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AG Neu-Ulm, Beschluss v. 24.04.2023 – 15 M 858/23
Titel:

Vollstreckungsschutz bei Räumung von Wohnraum wegen unzureichender Gelegenheit zur Ersatzraumbeschaffung

Normenkette:
ZPO § 765a
Leitsätze:
1. Hat ein Kapitalanleger einen Zuschlags- bzw. Räumungsbeschluss aus der Teilungszwangsversteigerung erhalten, kann die einstweilige Einstellung der Räumungszwangsvollstreckung gemäß § 765 a ZPO gerechtfertigt sein, wenn der Schuldner keine ausreichende Gelegenheit hatte Ersatzwohnraum zu finden. (Rn. 32)
2. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Gläubiger eine Mitursache dafür setzt, dass der Schuldner die Ersatzwohnraumbeschaffung nicht forciert, etwa durch Mietvertragsverhandlungen. (Rn. 29)
3. Macht der Räumungsgläubiger dem Räumungsschuldner Mietvertragsangebote können die Vollstreckungsgerichte im Rahmen ihrer Beweiswürdigung darauf schließen, dass Eigenbedarf nicht gegeben ist. (Rn. 30)
Schlagworte:
Zwangsvollstreckung, Vollstreckungsschutz, Räumung, Mietwohnung, sittenwidrige Härte, Kapitalanleger, Teilungszwangsversteigerung, Ersatzwohnraumbeschaffung, unzureichende Gelegenheit, Mietvertragsverhandlungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 25698

Tenor

1) Die Räumungszwangsvollstreckung betreffend des Objektes „...“ in ... aus dem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts Neu Ulm vom 28.09.2022 (Az. ...) darf nicht vor dem Beginn der staatlichen Sommerschulferien 2024 vorgenommen werden.
2) Die Entscheidung ergeht unter der Auflage, dass die Schuldnerin an den Gläubiger, beginnend ab 01.05.2023, monatlich unbar, spätestens bis zum dritten Werktag eines jeden Monats, einen Betrag von 1.200,00 EUR zu bezahlen hat. Abweichend von Satz 1, kann die Zahlung für Mai 2023, spätestens binnen 14 Tagen nach Zustellung des Beschlusses an die Schuldnerin erfolgen.
3) Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Gründe

I)
1
Der Gläubiger hat das Objekt „...“ in ... im Rahmen der Teilungszwangsversteigerung erworben.
2
Am ... hat das Amtsgericht Neu Ulm den Zuschlag erteilt.
3
Der Gläubiger betreibt aus dem Zuschlagsbeschluss die Räumungszwangvollstreckung.
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Nach Durchsicht der Gerichtsvollziehersonderakte gab es am ... einen Räumungsversuch. Die Maßnahme wurde jedoch abgebrochen, nachdem niemand angetroffen werden konnte.
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Mit Datum vom 08.02.2023 richtete die Schuldnerin ein als „Widerspruch / Räumungsklage“ (nachstehend Rechtsmittelschrift genannt) bezeichnetes Schreiben bei der Gerichtsvollzieherin ... ein. Die Rechtsmittelschrift wurde dem Amtsgericht Neu Ulm vorgelegt. Ein neuer Räumungstermin wurde seither nicht bestimmt.
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Durch die Vollstreckungsrichterin wurde die Rechtsmittelschrift als Vollstreckungsgegenklage und Antrag gemäß § 765 a ZPO ausgelegt, da die Schuldnerin ein Mietvertrag behauptete und persönliche Gründe gegen die Zwangsvollstreckung geltend machte.
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Das Amtsgericht Neu Ulm distanzierte sich jedoch im Verlauf davon, die Rechtsmittelschrift als Vollstreckungsgegenklage auszulegen.
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In der Rechtsmittelschrift berief sich die Schuldnerin, neben der Anspruchsberühmung aus einem Mietvertrag darauf, dass Sie alleinerziehend sei. Weiterhin wurde in dem Objekt Schimmelbildung angeschuldigt. Im Verlauf trug die Schuldnerin vor, dass Sie im Falle der Zwangsräumung zu dritt in ihr ehemaliges Kinderzimmer bei ihren Eltern ziehen müsste. Die Schuldnerin erklärte auch, dass Sie das Objekt zeitweise nicht genutzt habe und zwar in derzeit als ihr getrenntlebender Mann, dass Räumungsobjekt alleine genutzt habe. In dieser Zeit sei sie bei ihren Eltern untergekommen.
9
Die Gläubigervertreterin wandte zunächst formal ein, dass kein Rechtsmittel auf der Schuldnerseite vorliege, da sich die Schuldnerin an die Gerichtsvollzieherin (anstelle des Amtsgerichts Neu Ulms) wandte.
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Auf Gläubigerseite wurde zudem eine Sonderkonstellation des Eigenbedarfs geltend gemacht.
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Der Gläubiger bewohne selbst ein Eigenheim, welches die Eltern als altergerechten „Alterssitz“ beziehen sollten. Es wurde daraufhin hingewiesen, dass die Eltern gesundheitlich eingeschränkt sind (Treppen etc.)
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Es sei daher – nach Renovierung des Räumungsobjekts – dahingehend eine Rochade geplant gewesen, dass der Gläubiger ins Räumungsobjekt zieht und die Eltern ins altersgerechte Haus des Gläubigers.
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Zudem wurden auf Gläubigerseite finanzielle Belastungen (Immobilienkredit bei der Bank und den Eltern des Gläubigers) geltend gemacht. Gesamtraten 1.200 EUR bei der Bank, sowie 1.000 EUR bei den Eltern (letztere ab April 2023).
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Aus den Akten ergibt sich, dass der Gläubiger im Oktober 2022 der Schuldnerin unter einem Mietzins von 1.200 EUR einen Mietvertrag angeboten hat. Im Verlauf wurde jedoch außergerichtlich ein mietvertraglicher Dissens eingewandt.
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Auf Schuldnerseite wird der Monatsmietzins von 1.200,00 EUR hingegen wegen des Schimmels nicht als angemessen erachtet.
16
Wegen der Einzelheiten wird auf die Verfahrensakte Bezug genommen.
II)
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Bei dem Schreiben der Schuldnerin vom 08.02.2023 handelt es sich um einen Räumungsschutzantrag gemäß § 765 a ZPO. Dieser ist zulässig und begründet.
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Anderes als die Gläubigervertreterin meint, ist es unschädlich, dass dieser bei der Gerichtsvollzieherin erhoben worden ist, da diese Angehörige des Amtsgerichts Neu Ulm ist. Erschwerend kommt hinzu, dass der Antrag durch einen rechtlichen Laien erhoben worden ist.
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Gemäß § 765 a ZPO ist der Antrag zwei Wochen vor dem Räumungstermin zu stellen.
20
Das ist vorliegend nicht geschehen. Dies ist jedoch unschädlich, da der erste Räumungstermin nicht zum Erfolg führte. Laut Gerichtsvollzieherin wurde niemand angetroffen. Im Ergebnis gab es zum Zeitpunkt der Antragserhebung keinen „festgesetzten Räumungstermin“ im Sinne des § 765 a Abs. 3 ZPO.
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Zudem wohnte die Antragsgegnerin zeitweise nicht in dem Räumungsobjekt, während der mittlerweile getrennt lebende Mann der Schuldnerin, dass Haus zeitweise alleine nutzte und die Schuldnerin beengt mit ihren Kindern bei ihren Großeltern wohnte. Es ist insofern bereits fraglich, ob der Räumungstermin überhaupt ordnungsgemäß festgesetzt bzw. bekanntgegeben wurde.
22
Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist.
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So liegt es hier.
24
Nachdem glaubhaften Vortrag der Schuldnerin, kann derzeit kein Ersatzwohnraum gefunden werden. Die Schuldnerin macht insoweit als Härte geltend, dass Sie zu ihrer Mutter ziehen müsste, sodass Sie beengt ihr ehemaliges Kinderzimmer mit drei Personen bewohnen müsste. Als Härte wurde weiterhin angegeben, dass der damit verbundene Stress, die bevorstehende Abiturphase ihres Sohnes negativ beeinflusst.
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Diese Umstände begründen für sich alleine genommen noch keine sittenwidrige Härte. Es sind vielmehr Härten die jede Zwangsvollstreckung bzw. Zwangsräumung mit sich bringt.
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Im vorliegenden Fall bestehen jedoch ganz besondere Umstände, aus denen sich eine sittenwidrige Härte ergibt.
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Der Gläubiger hat – unstreitig – zunächst einen Mietvertrag bei einem monatlichen Mietzins von 1.200,00 EUR angeboten.
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Die Eingaben der Schuldnerin (z.B. Mietminderung wegen Schimmels) vermitteln dem Gericht dem Eindruck, dass die Schuldnerin offenbar an einen Mietvertrag glaubt, wobei der Schuldnerin allerdings trotz anwaltlicher Vertretung nicht klar zu scheint, dass ein Mietvertrag im Wege der Vollstreckungsgegenklage vor dem Prozessgericht geltend zu machen ist. Daran ändern auch die außergerichtlichen Schreiben unter Verweis auf mietvertraglichen Dissens der Gläubigervertreterin nichts.
29
Der Einwand der Gläubigervertreterin, dass die Schuldnerin ausreichend lange Zeit gehabt habe, sich um Ersatzwohnraum zu bemühen, geht daher fehl, da der Gläubiger somit eine nicht unwesentliche Mitursache dafür gesetzt hat, dass die Schuldnerin nicht die Ersatzwohnraumbeschaffung forcierte.
30
Soweit die Gläubigervertreterin „Eigenbedarf“ geltend macht, vermag dies dass Vollstreckungsgericht nicht anzuerkennen. Es ist für das Vollstreckungsgericht nicht vorstellbar bzw. lebensfremd, dass trotz eigenen Bedarfs (u.a. eingeschränkte Eltern) Mietvertragsangebote gemacht werden. Es ist zudem weder ersichtlich, noch vorgetragen, dass sich erst im Verlauf ein Eigenbedarf ergeben haben soll.
31
Auf Gläubigerseite handelt es sich damit vorliegend um einen Kapitalanleger.
32
Dessen tituliertes Recht auf die Räumung des Grundbesitzes (ein mögliches mietvertragliches Nutzungsrecht hat das Vollstreckungsgericht nicht zu prüfen) steht erkennbar außer jedem Verhältnis, dass der Schuldnerin ohne ausreichende Zeit für die Beschaffung adäquaten Ersatzwohnraumes, geräumt werden soll. Zudem lässt ein möglicher Umzug, in ein Zimmer zu dritt eine mögliche Kindeswohlgefährdung besorgen.
33
Das Gericht hat eine monatliche Zahlungsauflage in Höhe 1.200 EUR festgesetzt. Aufgrund der Tatsache, dass der Gläubiger zunächst ein Mietvertragsangebot in Höhe von 1.200,00 EUR erteilt hat, kann dass Gericht davon ausgehen, dass dies die finanziellen Interessen des Gläubigers hinreichend berücksichtigt. Zudem kann der Gläubiger jederzeit die Aufhebung des Beschlusses bei Nichtzahlung beantragen (§ 765 a Abs. 4 ZPO). Auf Seiten der Schuldnerin besteht zudem nur ein geringes Ausfallrisiko, da die Schuldnerin einen größeren Betrag aus der Zwangsversteigerung erhalten hat.
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Die Kostenentscheidung beruht wegen teilweisen Obsiegens (nur Einstellung auf Zeit der Zwangsvollstreckung) auf § 92 Abs. 1 ZPO.