplan nicht mehr erreicht, als ihnen wegen eines Planungsfehlers der Beigeladenen und deren Weigerung, einer störenden Situation abzuhelfen, ohnehin zugestanden habe. Eigentlich hätten sie einen gesetzlichen Anspruch auf die Verwirklichung des Baurechts aus dem Urbebauungsplan, von dem sie wegen des Kanals keinen Gebrauch hätten machen können. Die Verschiebung des Bauraums sei daher nicht auf Wunsch der Kläger erfolgt. Sie seien ja auch bereit gewesen, ihren Bauwunsch auf dem „alten“ Baufenster zu realisieren, jedoch sei die hierfür erforderliche Kanalbeseitigung nicht erfolgt. Die Beigeladene habe sich dazu geweigert bzw. Schreiben der Kläger seien ignoriert worden. Ein Vorteil komme den Klägern nicht zugute, sondern es sei nur die Möglichkeit geschaffen worden, von dem Baurecht des Urbebauungsplans Gebrauch zu machen. Durch die neue Lösung der Kanalthematik, die bisher eine Bebauung der südlichen Grundstückshälfte verhinderte, ergebe sich eine neue Situation. Mit Funktionsloswerden der alten Kanaltrasse bestehe erstmals die tatsächliche Möglichkeit, den im Bebauungsplan von 1965 vorgesehenen Bauraum zu bebauen. Durch die rechtswidrige Änderungsplanung werde dies vereitelt. Im Übrigen hätte die Beigeladene die Schaffung eines zweiten Baurechts stets von einer Kanallösung abhängig gemacht; diese sei nun beschlossen.
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Die Beigeladene stellt
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keinen Antrag.
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Die Kammer hat am 25. Juli 2023 mündlich zur Sache verhandelt.
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Zum Vortrag im Übrigen und zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erteilung des beantragten Vorbescheids. Die ablehnende Beantwortung im Bescheid vom 29. Oktober 2020 erweist sich als rechtmäßig, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
24
Streitgegenstand ist der Vorbescheidsantrag vom 23. Juli 2020, mit dem die Kläger die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens auf dem leicht südlich gelegenen Teil des Vorhabengrundstücks FlNr. 105/8 Gem. … auf der Grundlage von Art. 71 Abs. Satz 1 i.V.m. Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO, §§ 29 bis 38 BauGB abfragen.
25
I. Das Vorhaben der Kläger ist planungsrechtlich unzulässig, § 30 Abs. 1 BauGB.
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1. Das Vorhaben verstößt gegen die Festsetzungen des Bebauungsplans „Ortsteil …“ in Form der Änderungssatzung vom 11. Februar 2016 (von den Beteiligten als 24. Änderung bezeichnet). Der Bebauungsplan setzt Baugrenzen gemäß § 23 Abs. 3 BauNVO im nördlichen Teil des Vorhabengrundstücks fest, die das hiervon südlich platzierte Vorhaben nicht einhält. Das im Plan vorgesehene Baufenster ist vielmehr bereits durch das mit Erklärung vom 2. Mai 2016 freigestellte und in der Folge errichtete Vorhaben ausgeschöpft.
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2. Die Kläger können sich nicht auf die Unwirksamkeit der 24. Änderung des Bebauungsplans berufen.
28
a) Der Vortrag der Klagepartei, wonach der Bebauungsplan unwirksam ist, weil es an der nach § 16 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO zwingenden Festsetzung eines Summenmaßes für alle baulichen Anlagen fehlt (vgl. hierzu z.B. BayVGH, U.v. 5.2.2016 – 1 N 11.766 – juris Rn. 13 ff.), würde dazu führen, dass das Vorhaben an den Festsetzungen des Urbebauungsplans – vorbehaltlich seiner Wirksamkeit – zu messen wäre. Indes kommt es darauf nicht an. Der Vortrag zur Unwirksamkeit der Änderungsplanung kann nicht gehört werden, weil sich die Kläger damit in einen mit Treu und Glauben unvereinbaren Widerspruch zu ihrem eigenen Verhalten setzen.
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aa) Die Grundsätze von Treu und Glauben können die Befugnis zur Geltendmachung der Unwirksamkeit eines Bebauungsplans beschränken. Ein rechtfertigender Grund für eine Beschränkung des Bauherrn dahingehend, dass er sich auf eine etwaige Unwirksamkeit der Festsetzungen des Bebauungsplans nicht mehr berufen kann, kann sich aus den auch im öffentlichen Recht heranzuziehenden Grundsätzen von Treu und Glauben ergeben kann, etwa in der Fallgruppe des Verbots widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium). Kann sich der Bauherr auf eine etwaige Unwirksamkeit der Festsetzungen eines Bebauungsplans nicht berufen, liegt darin eine Beschränkung des in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthaltenen Grundrechts auf effektiven und lückenlosen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt, die einer Rechtfertigung durch entsprechend gewichtige Sachgründe bedarf. Denn es gehört zur richterlichen Prüfungskompetenz, die Gültigkeit einer Rechtsnorm, insbesondere ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, zu überprüfen, sofern es für den Ausgang des Rechtsstreits hierauf ankommt. Ein rechtfertigender Grund für eine Beschränkung des Rechtsschutzes kann sich im Einzelfall aus dem Gebot von Treu und Glauben ergeben. Ob der Tatbestand der Treuwidrigkeit erfüllt ist, richtet sich, und darauf weist die Klagepartei zu Recht hin, nach den besonderen Umständen des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 11.2.2019 – 4 B 28/18 – juris Rn. 6 und 8). In Betracht kommt die Annahme eines treuwidriges Verhalten etwa dann, wenn der Kläger zunächst eine ihm günstige Festsetzung eines Bebauungsplans, etwa im Form einer ihm erteilten Baugenehmigung ausnutzt und sich erst dann gegen die ihn ungünstige Festsetzung wendet (BVerwG, U.v. 23.1.1992 – 4 NB 2/90 – juris Rn. 14). Der Vorwurf kann auch dann erhoben werden, wenn der Betroffene zunächst im Rahmen von Vergleichsverhandlungen die Bereitschaft der Gemeinde ausnutzt, den mit Normenkontrollantrag angegriffenen Bebauungsplan entsprechend seinen eigenen Vorschlägen und zu seinen Gunsten zu ändern, und nach Erhalt einer auf die Planänderung gestützten Baugenehmigung die gerichtliche Feststellung begehrt, dass der Bebauungsplan vor der in seinem Interesse erfolgten Planänderung nichtig gewesen sei (BVerwG, B.v. 14.11.2000 – 4 BN 54/00 – juris Rn. 4). Die Voraussetzungen für rechtsmissbräuchliches Verhalten wurden auch dann angenommen, als der Betroffene eine nach Erlass des Bebauungsplans erteilte Baugenehmigung ausnutzte, den die planende Gemeinde als vorhabenbezogenen Bebauungsplan auf Wunsch der Klägerin und in enger Abstimmung mit ihr erlassen hat (BVerwG, B.v. 19.12.2018 – 4 B 6/18 – juris Rn. 6). Die dazu ergangene Rechtsprechung befasst sich überwiegend mit der Frage der Antragsbefugnis in Normenkontrollverfahren, ist aber auf die hier inzident erfolgende Berufung auf die Unwirksamkeit eines Bebauungsplans im Rahmen einer Verpflichtungsklage entsprechend heranzuziehen (vgl. auch VGH Mannheim, U.v. 8.3.2018 – 8 S 1464/15 – juris Rn. 87 ff.).
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bb) Hier ist ein solcher Einzelfall treuwidrigen Verhaltens zu bejahen.
31
Ein Widerspruch zu ihrem eigenen Verhalten ergibt sich daraus, dass die Beigeladene die Änderungssatzung vom 11. Februar 2016 auf Wunsch der Kläger (vgl. Antrag v. 13.10.2014 im gemeindlichen Akt unter „7. GR-Beschlüsse“) und in Abstimmung mit deren Architektin, Frau Dipl.-Ing. S. D., erlassen hat. Die Kläger und die Beigeladene waren sich bei der Einleitung des Verfahrens darüber einig, dass der für maßgeblich erachtete Urbebauungsplan dem hier streitgegenständlichen Vorhaben der Kläger, nämlich ein Gebäude im nördlichen Teil des Grundstücks zu errichten, entgegengestand. Erst die Änderungsplanung ermöglichte den Klägern die Verwirklichung des Vorhabens. Unter Ausnutzung der Änderungsplanung erhielten sie Baurecht für das Wohnhaus, das nach den Vorgaben des Urbebauungsplanes nicht bestanden hätte, und machten durch Errichtung des Wohnhauses im Wege des Freistellungsverfahrens auch umfassend Gebrauch. Von einer Verschlechterung der Rechtsposition kann also keine Rede sein, zumal, worauf der Beklagtenvertreter zutreffend hinweist, das neu geschaffene Baufenster ein größeres Baurecht vermittelt als das des Urbebauungsplans. Die hier in Rede stehende Planung, auf deren Unwirksamkeit sich die Kläger jetzt berufen, wurde einzig durch die Kläger angestoßen und erfolgte ausschließlich für ihre Grundstücke; die Kläger beteiligten sich zudem an den Planungskosten. Im städtebaulichen Vertrag heißt es dazu auch, dass der Kostenträger (d.h. die Kläger) an der Änderung des Bebauungsplans „interessiert“ ist und daher bereit ist, die hälftigen Kosten zu übernehmen. Der Vortrag, dass die Kläger gegenüber der Beigeladenen stets kommuniziert hätten, dass sie zwei Baufenster wünschten, ist zwar zutreffend, kann aber in der Abwägung nicht zu ihren Gunsten gewertet werden. Damit wird nahegelegt, dass die Beigeladene von vornherein damit hätte rechnen müssen, dass sich die Kläger auf eine Unwirksamkeit berufen, weil sie unter allen Umständen ein weiteres Baurecht erstrebten. Maßgeblich für die Annahme der Treuwidrigkeit ist aber, dass die Kläger zunächst die Änderungsplanung anstoßen, dann ausnutzen, indem sie das damit geschaffene neue Baurecht verwirklichen und nun deren Unwirksamkeit vortragen, um zusätzlich das Baurecht der alten Plansituation zu verwirklichen. Angesichts der von Anbeginn bestehenden Absicht, (mindestens) zwei Häuser errichten zu wollen, liegt nahe anzunehmen, dass hier ein vorsätzliches und planvolles Handeln der Kläger erfolgte und schon vorher die Absicht bestand, nach Errichtung des Wohnhauses die Änderungsplanung anzugreifen, zumal die Entwurfsverfasserin des für fehlerhaft erachteten Plans die Architektin Frau Dipl.-Ing. S. D. ist, die zugleich im Namen der Kläger die Änderung des Bebauungsplans beantragte. Die Kläger verkennen ferner den Umfang der kommunalen Planungshoheit, wenn sie beständig Anspruch auf Erteilung weiterer Baurechte erheben. Das Argument, die Änderungsplanung habe lediglich einen Planungsfehler der Beigeladenen bereinigt, vermag nicht durchzugreifen. Soweit die Kläger sich auf das Verlaufen des Kanals durch das südliche Baufenster berufen, bestand entgegen ihrer Ansicht zu keinem Zeitpunkt ein irgendwie gearteter Anspruch auf die Verrückung des Baufensters von Süden nach Norden. Vielmehr hätte es sich angeboten, die Beseitigung des Kanals einzuklagen bzw. im Falle hier wahrscheinlich eingetretener Verjährung dieses Beseitigungsanspruchs die Beseitigung selbst durchzuführen (vgl. etwa BayVGH, U.v. 8.2.2012 – 4 B 11.175 – juris Rn. 28, 29). Auch der Umstand, dass dieses Tätigwerden den Klägern durch die Änderungsplanung, auch im Hinblick auf die damit verbundenen Prozessrisiken, erspart blieb, ist im Übrigen als ein Vorteil zu werten. Soweit eingewandt wird, die Beigeladene hätte selbst die Schaffung eines zweiten Baurechts in Aussicht gestellt, ist dies unerheblich angesichts des Umstands, dass weder eine rechtliche Verbindlichkeit etwa in Form einer Zusicherung noch ein förmliches Satzungsverfahren hierzu erfolgte. Im Übrigen spricht auch der zeitliche Zusammenhang von lediglich ca. vier Jahren zwischen dem Genehmigungsfreistellungsverfahren auf Grundlage der Änderungssatzung bzw. der Errichtung des Wohnhauses einerseits und dem Berufen auf die Unwirksamkeit eben dieser andererseits nicht gegen die Annahme treuwidrigen Verhaltens.
32
b) Die Überplanung ist auch nicht funktionslos geworden.
33
Anders als Klägerseite meint, ist die Frage der Funktionslosigkeit nicht nur in dem Fall zu prüfen, dass sich die Kläger auf die Unwirksamkeit der Änderungsplanung berufen können. Vielmehr würde nach Auffassung der Kammer eine etwaige Funktionslosigkeit des Urbebauungsplans in der Fassung seiner Änderungssatzungen dazu führen, dass den Klägern schon kein treuwidriges Verhalten angelastet werden könnte. Denn im Falle der Funktionslosigkeit hätte es der – für unwirksam erachteten – Änderungsplanung schon nicht bedurft, und das Baurecht hätte sich nach den Maßstäben des § 34 BauGB gerichtet. Indes ist hier nicht von einer Funktionslosigkeit auszugehen.
34
Eine bauplanerische Festsetzung tritt wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit – erstens – die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt. Hinzutreten muss als zweite Voraussetzung eine bestimmte Offenkundigkeit des Mangels. Die zur Funktionslosigkeit führende Abweichung zwischen der planerischen Festsetzung und der tatsächlichen Situation muss – zweitens – in ihrer Erkennbarkeit einen Grad erreicht haben, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – juris Rn. 35). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend ist vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im gesamten Geltungsbereich des Bebauungsplanes noch einen wirksamen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern. Angesichts der zu stellenden strengen Anforderungen werden Bebauungspläne nur in äußerst seltenen Fällen funktionslos (BVerwG, U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3.97 – juris; vgl. auch BayVGH, U.v. 27.5.2020 – 1 B 19.544 – juris Rn. 18).
35
Die Klagepartei rügt insoweit, dass der Urbebauungsplan zumindest hinsichtlich der Baugrenzen funktionslos geworden sei. Mit diesem Vortrag dringt sie nicht durch.
36
aa) Eine hinreichend substantiierte Auseinandersetzung mit den baulichen Verhältnissen im Plangebiet erfolgte durch die Klägerseite nicht.
37
(1) Maßgeblich für den Abgleich der tatsächlichen Verhältnisse mit dem Planzustand ist nicht der Urbebauungsplan, wie die Klagepartei meint, sondern dieser in der Fassung der später erfolgten Änderungen, weil diese keine tatsächlichen, sondern rechtliche Änderungen darstellen.
38
(2) Die Kammer legt der Beurteilung das gesamte Plangebiet zugrunde. Denn das sich offenbarende planerische Konzept, die Bestandsbebauung festzuschreiben und nur maßvoll zu verdichten, findet auf den gesamten Umgriff Anwendung.
39
Die von der Klagepartei benannten acht Grundstücke, auf denen die Baugrenzen nicht eingehalten sein sollen, stellen einen Bruchteil, näherungsweise ein Achtel der überplanten Fläche dar, die ihrerseits eine Ausdehnung von stellenweise ca. 500 m auf 300 m hat. Es kann damit als zutreffend unterstellt werden, dass auf den klägerseits genannten Grundstücken die Festsetzung nicht eingehalten werden. Abweichungen auf einzelnen Grundstücken nehmen dem Plan nicht zur Gänze seine Steuerungsfunktion. Bei Abweichungen auf einem derart untergeordneten Teil der Fläche kann nicht der Schluss gezogen werden, dass damit die Festsetzung für das gesamte Gebiet obsolet geworden wäre. In Übrigen lässt ein kursorischer Abgleich der planerischen Vorgaben mit den tatsächlichen Verhältnissen erkennen, dass vor allem im Westen und im Norden des Plangebiets die Baugrenzen überwiegend eingehalten werden.
40
bb) Selbst wenn man einen engeren Umgriff für die Beurteilung für maßgeblich hielte, wie dies möglicherweise die Klagepartei meint, ohne dies weiter zu begründen, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Ausgehend von der Lage des Vorhabengrundstücks wäre hier das Geviert zwischen den Straßen Am I. im Süden, der H. Straße im Süden und Westen und der S.-straße im Westen/Norden in den Blick zu nehmen.
41
(1) Die Klagepartei führt in diesem Bereich fünf Grundstücke ins Feld, die sie konkret bezeichnet und hierzu vorträgt, dass auf diesen die festgesetzten Baulinien bzw. -grenzen nicht eingehalten seien. Auch dieser Vortrag ist angesichts des Umstands, dass das Gebiet (heutzutage) ca. 25 Flurstücke umfasst, nicht hinreichend substantiiert. Auch hier kann mit denselben Erwägungen wie vorstehend als zutreffend unterstellt werden, dass auf den genannten Grundstücken die festgesetzten Baugrenzen nicht eingehalten werden. Denn die genannten Grundstücke machen flächenmäßig nicht einmal ein Fünftel des Gevierts aus.
42
(2) Die Planung ist ersichtlich darauf angelegt, die Bestandsbebauung festzuschreiben, diese maßvoll zu erweitern (FlNr. 107) und nur vereinzelt neue Baufenster zu schaffen (FlNrn. 107/2, 105/9, 105/8). Diese Steuerungsfunktion hat der Bebauungsplan nicht verloren. Den planerischen Vorgaben entsprechen die Grundstücke FlNrn. 105/2, 105/3, 105/5, 105/6, 105/4 104/4 sowie der sich hieran in östlicher Richtung anschließende Bereich, die weiterhin unbebaut sind. Im Wesentlichen eingehalten dürften die festgesetzten Baugrenzen auf den Grundstücken FlNrn. 105/12, 105/8 (dem Vorhabengrundstück), 104/1, 105/19, 106, 105/13, 105/7 sein. Auf den Grundstücken FlNrn. 104/2, 105/10, 105/18, 105/17 und 11 liegen zwar Abweichungen vor, weil das vorgesehene Baufenster überschritten wird. Gleichwohl erfolgte die Platzierung der Hauptbaukörper jedenfalls näherungsweise in dem vorgesehenen Baufenster. Diese vorliegenden Abweichungen ebenso wie die Errichtung von Vorhaben gänzlich außerhalb des Baukörpers (Grundstück FlNr. 105/9) oder die leichte Verschiebung des Baukörpers (FlNr. 107/2) sind nicht so gravierend, dass die Steuerungsfunktion des Bebauungsplans nicht mehr gegeben wäre. Zu beachten ist bei Abgleich der Bestandsbebauung mit den planerischen Vorgaben ferner, dass der Bebauungsplan die Zulassung von Nebenanlagen außerhalb der Bauräume ausnahmsweise ermöglicht, sodass außerhalb der Baugrenzen errichtete Garagen gleichwohl plankonform sein können.
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cc) Insgesamt betrachtet kann trotz der aufgezeigten Verstöße gegen die Festsetzung von Baugrenzen kein Zustand erkannt werden, der eine Verwirklichung der hier für das Vorhaben Geltung beanspruchenden Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt. Dies gilt umso mehr, als die Annahme einer Funktionslosigkeit in äußerst seltenen Fällen erfolgt. Zudem fehlt es an der erforderlichen Offenkundigkeit. Die ohne weiteres erkennbaren Verstöße sind zahlenmäßig gering; weitere Verstöße lassen sich erst durch einen Detailabgleich zwischen dem tatsächlichen und dem Zustand ermitteln, wie ihn der Bebauungsplan vorsieht. Wenn dies auch von der Warte eines objektiven Betrachters zu beurteilen ist, ist es doch als Indiz zu werten, dass die Kläger ihrerseits in den vergangenen Jahren keineswegs einen Mangel erkannten. Vielmehr erachteten sie die Festsetzungen des Bebauungsplans in seinen Änderungsfassungen für sich zwar als unpassend, gleichwohl aber als wirksam. Dies war schließlich auch ihr Grund, die Änderungsplanung anzustoßen.
44
c) Es verbleibt damit bei dem rechtlichen Maßstab des geänderten Bebauungsplans, wonach das Vorhaben unzulässig ist, weil es gegen die festgesetzten Baugrenzen verstößt.
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3. Selbst wenn der Einwand der Unwirksamkeit der Änderungsplanung durchgriffe, wäre das Vorhaben unzulässig. In diesem Fall wären die Festsetzungen des Urbebauungsplans in der Fassung der 23. Änderung zugrunde zu legen, die aus den o.g. Gründen nicht funktionslos geworden sind. Mit diesen Festsetzungen ist das Vorhaben, wie die Klagepartei selbst vorträgt, nicht vereinbar, sondern entspricht diesem nur „weitgehend“ und würde den Bauraum auch nur „überwiegend“ einhalten (Schriftsatz der Klagepartei vom … Januar 2021, S. 11).
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II. Die Klage ist daher mit der Kostenfolge gemäß § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Kosten der Beigeladenen waren nicht erstattungsfähig, weil diese keinen Prozessantrag gestellt hat und sich damit auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, §§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.