Inhalt

LG Deggendorf, Urteil v. 31.05.2023 – 1 KLs 8 Js 4514/22 jug
Titel:

Verurteilung eines Heranwachsenden wegen versuchten Mordes - Absehen von Jugendstrafe neben Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus

Normenketten:
JGG § 5 Abs. 3, § 17 Abs. 2, § 105
StGB § 20, § 21, § 24 Abs. 1, § 62, § 63, § 211
StPO § 472
Leitsätze:
1. Heimtückisch handelt, wer eine zum Zeitpunkt des Angriffs bestehende Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tat ausnutzt; maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs, d.h. bei Eintritt der Tat in das Versuchsstadium. (Rn. 72) (redaktioneller Leitsatz)
2. Arglosigkeit ist gegeben, wenn sich das Opfer zum Zeitpunkt der Tat eines Angriffs auf seine körperliche Unversehrtheit nicht versieht, der Täter somit sein Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Die Überraschung des Opfers entfällt, wenn es einen Angriff des Täters für möglich hält, insbesondere wenn der Tat eine offene Auseinandersetzung mit feindseligem Verhalten des Täters vorangegangen ist. (Rn. 72) (redaktioneller Leitsatz)
3. Niedrige Beweggründe liegen vor, wenn die Motive einer Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen, dh wenn die Beweggründe für die Tat in deutlich weiter reichendem Maße als bei einem Totschlag verachtenswert erscheinen. Die Beurteilung erfordert eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren. (Rn. 74) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein Versuch ist fehlgeschlagen, wenn der Taterfolg aus Sicht des Täters mit den bereits eingesetzten oder zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr erreicht werden kann, ohne dass eine ganz neue Handlungs- und Kausalkette in Gang gesetzt wird, wobei es auf die Sicht des Täters unmittelbar nach dem Ende seiner letzten Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont) ankommt. (Rn. 77) (redaktioneller Leitsatz)
5. Die Behandlung einer psychischen Störung des Angeklagten, die maßgeblich zur Begehung der Tat beigetragen hat, erfolgt durch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Dabei werden die erzieherischen Einwirkungs- und Ahndungszwecke in ausreichender Weise verfolgt und realisiert. Die Verhängung der Jugendstrafe ist deshalb entbehrlich, da der Gefährlichkeit des Angeklagten gerade durch die Unterbringung entgegengewirkt wird. (Rn. 101) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Autismus-Spektrum-Störung, niedere Beweggründe, Heimtücke, Jugendstrafe, Rücktritt, Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, fehlgeschlagener Versuch, Rücktrittshorizont, Mord
Fundstelle:
BeckRS 2023, 25378

Tenor

1. Der Angeklagte ist schuldig des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.
2. Unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts D. vom 09.03.2022, rechtskräftig seit 09.03.2022, Az. …, wird die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
3. Der Angeklagte hat die notwendigen Auslagen des Nebenklägers zu tragen. Im Übrigen wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Angewandte Vorschriften:
§§ 211 Abs. 1, Abs. 2, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, 21, 22, 23 Abs. 1, 52, 63 StGB, §§ 1 Abs. 1, Abs. 2, 5 Abs. 3, 7 Abs. 1, 31 Abs. 2, 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG

Entscheidungsgründe

A. Feststellungen zur Person
I. Grunddaten und Familienverhältnisse
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Der Angeklagte wurde am xx.xx.2003 in D. als zweites Kind seiner verheirateten Eltern geboren. Er ist deutscher Staatsangehöriger, ledig und hat keine Kinder. Die Eltern des Angeklagten stammen aus Eritrea. Sie heirateten im Jahr 1997 in Deutschland und ließen sich im Jahr 2006 scheiden. Der Vater des Angeklagten, I., arbeitet als Sicherheitsdienstmitarbeiter und lebt in M.. Die Mutter des Angeklagten, Y., arbeitet als Küchenhilfe und lebt in D.. Er hat drei Geschwister, den am xx.xx.2001 geborenen Bruder N., den am xx.xx.2006 geborenen Bruder J. und die am xx.xx.2009 geborene Halbschwester C.. Der Angeklagte wuchs mit seinen Geschwistern bei seinen Eltern bzw. (nach der Scheidung der Eltern) bei seiner Mutter in D. auf. Da seine Mutter mit der Erziehung der Kinder überfordert war, installierte das Jugendamt von 2012 bis 2015 eine Familienhilfe. Nachdem es seit dem Jahr 2018 zunehmend zu Streitigkeiten zwischen dem Angeklagten und seiner Mutter, mit Tätlichkeiten gegen die Mutter, gekommen war, wurde der Angeklagte am 18.11.2019 in einem Heim (Jugendwohngruppe F.) in H. untergebracht; dort bewohnte er, abgesehen von einer Zeit der Abgängigkeit von xx.xx.2020 bis xx.xx.2020, bis zum Eintritt der Volljährigkeit am xx.xx.2021 ein Zimmer. Im Anschluss bewohnte er eine Einzimmerwohnung in B., bevor er im Februar 2022 wieder bei seiner Mutter und seinen Geschwistern in D. einzog; dort bewohnte er bis zu seiner Festnahme am 30.05.2022 ein Zimmer in einer Vierzimmerwohnung.
II. Schulische Entwicklung, beruflicher Werdegang, wirtschaftliche Verhältnisse
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Der Angeklagte wurde nach dem Besuch des Kindergartens, in dem er wegen Verhaltensauffälligkeiten eine Frühförderung erhalten hatte, im September 2009 in einer Förderschule eingeschult und besuchte in der ersten Klasse die P.-Schule in D.; er musste die erste Klasse wiederholen, da er Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren und dem Unterricht zu folgen. Trotz der Schwierigkeiten wechselte er auf Wunsch seiner Mutter im September 2011 auf eine Regelschule und besuchte von der zweiten bis zur vierten Klasse die Grundschule S. in D.. Im Anschluss besuchte er ab September 2014 in der fünften Klasse die Mittelschule T. in D. und ab September 2015, nach einem Umzug der Familie, von der sechsten bis zur achten Klasse die Mittelschule S. in D., wobei er die siebte Klasse wiederholen musste. Im Juli 2019 verließ er die Mittelschule nach der achten Klasse ohne Abschluss. In der Schule hatte er die Rolle eines „Außenseiters“ und fand wenig Anschluss bei seinen Mitschülern. Seine schulischen Leistungen lagen im unterdurchschnittlichen Bereich. Danach besuchte er ab September 2019 die Berufsintegrationsklasse an der Berufsschule I. in D., die er im Juli 2020 mit dem Mittelschulabschluss beendete, wobei er in allen Fächern die Note „sehr gut“ erhielt. In der Folge besuchte er zur Berufsorientierung und Berufsvorbereitung für ca. vier Monate das Berufliche Fortbildungszentrum in D., das er, nachdem er bei einem Persönlichkeitstest durchgefallen war, auf eigenen Wunsch verließ. Danach absolvierte er ein zweiwöchiges Praktikum bei einer Metallbaufirma. Es folgte bis März 2022 eine Zeit der Orientierungslosigkeit, in der sich der Angeklagte nicht für eine Ausbildung oder ein Praktikum motivieren konnte. Ab März 2022 arbeitete er bis zu seiner Festnahme am 30.05.2022 über eine Zeitarbeitsfirma bei der Firma K. in P. im Zweischichtbetrieb (Frühschicht: 05:30 Uhr bis 13:30 Uhr, Spätschicht: 13:30 Uhr bis 21:30 Uhr) und erzielte aus der Tätigkeit ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von 1.300 €. Von seinem Einkommen musste er monatlich einen Betrag in Höhe von 200 € für Kost und Logis bei seiner Mutter abgeben. Er hat keine Schulden und verfügt über kein nennenswertes Vermögen.
III. Gesundheit und Suchtanamnese
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In körperlicher Hinsicht ist der Angeklagte gesund. Seine Geburt verlief unauffällig. Erhebliche Erkrankungen, Operationen oder Unfälle sind nicht bekannt. Im Mai 2022 hatte er bei einer hageren Statur eine Größe von ca. 1,83 m und ein Gewicht von ca. 63 kg.
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In geistiger Hinsicht leidet der Angeklagte an einer Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der intellektuellen Entwicklung und ohne Beeinträchtigung der funktionalen Sprache (ICD-11: 6A02.0). Der Verdacht einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ICD-11: 6A05) und der Verdacht einer Schizophrenie (ICD-11: 6A20) bestätigten sich nicht. Der Angeklagte befand sich bis zu seiner Festnahme am 30.05.2022 nicht in psychiatrischer oder psychologischer Behandlung. Seine Intelligenz liegt im (unteren) Durchschnittsbereich; ein Hinweis auf eine Minderbegabung ergab sich nicht.
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Bereits in der Kindheit des Angeklagten zeigten sich Verhaltensauffälligkeiten im familiären, schulischen und sozialen Bereich, die sich im Jugendlichen- und Heranwachsendenalter fortsetzten. Er fiel durch Probleme in Bezug auf die Konzentrationsfähigkeit, die Sprachentwicklung und die Umsetzung von Handlungsanweisungen und durch eine Störung des Sozialverhaltens mit aggressiven und impulsiven Verhaltensweisen auf. Dabei zeichnete sich eine ausgeprägte Affektverflachung, Antriebslosigkeit und Emotionslosigkeit ab, die mit einer mangelnden Kommunikationsfähigkeit und verminderten Kritikfähigkeit einherging. Eine Integration in die Gleichaltrigengruppe gelang ihm nicht. Sein zunehmend aggressives Verhalten innerhalb der Familie mit Tätlichkeiten gegen die Mutter führte am 18.11.2019 zu einer Heimunterbringung in H.. Dort fiel er durch seine ausgeprägte Antriebslosigkeit und Emotionslosigkeit auf; der Beziehungsaufbau zu den Betreuern und den Mitbewohnern und die Einhaltung der Hausregeln bereiteten ihm große Schwierigkeiten; zur Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten und Aktivitäten in der Gruppe konnte er kaum motiviert werden; oftmals verließ er das Heim, ohne sich abzumelden.
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Am 24.08.2022, als sich der Angeklagte in der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO im Bezirksklinikum M. befand, kam es bei dem Angeklagten zu einem Aggressionsausbruch, nachdem ihm durch einen Pfleger mitgeteilt worden war, dass seine Bedürfnisse nicht immer sofort erfüllt werden könnten und dass er sehr ungeduldig sei; er konnte die Kritik nicht annehmen und bezeichnete den Pfleger als „Lügner“; ca. eine halbe Stunde später trat er im Aufenthaltsraum gegen Tische und Stühle und warf einen Stuhl durch den Aufenthaltsraum, so dass er in einem Kriseninterventionszimmer abgesondert werden musste. Im Nachgang erklärte er zu seinem Verhalten, dass er durch den Pfleger „provoziert“ worden sei, willigte allerdings in die Einnahme einer niedrig dosierten neuroleptischen Medikation ein, die er seither regelmäßig einnimmt; derzeit erhält er täglich 2 x 2,5 mg Olanzapin und 2 x 2,5 mg Risperidon; seitdem zeigt er ein geordneteres und ruhigeres Verhalten.
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Für einen auffälligen Konsum von Alkohol oder Drogen ergaben sich bei dem Angeklagten keine konkreten Anhaltspunkte.
IV. Vorstrafen
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Der Angeklagte ist bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Auskunft aus dem Bundeszentralregister weist eine Eintragung auf:
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Mit Urteil des Amtsgerichts D. vom 09.03.2022, rechtskräftig seit 09.03.2022, Az. …, wurde der Angeklagte schuldig gesprochen der Beleidigung in Tateinheit mit Körperverletzung und des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in vier tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung; der Angeklagte wurde angewiesen, einen sozialen Trainingskurs bei K. R. e.V. zu absolvieren und einen Geldbetrag in Höhe von 350 € an die Lebenshilfe D. e.V. zu zahlen.
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Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:
„1. Am xx.xx.2021 gegen 17:20 Uhr verletzte der Angeklagte in der B.-Straße …, … H. den Geschädigten G., indem er ihm mit der Hand ins Gesicht schlug. Hierdurch erlitt der Geschädigte G., wie von dem Angeklagten zumindest vorhergesehen und billigend in Kauf genommen, Schmerzen an der rechten Augenhöhle sowie eine Rötung der Haut. Zudem beleidigte der Angeklagte den Geschädigten G., indem er ihn als ‚Hitlers Auge‘ und ‚deutsche Kartoffel‘ bezeichnete, um seine Missachtung auszudrücken.
Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt. Darüber hinaus hält die Staatsanwaltschaft, soweit erforderlich, wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten.
2. Aufgrund der geschilderten Vorfälle wurden zwei Streifenbesatzungen der PI D., bestehend aus den uniformierten und daher als solche[n] erkennbaren Polizeibeamten PHM F., PMin K., PHMin E. sowie PM R., zur Einsatzörtlichkeit beordert. Nach Ansprache durch die Beamten und Belehrung als Beschuldigter verhielt sich der Angeklagte durchgehend aggressiv und unkooperativ. PHM F. und PMin K. versuchten mehrmals beschwichtigend auf den Angeklagten einzuwirken, indem sie auf ihn einredeten und zur Unterstützung ihre Hände beschwichtigend auf Brusthöhe hoben und diese in Richtung Boden bewegten. Dies zeigte jedoch beim Angeklagten keinerlei Wirkung. Er bewegte sich weiterhin aggressiv in Richtung der Beamten bzw. in Richtung des Geschädigten G., welchen er mit den Worten ‚[k]omm her, du Hurensohn‘ beleidigte, um seine Missachtung auszudrücken. Um eine weitere Annäherung des Angeklagten zu verhindern, stieß PHM F. diesen einmal mit der flachen Hand gegen die Brust. Der Angeklagte bewegte sich nach wie vor schnellen Schrittes auf PHM F. zu, der beide Arme in Richtung des Angeklagten hielt, um diesen auf Distanz zu halten. Hierbei schlug der Angeklagte aus einer Entfernung von etwa 1 – 1,5 m mit der flachen Hand mehrmals nach den Armen des PHM F. und traf diese hierbei wiederholt. Nach vorheriger Ankündigung wurde seitens PHM F. insgesamt zwei Mal mit dem Reizstoffsprühgerät ein Stoß abgesetzt, wobei lediglich die zweite Anwendung den Angeklagten dazu bewegte, sich abzuwenden und seine Augen zu wischen. Unmittelbar darauf bewegte er sich jedoch langsam von den Beamten weg. Daraufhin wurde der Angeklagte zum Zwecke der Fixierung seitlich von PM R. und PHM F. gepackt und nach einem kurzen Gerangel zu Boden gebracht. Auf dem Boden liegend wurden die Beine des Angeklagten durch PMin K. fixiert, wobei er versuchte, diese aufzustellen bzw. sich der Fixierung durch ein Drehen zur Seite zu entziehen. Der Angeklagte wehrte sich ferner gegen die Fesselung, indem er seine Arme unter seinem Körper vergrub, wodurch die Beamten zur Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form von einfacher körperlicher Gewalt gezwungen waren, um das Anlegen der Handfesseln zu ermöglichen. Durch das Gerangel mit dem Angeklagten erlitt PHM F. einen Bruch des kleinen Fingers der rechten Hand sowie Übelkeit. Er war aufgrund der Verletzung 4 Wochen dienstunfähig und konnte weitere 4 Wochen keinen Außendienst verrichten.
Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt. Darüber hinaus hält die Staatsanwaltschaft, soweit erforderlich, wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten.“
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Der Geldbetrag in Höhe von 350 € wurde in voller Höhe an die Lebenshilfe D. e.V. bezahlt. Eine Teilnahme am sozialen Trainingskurs bei K. R. e.V. erfolgte nicht.
V. Haft
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Der Angeklagte wurde in dieser Sache am 30.05.2022 vorläufig festgenommen. Er befand sich zunächst aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts D. vom 31.05.2022, Gz. …, von 31.05.2022 bis 04.08.2022 in Untersuchungshaft nach § 112 StPO in der Justizvollzugsanstalt L. bzw. (ab 21.06.2022) in der Justizvollzugsanstalt M.. Er befand sich sodann aufgrund Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts D. vom 26.07.2022, Gz. …, von 04.08.2022 bis 13.12.2022 in einstweiliger Unterbringung nach § 126a StPO im Bezirksklinikum M.. Er befindet sich nunmehr aufgrund Haftbefehls des Landgerichts D. vom 13.12.2022, Az. …, seit 13.12.2022 in Untersuchungshaft nach § 112 StPO in der Justizvollzugsanstalt L. bzw. (ab 31.01.2023) in der Justizvollzugsanstalt M..
B. Feststellungen zur Sache
I. Vorgeschichte
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Der Angeklagte und der am xx.xx.2002 in D. geborene D. besuchten von September 2009 bis Juli 2011 dieselbe erste Klasse an der P.-Schule in D.. Sie besuchten im ersten Jahr die Klasse 1 und im zweiten Jahr die Klasse 1a. In der Klassengemeinschaft nahm D. die Rolle des „Anführers“ ein, während der Angeklagte die Rolle eines „Außenseiters“ hatte, der wenig Anschluss bei seinen Mitschülern fand. Der Angeklagte erfuhr Mobbing durch D., indem er von D. beleidigt und geschlagen wurde; insbesondere kränkte es den Angeklagten, dass er von D. wegen seiner dunklen Hautfarbe als „Neger“ bezeichnet wurde. Nach der ersten Klasse wechselte der Angeklagte auf die Grundschule S. in D., während D. an der P.-Schule in D. blieb. Dennoch konnte der Angeklagte, dessen Bewältigungsstrategien durch die bei ihm bestehende Autismus-Spektrum-Störung beeinträchtigt sind, das erfahrene Mobbing durch D., insbesondere die Kränkung durch die Bezeichnung als „Neger“, nicht dauerhaft überwinden; vielmehr setzte sich die erlebte Kränkung bei dem Angeklagten über die Jahre als unbewältigtes Gefühl der Wut fort, aus der sich schließlich ein Bedürfnis nach Rache entwickelte, obwohl der Angeklagte seit der Schulzeit an der P.-Schule (zunächst) keinen Kontakt mehr zu D. hatte. Die Erinnerung an die erlebte Kränkung an der P.-Schule wurde allerdings wieder wachgerufen, als der Angeklagte zwischen September 2018 und Juli 2019, als er in die achte Klasse ging, in der Nähe der Mittelschule S. in D. auf D. traf, der mit seiner Schulklasse an ihm vorbeiging; dabei sagte D. im Vorbeigehen zu seinen Schulkameraden, dass er „diesen Neger da“ früher geschlagen habe. Überdies wurde die Erinnerung an die erlebte Kränkung an der P.-Schule erneut wachgerufen, als der Angeklagte im Mai 2022, ca. drei bis vier Wochen vor dem 30.05.2022, im Stadtzentrum von D. dem D. begegnete, der in Begleitung von zwei Mädchen an ihm vorbeiging; dabei sagte D. im Vorbeigehen zu den beiden Mädchen, dass er den Angeklagten früher geschlagen habe. Hierdurch lebte das unbewältigte Gefühl der Wut erneut auf und der Angeklagte beschloss, D. aus Rache für die erlebte Kränkung bei günstiger Gelegenheit zu töten. Er brachte in Erfahrung, dass sich D. an Werktagen am frühen Morgen am Bahnhof in D. aufhielt, um mit der „W.-Bahn“ um 06:45 Uhr von D. nach P. in die Arbeit zu fahren. Um seinen Entschluss in die Tat umzusetzen, stand der Angeklagte am 30.05.2022 bereits am frühen Morgen auf, steckte ein Messer mit einer Klingenlänge von mindestens 4 cm in seine Jackentasche und verließ die Wohnung seiner Mutter am W. … in D.. Da er an dem Tag Spätschicht hatte, musste er erst um 13:30 Uhr an seiner Arbeitsstelle bei der Firma K. in P. erschienen. Er begab sich zu Fuß zum Bahnhof in D., um sein Bedürfnis nach Rache zu stillen und D. in einem überraschenden Angriff mit dem Messer zu töten.
II. Tatgeschehen
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Am 30.05.2022 gegen 06:30 Uhr hielt sich D. am Bahnhof in D. auf, da er um 06:45 Uhr mit der „W.-Bahn“ zu seiner Arbeitsstelle nach P. fahren wollte. Er saß auf einem Treppensims an der Südseite des Bahnhofsgebäudes, rauchte eine Zigarette und unterhielt sich mit den Schülerinnen B. und J.. Als er sich gegen 06:40 Uhr erhob, um mit den beiden Schülerinnen in westliche Richtung zum Bahnsteig zu gehen, lief der Angeklagte aus südlicher Richtung, d.h. aus der Richtung des Busbahnhofs und der Fahrkartenautomaten, auf D., der nicht mit einem Angriff auf seine Person rechnete, zu und schubste D., der hiervon völlig überrascht war, wortlos gegen die Wand des Bahnhofsgebäudes. Noch bevor D. die Situation begriff, zog der Angeklagte, der erkannte, dass sich D. aufgrund der Überraschung gegen einen Angriff mit einem Messer nicht, jedenfalls nicht wesentlich, wehren konnte, aus seiner Jackentasche das mitgeführte Messer mit einer Klingenlänge von mindestens 4 cm heraus und stach mit dem Messer unter bewusster Ausnutzung der Überraschungssituation auf den Oberkörper des D. ein, um ihn aus Rache für die erlebte Kränkung in der Schulzeit an der P.-Schule in D. zu töten, wobei er ihn in den rechten Oberbauch traf und die Leber verletzte. D., der immer noch überrascht war, rief dem Angeklagten zu: „Was machst du da? Lass mich in Ruhe!“ Er stieß den Angeklagten mit einem Tritt von sich weg, jedoch ging der Angeklagte sofort erneut auf ihn zu und stach erneut mit dem Messer auf seinen Oberkörper ein, um ihn zu töten, wobei er ihn an der linken Brust und am Hals traf; drei weitere Stiche konnte D. mit der Hand bzw. mit dem Arm abwehren, wobei er einmal an der rechten Hand und zweimal am linken Unterarm getroffen wurde.
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Um dem Angriff des Angeklagten zu entkommen, entschloss sich D. zur Flucht und lief, anders als von dem Angeklagten vorgesehen, zunächst zum Bahnsteig und sodann am Bahnsteig entlang in südliche Richtung. Der Angeklagte verfolgte D. mit dem Ziel, abermals auf ihn einzustechen, und lief ihm, das Messer in der Hand haltend, am Bahnsteig hinterher. Da D. allerdings schneller war als der Angeklagte und sich der Abstand zwischen D. und dem Angeklagten zunehmend vergrößerte, rief ihm der Angeklagte hinterher: „Bleib stehen! Komm her!“ D. sprang jedoch am Ende des Bahnsteigs über eine Brüstung in das Gleisbett und lief nach der Brüstung noch ca. 80 m an den Bahngleisen entlang, bevor er in westlicher Richtung senkrecht über die vier Bahngleise auf die S. lief. Der Angeklagte, der D. am Bahnsteig hinterhergelaufen war, ihn jedoch nicht hatte einholen können, blieb am Ende des Bahnsteigs an der Brüstung stehen und rief ihm aus Verärgerung, dass er entkommen war, hinterher: „Du Hurensohn! Ich ficke deine Mutter!“ Anschließend entfernte sich der Angeklagte vom Bahnhof und ging über die G.-Straße in südliche Richtung zur D.-Promenade. D. verständigte, nachdem er an der S. angekommen war, über den Notruf den Rettungsdienst. Er wurde durch den Rettungsdienst in das Klinikum D. eingeliefert und konnte durch eine Notoperation gerettet werden.
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Durch die Stiche des Angeklagten erlitt D. eine ca. 3 cm lange und ca. 1 cm breite klaffende Wunde am rechten Oberbauch mit einem ca. 6,4 cm langen und ca. 1,7 cm breiten Stichkanal, der bis in die Leber reichte und den rechten Pfortaderast berührte, wobei eine ca. 2,5 cm lange Verletzung der Leber mit Durchtrennung der Leberkapsel entstand, eine ca. 1 cm lange Wunde unterhalb der linken Brustwarze, eine ca. 1 cm lange Wunde an der linken Halsvorderseite, eine ca. 3 cm lange, breit klaffende Wunde am linken Unterarm, eine ca. 4 cm lange, breit klaffende Wunde am linken Unterarm und eine Wunde am rechten Zeigefinger. Der Stich in den rechten Oberbauch, der zur Verletzung der Leber geführt hatte, war geeignet, das Leben des D. in Gefahr zu bringen; dies wusste und wollte der Angeklagte, dessen Ziel es war, D. zu töten. D. befand sich nach der Notoperation bis 01.06.2022 in stationärer Behandlung im Klinikum D. und war in der Folge zumindest drei Monate arbeitsunfähig. Er hat durch die Tat keine dauerhaften körperlichen Schäden davongetragen, leidet allerdings seit der Tat unter Ängsten.
III. Nachtatgeschehen
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Nach dem Geschehen am Bahnhof begab sich der Angeklagte wieder nach Hause in die Wohnung seiner Mutter. Er verbrachte den Vormittag in der Wohnung, bevor er sich am frühen Nachmittag zur Spätschicht, die um 13:30 Uhr begann, an seine Arbeitsstelle bei der Firma K. in P. begab. Dort wurde er um 15:35 Uhr durch die Polizei festgenommen. Ein durch seinen Verteidiger im März 2023 angebotener Täter-Opfer-Ausgleich, der einen Vergleich mit einer Schmerzensgeldzahlung in Höhe von 6.000 € vorgesehen hätte, kam nicht zustande, da der Angeklagte die in Aussicht gestellte erste Rate in Höhe von 1.500 € nicht aufbringen konnte.
IV. Alkohol und Drogen
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Der Angeklagte stand bei der Begehung der Tat nicht unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen.
V. Schuldfähigkeit
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Die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten war bei der Begehung der Tat aufgrund der bei ihm bestehenden Autismus-Spektrum-Störung, bei der es sich um eine krankhafte seelische Störung handelt, bei erhaltener Unrechtseinsicht mit Sicherheit erheblich vermindert; aufgehoben war sie hingegen nicht.
VI. Motiv
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Der Angeklagte wollte D. töten, um sich an ihm für das erfahrene Mobbing in der Schulzeit an der P.-Schule in D., insbesondere für die Kränkung durch die Bezeichnung als „Neger“, zu rächen.
C. Beweiswürdigung
I. Feststellungen zur Person
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Die Feststellungen unter A. zur Person des Angeklagten beruhen auf den Angaben des Angeklagten und den Angaben der Sachverständigen Dr. B. und der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe, die der Angeklagte auf Nachfrage durch die Kammer als zutreffend bestätigt hat. Sie stützen sich ferner auf die Angaben der Zeugin Y., der Mutter des Angeklagten, des Zeugen N., des Bruders des Angeklagten, des Zeugen A., des Klassenlehrers des Angeklagten an der P.-Schule in D., der Zeugin M., der Schulleiterin der P.-Schule in D., und der Zeugin T., der Leiterin der Jugendwohngruppe F. in H.. Überdies sind ergänzend der Schülerbogen der P.-Schule in D., die Zeugnisse der Berufsschule I. in D. und der Abschlussbericht der Jugendwohngruppe F. in H. verlesen worden.
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Die Feststellungen zum Gesundheitszustand beruhen auf den Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. und des psychologischen Sachverständigen Mag F.. Überdies berichtete der Zeuge J., der Bezugstherapeut des Angeklagten im Bezirksklinikum M., über den Verlauf der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO.
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Die Feststellungen zur Suchtanamnese beruhen auf den Angaben des Angeklagten und dem Ergebnis der Untersuchung einer Haarprobe des Angeklagten vom 14.06.2022, das aus dem verlesenen Gutachten des Bayerischen Landeskriminalamtes vom 15.09.2022 hervorgeht. Die im Rahmen der Exploration durch die Sachverständige Dr. B. und den Sachverständigen Mag F. aufgestellte Behauptung des Angeklagten, dass er ein Suchtproblem im Zusammenhang mit dem Konsum von Alkohol, Cannabis und Amphetamin habe, hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung mittels einer Verteidigererklärung, die er auf Nachfrage durch die Kammer als zutreffend bestätigt hat, als falsch widerrufen und glaubhaft mit einer Empfehlung von Mitpatienten im Rahmen der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO mit dem Ziel, eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB zu erreichen, erklärt. Tatsächlich haben sich für einen auffälligen Konsum von Alkohol oder Drogen bei dem Angeklagten keine konkreten Anhaltspunkte ergeben, insbesondere ergab die Untersuchung der Haarprobe vom 14.06.2022 mit einer Länge von ca. 4 cm, die mit einem Zeitintervall von ca. drei bis sieben Monaten korreliert, abgesehen von einem positiven Befund auf Tramadol mit einem Messwert von 0,32 ng/mg, der auf eine zumindest einmalige Aufnahme von Tramadol schließen lässt, jedoch keinen Rückschluss auf die aufgenommene Menge ermöglicht, negative Befunde auf Amphetamine und Stimulanzien, Antidepressiva, Antiepileptika, Benzodiazepine, Kokain, Halluzinogene, Opioide und Analgetika, Sedativa und Hypnotika und biogene und synthetische Cannabinoide. Überdies haben sich aus den verlesenen Berichten der Justizvollzugsanstalt M. vom 03.08.2022 und der Justizvollzugsanstalt L. vom 12.01.2023 keine Hinweise auf Entzugserscheinungen des Angeklagten ergeben.
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Die Feststellungen zur Vorstrafensituation des Angeklagten ergeben sich aus der Verlesung der Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 24.03.2023 und aus der Verlesung des Urteils des Amtsgerichts D. vom 09.03.2022. Hinsichtlich des Vollstreckungsstandes ist die Zahlungsbestätigung der Lebenshilfe D. e.V. vom 16.05.2022 verlesen worden.
II. Feststellungen zur Sache
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Die Feststellungen unter B. zur Sache beruhen auf der Einlassung des Angeklagten, soweit ihr gefolgt werden konnte, und dem Ergebnis der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung.
1. Einlassung des Angeklagten
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Der Angeklagte hat eingeräumt, D. mit Messerstichen verletzt zu haben; einen Tötungsvorsatz hat er jedoch bestritten.
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Er hat sich zunächst am ersten Hauptverhandlungstag, vor dem Beginn der Beweisaufnahme, mittels einer kurzen Verteidigererklärung, die er auf Nachfrage durch die Kammer bestätigt hat, dahingehend eingelassen, dass er einräume, D. mit Messerstichen verletzt zu haben. Er wolle sich entschuldigen, die Tat tue ihm leid und er bereue die Tat.
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Sodann hat er sich am dritten Hauptverhandlungstag, nachdem bereits alle Zeugen vernommen waren, mittels einer schriftlich abgefassten und mündlich vorgetragenen Verteidigererklärung, die in der Ich-Form formuliert gewesen ist und die er auf Nachfrage durch die Kammer bestätigt hat, dahingehend eingelassen, dass er mit D. zwei Jahre lang die P.-Schule in D. besucht habe. In der gemeinsamen Schulzeit sei D. der „Anführer“ der Klasse gewesen. Dabei sei er von D. regelmäßig beleidigt und geschlagen worden; außerdem habe D. die anderen Mitschüler gegen ihn aufgehetzt. Ganz besonders verletzt habe ihn die regelmäßige Beleidigung mit dem Wort „Neger“. Die Beleidigungen und Misshandlungen hätten sowohl in der Schule als auch nach der Schule stattgefunden, wobei dies größtenteils in von den Lehrern unbeobachteten Zeiten geschehen sei. Nachdem er auf die S.-Schule gewechselt sei, habe er zunächst keinen Kontakt mehr zu D. gehabt. In der achten Klasse sei er zufällig in der Nähe der S.-Schule auf D. getroffen, als D. mit seiner Schulklasse an ihm vorbeigegangen sei; dabei habe D. im Vorbeigehen zu seinen Freunden gesagt, dass er „diesen Neger da“ geschlagen habe. Ca. drei bis vier Wochen vor der Tat sei er dem D. in der Stadt in D. begegnet, der in Begleitung von zwei Mädchen an ihm vorbeigegangen sei; dabei habe D. im Vorbeigehen damit geprahlt, dass er ihn früher geschlagen habe.
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Am Morgen des 30.05.2022 sei er aufgestanden, habe sich im Bad fertig gemacht und sei zu Fuß zum Bahnhof gegangen. Am Bahnhof habe er D. mit zwei weiblichen Personen, die er nicht gekannt habe, in der Nähe des Bahnhofsgebäudes stehen sehen; allerdings könne er jetzt sagen, dass es sich um B. und J. gehandelt habe. In diesem Moment seien die Erinnerungen an die Beleidigungen und Misshandlungen wieder ausgebrochen. Er sei auf D. zugegangen und habe ihn geschubst. Völlig übermannt von seinen Gefühlen habe er ein Messer aus der Jackentasche hervorgezogen und habe damit zugestochen. Es sei eine Handgreiflichkeit entstanden. Ob er nur einmal oder öfter zugestochen habe, könne er heute nicht mehr sicher sagen. D. habe dann geschrien: „Was ist jetzt los? Was machst du da?“ oder etwas Ähnliches. Dabei habe D. mit dem Fuß nach ihm getreten. Er selbst habe während des Geschehens kein Wort gesagt. Dann sei D. in Richtung des Aufzugs davongelaufen, sei hinter dem Aufzug über die Brüstung in die Gleise gesprungen und sei entlang der Gleise davongelaufen. Er sei dem D. hinterhergelaufen; als D. über die Absperrung in die Gleise gelaufen sei, habe er die Verfolgung gestoppt und habe ihm noch Schimpfwörter, deren Inhalt er nicht mehr wiedergeben könne, hinterhergeschrien. Er hätte D. ohne Weiteres einholen können, habe dies aber nicht gewollt. Er habe D. auf keinen Fall töten wollen und sei auch nicht davon ausgegangen, dass D. lebensgefährlich verletzt gewesen sei. Dann sei er zum Tatort zurückgegangen und habe sich entfernt. Er sei dann wieder nach Hause gegangen und später in die Arbeit zur Spätschicht gegangen, wo er dann festgenommen worden sei.
30
Die Tat sei daraus entstanden, dass die ganze Vergangenheit mit D. zu dem Zeitpunkt, als er ihn am Bahnhof gesehen habe, wieder hochgekommen sei und ihn übermannt habe. Er habe erkannt, dass er therapeutische Hilfe brauche; seit er die Medikamente einnehme, gehe es ihm besser und er fühle sich ruhiger und geordneter. Nach der Haftentlassung wolle er sich eine eigene Wohnung nehmen, eine Ausbildung zum Maschinenführer beginnen und sich voll und ganz auf die Ausbildung konzentrieren; er wolle sich auch weiterhin behandeln lassen. Er habe D. auf keinen Fall töten wollen. Die Tat tue ihm sehr leid; er bereue sie und würde sie gern rückgängig machen.
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Darüber hinaus hat sich der Angeklagte zur Sache nicht geäußert und hat Nachfragen der Kammer zur Sache nicht zugelassen.
2. Feststellungen zur Vorgeschichte
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Die Feststellungen unter B.I. zur Vorgeschichte stützen sich auf die Einlassung des Angeklagten und das Ergebnis der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung. Seine Einlassung im Hinblick auf das erfahrene Mobbing durch D. während der Schulzeit an der P.-Schule in D. und die hierdurch hervorgerufene Kränkung ist glaubhaft und ist durch die Beweisaufnahme in wesentlichen Gesichtspunkten bestätigt worden.
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Die Tatsache, dass der Angeklagte und D. von September 2009 bis Juli 2011 dieselbe erste Klasse (Klasse 1 und Klasse 1a) an der P.-Schule in D. besucht haben, steht fest aufgrund der Angaben des Zeugen A., des Klassenlehrers des Angeklagten an der P.-Schule in D., und der Zeugin M., der Schulleiterin der P.-Schule in D., und der Verlesung des Schülerbogens der P.-Schule in D.. Die Zeugen A. und M. konnten sich noch an den Angeklagten und an D. erinnern, wenngleich sie angegeben haben, keine außergewöhnlichen Konflikte zwischen dem Angeklagten und D. wahrgenommen zu haben. Diesbezüglich hat der Zeuge A. angegeben, er sei von September 2009 bis Juli 2011 als Klassenlehrer für den Angeklagten und D. zuständig gewesen. D. sei ein aufbrausender Schüler gewesen und habe die Klasse angeführt. Dabei habe es immer wieder einmal Konflikte mit D. und dem Angeklagten gegeben, indessen habe er nicht wahrgenommen, dass der Angeklagte mehr als andere Schüler gehänselt worden sei oder das Opfer von Beleidigungen oder Schlägen geworden sei; insbesondere sei ihm nicht aufgefallen, dass der Angeklagte von D. als „Neger“ beleidigt worden sei, allerdings könne er dies auch nicht ausschließen. Die Zeugin M. hat angegeben, es habe immer wieder einmal Streitigkeiten zwischen dem Angeklagten und D. gegeben, da D. ein Schüler gewesen sei, der gern andere Schüler geärgert habe. Sie habe allerdings nicht wahrgenommen, dass der Angeklagte von D. mehr als andere Schüler geärgert worden sei oder das Opfer von Mobbing geworden sei; insbesondere könne sie sich nicht daran erinnern, dass der Angeklagte als „Neger“ bezeichnet worden sei.
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Der Umstand, dass die Zeugen A. und M. keine außergewöhnlichen Konflikte zwischen dem Angeklagten und D. wahrgenommen haben, steht dem erfahrenen Mobbing des Angeklagten durch D. allerdings nicht entgegen. Zwar hat der Zeuge D. angegeben, er könne sich an einen konkreten Konflikt mit dem Angeklagten nicht erinnern. Er habe früher in der Schule allerdings öfter andere Schüler geärgert und körperliche Auseinandersetzungen mit anderen Schülern gehabt; an eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Angeklagten könne er sich jedoch nicht erinnern. Überdies könne er sich nicht an eine konkrete Begegnung mit dem Angeklagten vor der Tat erinnern. Er habe den Angeklagten bei der Tat am 30.05.2022 nicht erkannt. Das erfahrene Mobbing des Angeklagten durch D. findet indessen eine Stütze in den Angaben, die der Angeklagte gegenüber seinem Bruder N., seinem Bezugstherapeuten J. und dem Sachverständigen Mag F. gemacht hat. Der Zeuge N., der Bruder des Angeklagten, hat angegeben, dass ihm der Angeklagte während der einstweiligen Unterbringung im Bezirksklinikum M. bei einem Besuch berichtet habe, dass er an der P.-Schule in D. Probleme mit D. gehabt habe. Er sei damals über einen längeren Zeitraum beleidigt und geschlagen worden, habe diese Erlebnisse jedoch in sich „hineingefressen“. Es habe ein paar Wochen vor Tat bei einem Aufeinandertreffen eine Provokation durch D. gegeben, der geprahlt habe, dass er den Angeklagten damals geschlagen habe. Dies habe ihm der Angeklagte auch schon ein paar Wochen vor der Tat erzählt, allerdings ohne den „Kontrahenten“ konkret zu benennen. Der Zeuge J., der während der einstweiligen Unterbringung im Bezirksklinikum M. als Bezugstherapeut für den Angeklagten zuständig war, hat angegeben, dass ihm der Angeklagte am 17.08.2022 berichtet habe, dass er die Tat als Reaktion auf in der Vergangenheit stattgefundene rassistische Beleidigungen des D. mit dem Wort „Neger“ begangen habe. Die Beleidigungen, die ihn sehr verletzt hätten, hätten ihn schon länger gestört, so dass er sich nicht anders helfen habe können. Der Sachverständige Mag F. hat angegeben, dass ihm der Angeklagte im Rahmen der Exploration zur testpsychologischen Begutachtung am 01.09.2022 und am 15.09.2022 berichtet habe, dass er an der P.-Schule in D. unter Gewalt und Mobbing durch D. gelitten habe. D. sei der „Anführer“ der Klasse gewesen und habe die Klasse gegen ihn aufgebracht, so dass er die ganze Zeit allein gewesen sei. Er sei ständig als „Neger“ beschimpft und geschlagen worden. In der achten Klasse habe er D. zufällig wieder getroffen und sei im Vorbeigehen wieder als „Neger“ beleidigt worden. Im Übrigen haben die Zeugin Y., die Mutter des Angeklagten, und der Zeuge N., der Bruder des Angeklagten, angegeben, dass die Bezeichnung mit dem Wort „Neger“ für den Angeklagten eine ganz besondere Kränkung darstelle, die ihn aggressiv mache, da er sich nicht als Eritreer, sondern als Deutscher fühle.
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Vor diesem Hintergrund ist die Einlassung des Angeklagten im Hinblick auf das erfahrene Mobbing durch D. während der Schulzeit an der P.-Schule in D. und die hierdurch hervorgerufene Kränkung glaubhaft. Über die Einlassung des Angeklagten hinaus steht zur Überzeugung der Kammer allerdings fest, dass es am Morgen des 30.05.2022 nicht lediglich zu einem zufälligen Zusammentreffen zwischen dem Angeklagten und D. gekommen ist, sondern dass sich der Angeklagte planmäßig, mit einem Messer bewaffnet, zum Bahnhof in D. begeben hatte, um D. mit dem Messer anzugreifen. Einen anderen Grund, weshalb er sich am Morgen des 30.05.2022 zum Bahnhof in D. begeben hat, hat der Angeklagte in seiner Einlassung nicht behauptet. Ein anderer Grund ist auch nicht ersichtlich, insbesondere hatte der Angeklagte am 30.05.2022 nicht Frühschicht (05:30 Uhr bis 13:30 Uhr), sondern Spätschicht (13:30 Uhr bis 21:30 Uhr), so dass in beruflicher Hinsicht kein Anlass bestand, sich bereits am Morgen zum Bahnhof zu begeben. Einen Grund, weshalb sich der Angeklagte am Morgen des 30.05.2022 zum Bahnhof in D. begeben hat, haben auch die Zeugin Y., die Mutter des Angeklagten, und der Zeuge N., der Bruder des Angeklagten, nicht finden können. Sie haben angegeben, dass sich der Angeklagte bereits am frühen Morgen im Bad befunden habe, obwohl er Spätschicht gehabt habe; dass er an dem Morgen die Wohnung verlassen habe, hätten sie allerdings nicht mitbekommen. Die im Rahmen der Exploration durch den Sachverständigen Mag F. durch den Angeklagten aufgestellte Behauptung, wonach er sich am Morgen des 30.05.2022 zum Bahnhof in D. begeben habe, um einem „Kumpel“ sein „Suchtproblem“ anzuvertrauen, hat der Angeklagte in seiner Einlassung nicht aufrechterhalten; in inhaltlicher Hinsicht ist sie ohne Substanz geblieben, insbesondere hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung ein Suchtproblem verneint und haben sich für ein Suchtproblem des Angeklagten keine konkreten Anhaltspunkte ergeben; den betreffenden „Kumpel“ hat er nicht konkret benannt. Da D., wie sich aus den Angaben der Zeugen D., B. und J. ergeben hat, an Werktagen in der Regel um 06:45 Uhr mit der „W.-Bahn“ von D. nach P. fuhr, was für den Angeklagten, der selbst regelmäßig die „W.-Bahn“ von D. nach P. benutzte, ohne große Mühen durch Beobachtungen in Erfahrung zu bringen war, bestand aus Sicht des Angeklagten eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich D. am Morgen des 30.05.2022, einem Montag, am Bahnhof in D. aufhalten würde. Im Ergebnis bleibt vor dem Hintergrund des erfahrenen Mobbings, das der Angeklagte als Grund für den Angriff auf D. benannt hat, und in der Zusammenschau mit dem stattgefundenen Tatgeschehen deshalb allein der Schluss offen, dass sich der Angeklagte am Morgen des 30.05.2022 planmäßig, mit einem Messer bewaffnet, zum Bahnhof in D. begeben hat, um D. überraschend mit dem Messer zu töten.
3. Feststellungen zum Tatgeschehen
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Die Feststellungen unter B.II. zum Tatgeschehen beruhen auf der Einlassung des Angeklagten, soweit ihr gefolgt werden konnte, und dem Ergebnis der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung.
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a) Der Angeklagte hat im Hinblick auf das äußere Geschehen eingeräumt, D. am Morgen des 30.05.2022 am Bahnhof in D. mit Messerstichen verletzt zu haben und ihn bis zum Ende des Bahnsteigs verfolgt zu haben. Seine Einlassung steht im Hinblick auf das äußere Geschehen mit dem Ergebnis der Beweisaufnahme in Einklang.
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aa) Dabei ergeben sich die näheren Einzelheiten des äußeren Geschehens zunächst aus den Schilderungen der Zeugen D., B., J., K., S., O. und L.
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Der Zeuge D. hat angegeben, er habe sich am 30.05.2022 gegen 06:30 Uhr am Bahnhof in D. aufgehalten, um wie üblich um 06:45 Uhr mit der „W.-Bahn“ nach P. in die Arbeit zu fahren. Am Bahnhof habe er zwei Mädchen, B. und J., die er bereits gekannt habe, getroffen und sie hätten sich zu dritt auf den Treppensims am Bahnhofsgebäude gesetzt. Dort habe er eine Zigarette geraucht und sich mit den beiden Mädchen unterhalten. Nachdem er die Zigarette fertig geraucht habe, sei er aufgestanden, um mit den beiden Mädchen zum Bahnsteig zu gehen. Als er aufgestanden sei, sei plötzlich der Angeklagte aus der Richtung des Busbahnhofs auf ihn zugelaufen und habe ihn, ohne etwas zu sagen, gegen die Wand des Bahnhofsgebäudes geschubst. Dann habe ihm der Angeklagte ein blaues Messer in den Bauch gestochen, wobei er einen „Schlag“ an der rechten Bauchseite gespürt habe und bemerkt habe, dass „alles nass“ geworden sei. Er habe sich gewehrt, indem er den Angeklagten mit einem Tritt von sich weggestoßen habe, jedoch sei der Angeklagte sofort erneut auf ihn zugegangen und habe erneut mit dem Messer auf seinen Oberkörper eingestochen, wobei er an der Brust und am Hals getroffen worden sei. Dabei habe er einen Teil der Stiche mit dem linken Arm abwehren können, wobei er am Arm verletzt worden sei. Da ihm bewusst geworden sei, dass er laufen müsse, sei er weggelaufen. Er sei zum Bahnsteig gelaufen und sei, am Aufzug vorbei, am Bahnsteig entlang gelaufen. Der Angeklagte sei ihm hinterhergelaufen, habe ihn jedoch nicht einholen können; er habe ihm hinterhergerufen, dass er stehenbleiben und herkommen solle. Am Ende des Bahnsteigs sei er in das Gleisbett gesprungen und sei über die Bahngleise auf die S. gelaufen; dort habe er den Notruf gewählt.
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Die Zeugin B. hat angegeben, sie habe sich an dem Morgen mit J. am Bahnhof aufgehalten, um nach P. in die Berufsschule zu fahren. Am Bahnhof hätten sie D. getroffen und sie hätten sich zu dritt auf den Treppensims am Bahnhofsgebäude gesetzt und sich unterhalten. Als sie aufgestanden seien, um zum Bahnsteig zu gehen, sei plötzlich der Angeklagte aus der Richtung der Fahrbahnautomaten auf D. zugelaufen und habe ihn, ohne etwas zu sagen, angegriffen. Der Angeklagte habe zwei oder drei Stichbewegungen gegen den Oberkörper des D. gemacht, wobei es zunächst danach ausgesehen habe, als würde er ihn schlagen; erst als sie das Messer in der Hand des Angeklagten gesehen habe, sei ihr klar geworden, dass es sich um Messerstiche gehandelt habe. D. sei erschrocken und habe vor Angst gezittert. Er habe dem Angeklagten zugerufen: „Was machst du da? Lass mich in Ruhe!“ Danach sei er in Richtung des Bahnsteigs weggelaufen und der Angeklagte sei ihm hinterhergelaufen.
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Die Zeugin J. hat angegeben, sie habe sich an dem Morgen mit B. am Bahnhof aufgehalten, um nach P. in die Berufsschule zu fahren. Am Bahnhof hätten sie D. getroffen und sie hätten sich zu dritt auf den Treppensims am Bahnhofsgebäude gesetzt und sich unterhalten. Als sie aufgestanden seien, um zum Bahnsteig zu gehen, sei plötzlich der Angeklagte auf D. zugelaufen und habe ihn, ohne etwas zu sagen, gegen die Wand des Bahnhofsgebäudes geschubst. Dann habe der Angeklagte aus der Jackentasche ein Messer herausgeholt und habe dem D. mit dem Messer in den Bauch gestochen. D. habe ihm zugerufen, er solle aufhören. Danach sei er in Richtung des Bahnsteigs weggelaufen und der Angeklagte sei ihm hinterhergelaufen. Sie habe noch gehört, dass der Angeklagte gerufen habe: „Du Hurensohn! Ich ficke deine Mutter!“
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Der Zeuge K. hat angegeben, er sei an dem Morgen mit dem Fahrrad aus der Richtung des Busbahnhofs zum Bahnhof gekommen und habe aus einer Entfernung von ca. 30 m gesehen, dass am Bahnhofsgebäude eine „Handgreiflichkeit“ zwischen zwei Personen stattgefunden habe. Im Zuge der „Handgreiflichkeit“ sei das Opfer geflüchtet und sei zum Bahnsteig gelaufen; dort sei das Opfer bis zum Ende des Bahnsteigs gelaufen, über die Brüstung gesprungen, an den Gleisen entlang gelaufen und schließlich über die Gleise gelaufen. Der Täter sei dem Opfer bis zum Ende des Bahnsteigs hinterhergelaufen und habe ihm das Wort „Hurensohn“ hinterhergerufen.
43
Die Zeugin S. hat angegeben, sie sei an dem Morgen aus der „W.-Bahn“ gestiegen und habe gesehen, dass ein dunkelhäutiger Mann auf einen anderen Mann, der auf einer Steintreppe am Bahnhofsgebäude gesessen sei, losgegangen sei und den anderen Mann geschlagen habe; ein Messer habe sie nicht gesehen. Das Opfer sei aufgestanden und habe dem Täter zugerufen, dass er aufhören solle. Danach sei das Opfer zum Bahnsteig weggelaufen und der Täter sei dem Opfer hinterhergelaufen. Sie habe den Bahnhof schnell verlassen, da sie selbst Angst bekommen habe.
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Der Zeuge O., der sich an dem Morgen als Zugführer im Triebwagen der „W.-Bahn“ befand, hat angegeben, er habe zunächst einen „Schrei“ aus dem Bereich des Bahnhofsgebäudes gehört, und habe sodann gesehen, dass ein blonder Mann am Bahnsteig entlang gelaufen sei, dem ein dunkelhäutiger Mann hinterhergelaufen sei. Der Vordermann sei am Ende des Bahnsteigs über die Brüstung gesprungen, an den Gleisen entlang gelaufen und schließlich über die Gleise gelaufen. Der Hintermann habe ein Messer in der Hand gehabt und habe den Vordermann bis zur Brüstung am Ende des Bahnsteigs verfolgt. Dort habe er dem Vordermann noch etwas hinterhergerufen.
45
Der Zeuge L., der sich an dem Morgen als zweiter Zugführer im Triebwagen der „W.-Bahn“ befand, hat angegeben, er habe zunächst ein „Geschrei“ aus dem Bereich des Bahnhofsgebäudes gehört und habe sodann gesehen, dass zwei Personen hintereinander am Zug vorbeigelaufen seien. Der Vordermann sei am Ende des Bahnsteigs in das Gleisbett gesprungen, an den Gleisen entlang gelaufen und schließlich über die Gleise gelaufen. Der Hintermann habe ein Messer in der Hand gehabt und habe den Vordermann bis zum Ende des Bahnsteigs verfolgt.
46
bb) Die örtliche Einordnung des Geschehens stützt sich überdies auf die Inaugenscheinnahme der Lichtbilder, die im Rahmen der Ermittlungen durch die Polizei am 30.05.2022 am Bahnhof in D. gefertigt wurden. Anhand der in den Lichtbildern dokumentierten Blutspuren, die der Zeuge KHK C., der die polizeilichen Ermittlungen als Sachbearbeiter geführt hat, erläutert hat, konnte die Auseinandersetzung und der Fluchtweg des D. in örtlicher Hinsicht konkret nachvollzogen werden. Ferner haben die Zeugen ihre Schilderungen anhand der Lichtbilder in örtlicher Hinsicht schlüssig erklärt.
47
cc) Darüber hinaus wird der stattgefundene Kontakt des Angeklagten und des D. belegt durch die DNA-Spur des D., die an der am 30.05.2022 getragenen Jogginghose des Angeklagten gesichert werden konnte. Dies folgt aus den Befunden und Ergebnissen der molekulargenetischen Untersuchung der Kleidung des Angeklagten, die aus der Verlesung des Gutachtens der Firma E. vom 04.07.2022 hervorgehen. Im Rahmen der Untersuchung wurden (unter anderem) die Spuren, die an der am 30.05.2022 getragenen Jogginghose des Angeklagten gesichert wurden, molekulargenetisch untersucht; dabei konnte dem D. eine Einzelspur (Spur 3.13) als Alleinverursacher zugeordnet werden. Diesbezüglich ist im Gutachten vom 04.07.2022 ausgeführt, dass die Untersuchung der anhaftenden Zellmaterialien der Spur 3.13 (Jogginghose des Angeklagten) bei einer Untersuchung von 16 Merkmalssystemen und einer Analyse des Amelogeninsystems zu einem DNA-Muster geführt habe, das sich auf eine einzige Person zurückführen lasse und vollständig mit den DNA-Merkmalen des D. übereinstimme; dabei lasse sich die in der Spur 3.13 (Jogginghose des Angeklagten) nachgewiesene Allelkombination in biostatistischer Hinsicht ca. 3,0 x 1023 Mal wahrscheinlicher durch eine Verursachung des D. als durch eine Verursachung einer unbekannten mit D. unverwandten Person erklären, so dass D. ohne vernünftigen Zweifel als Verursacher der anhaftenden Zellmaterialien der Spur 3.13 (Jogginghose des Angeklagten) anzusehen sei.
48
dd) Das konkrete Tatmesser konnte nicht identifiziert werden. Diesbezüglich ergab sich aus den Angaben der Zeugen keine nähere Beschreibung des Messers, insbesondere konnte der Zeuge D. lediglich angeben, dass es sich um ein blaues Messer gehandelt habe. Als mögliche Tatmesser konnten, wie der Zeuge KHK C. berichtet hat, auf dem Fluchtweg des Angeklagten, der mit einem Personenspürhund bis zur D.-Promenade nachvollzogen werden konnte, ein blaues Teppichmesser, und in der Wohnung des Angeklagten ein blaues Schälmesser aufgefunden werden, die nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. A., mit Blick auf die von den Messern gefertigten Lichtbilder, als Tatmesser in Betracht kommen, deren spurentechnische Untersuchung jedoch keine verwertbaren Ergebnisse für eine Zuordnung erbrachte. Letztlich sei, so der Sachverständige Prof. Dr. A., ein einseitig geschliffenes Messer mit einer Klingenlänge von mindestens 4 cm ausreichend, um die bei D. festgestellten Verletzungen zu verursachen.
49
ee) Die näheren Feststellungen zu den Verletzungen, die D. durch die Stiche des Angeklagten erlitten hat, beruhen auf der Verlesung des Arztberichts des Klinikums D. vom 30.05.2022, der Operationsberichte des Klinikums D. vom 30.05.2022, des Sonographiebefundes des Klinikums D. vom 30.05.2022, des Computertomographiebefundes des Klinikums D. vom 30.05.2022 und des Viszeralchirurgiebefundes des Klinikums D. vom 01.06.2022, auf den in Augenschein genommenen Lichtbildern der Verletzungen und auf dem rechtsmedizinischen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. A..
50
Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. A. lassen sich die bei D. festgestellten Verletzungen plausibel als Stich- bzw. Schnittverletzungen mit einem Messer mit einer einseitig geschliffenen Klinge, die unter Berücksichtigung der Weichteilkomprimierung eine Länge von mindestens 4 cm gehabt haben müsse, erklären. Dabei sei die Stichverletzung am rechten Oberbauch lebensbedrohlich gewesen, da die Bauchhöhle eröffnet worden sei und die Leber beschädigt worden sei, so dass das Risiko einer starken und lebensbedrohlichen Blutung bestanden habe, die nur durch die durchgeführte Notoperation rechtzeitig abgewendet werden habe können. Überdies bestehe bei einer Eröffnung der Bauchhöhle durch die Möglichkeit des Eindringens von Keimen die Gefahr einer Bauchfellentzündung (Peritonitis), die lebensbedrohliche Folgen haben könne. Daneben hätte bei einer Eröffnung der Pfortader, die bei D. am rechten Ast berührt worden sei, die Gefahr eines raschen Verblutens bestanden. Die Beschreibung der Stichverletzung durch den Zeugen D. als „Schlag“ sei charakteristisch für die Wahrnehmung einer Stichverletzung im Rahmen einer Auseinandersetzung, bei der das Opfer den Sticht nicht sehe; in derartigen Fällen werde eine Stichverletzung typischerweise nicht als spitze Gewalt, sondern als stumpfe Gewalt wahrgenommen.
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Die Feststellungen zu den Verletzungsfolgen beruhen auf den Angaben des Zeugen D., der angegeben hat, dass er durch die Tat keine dauerhaften körperlichen Schäden davongetragen habe; die Verletzungen seien mittlerweile verheilt und es gehe ihm körperlich wieder gut. Er sei durch die Tat allerdings psychisch noch belastet und leide seither unter Ängsten, wenn er allein aus dem Haus gehe oder an Menschenmengen vorbeigehe; er fühle sich dann unwohl und habe ein „komisches Bauchgefühl“; in therapeutischer Behandlung befinde er sich jedoch nicht. Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit des D. hat die Kammer zugunsten des Angeklagten auf zumindest drei Monate geschätzt. Zwar hat der Zeuge D. angegeben, er sei bis Ende des Jahres 2022 krankgeschrieben gewesen; insofern hat sich ein ursächlicher Zusammenhang des angegebenen Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit mit den durch das Tatgeschehen erlittenen Verletzungen jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen lassen. Vor diesem Hintergrund hat sich die Kammer veranlasst gesehen, die Dauer der Arbeitsunfähigkeit des D. im Wege der Schätzung zugunsten des Angeklagten nach unten zu korrigieren.
52
ff) Bei einer Gesamtwürdigung der erhobenen Beweise besteht, unter Berücksichtigung der Einlassung des Angeklagten, mithin kein Zweifel, dass sich das äußere Geschehen, wie unter B.II. festgestellt, zugetragen hat.
53
b) Im Hinblick auf die innere Tatseite ist die Kammer der Einlassung des Angeklagten, der einen Tötungsvorsatz bestritten hat, nicht gefolgt. Stattdessen steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Angeklagte nicht nur mit Verletzungsvorsatz, sondern auch mit Tötungsvorsatz (Tötungsabsicht) auf D. eingewirkt hat. Dies folgt aus einer Gesamtschau der Tatsituation, der Angriffsweise, der Lage und des Verhaltens des D. und der Motivation und der psychischen Verfassung des Angeklagten. Dabei hat die Kammer im Ausgangspunkt bedacht, dass aus der Gefährlichkeit einer Handlung nicht ohne Weiteres auf eine Billigung des Tötungserfolges geschlossen werden kann. Jedoch hat die Kammer maßgebend in den Blick genommen, dass sich der Angeklagte planmäßig, mit einem Messer bewaffnet, zum Bahnhof in D. begeben hat, um D. mit dem Messer anzugreifen; um eine aus einem zufälligen Zusammentreffen entstandene Spontantat handelte es sich nicht. Am Bahnhof hat der Angeklagte ohne vorangegangene Auseinandersetzung gezielt mit dem Messer auf den Oberkörper des D. eingestochen und ihn am rechten Oberbauch getroffen. Dabei handelt es sich um eine äußerst gefährliche Gewalthandlung, die bereits für sich genommen die Annahme einer Tötungsabsicht nahelegt (vgl. BGH, Urteil vom 07.11.2006, Az. 1 StR 307/06); dies gilt umso mehr, wenn das Opfer, wie hier, aufgrund des Überraschungseffekts keine Chance hat, die Wirkung des Stichs durch Ausweichbewegungen oder Abwehrhandlungen abzumildern. Dabei hat die Kammer keinen Zweifel, dass dem Angeklagten, der in seinen kognitiven Fähigkeiten, die im Durchschnittsbereich liegen, nicht beschränkt ist, die Lebensgefährlichkeit eines Messerstichs in den Oberkörper einer anderen Person bewusst war. Hinzu kommt, dass der Angeklagte nach der Zufügung der Verletzung am Oberbauch durch den ersten Messerstich, nach dem ihn D. mit einem Tritt weggestoßen hatte, erneut auf D. zugegangen ist und er, obwohl bereits ein Verletzungserfolg eingetreten war, noch mehrmals mit dem Messer auf den Oberkörper des D. eingestochen hat, wobei er ihn noch fünfmal getroffen hat. Dennoch hat der Angeklagte, obwohl ein weiterer Verletzungserfolg eingetreten war, den flüchtenden D., das Messer in der Hand haltend, verfolgt, um abermals mit dem Messer auf ihn einzuwirken, wobei er dem flüchtenden D. zurief, er solle stehenbleiben und herkommen. Daraus folgt, dass es dem Angeklagten nicht lediglich auf den Verletzungserfolg, sondern gerade auf den Tötungserfolg angekommen ist, um hierdurch sein Rachemotiv zu verwirklichen.
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c) Überdies ist die Kammer der Einlassung des Angeklagten, wonach er D. bei einer Verfolgung über das Ende des Bahnsteigs hinaus „ohne Weiteres“ hätte einholen können, wenn er dies gewollt hätte, nicht gefolgt. Seine Einlassung ist bereits deshalb nicht plausibel, weil er D. schon während der Verfolgung am Bahnsteig, als er ihm mit dem Messer in der Hand hinterhergelaufen ist, nicht hat einholen können; andernfalls hätte es seines Zurufs an D., er solle stehenbleiben und herkommen, nicht bedurft. Nachdem er D. schon während der Verfolgung am Bahnsteig nicht einholen konnte, ist nicht ersichtlich, weshalb ihm dies bei einer Fortsetzung der Verfolgung über das Ende des Bahnsteigs hinaus (leichter) möglich gewesen sein sollte. Die Feststellung, dass er D. schon am Bahnsteig nicht hat einholen können, sondern sich der Abstand zwischen ihm und D. zunehmend vergrößert hat, folgt aus den Angaben der Zeugen D., B., K., O. und L.. Diesbezüglich hat der Zeuge D. angegeben, der Angeklagte sei, als er ihm nachgelaufen sei, nicht so nahe an ihn herangekommen, dass er ihn noch greifen hätte können. Die Zeugin B. hat angegeben, dass D. schneller gewesen sei als der Angeklagte, so dass er entkommen habe können. Der Zeuge K. hat angegeben, für ihn sei „klar“ gewesen, dass der Täter mit seiner „Aktion“ noch nicht fertig gewesen sei und dem Opfer hinterhergelaufen sei, um es zu erwischen; zu Beginn der Verfolgung sei der Abstand zwischen dem Täter und dem Opfer noch „dicht aufeinanderfolgend“ gewesen, das Opfer sei aber „mit vollem Tempo“ gelaufen und dem Täter entkommen. Der Zeuge O., der die Verfolgung am Bahnsteig aus dem Triebwagen der „W.-Bahn“ beobachtet hat, hat angegeben, er habe erst den Vordermann und dann den Hintermann wahrgenommen; die beiden Personen seien so weit auseinander gewesen, dass der Hintermann den Vordermann nicht greifen habe können. Der Zeuge L. der die Verfolgung am Bahnsteig auch aus dem Triebwagen der „W.-Bahn“ beobachtet hat, hat ebenfalls angegeben, er habe erst den Vordermann und dann den Hintermann wahrgenommen; der Hintermann sei „deutlich langsamer“ als der Vordermann gewesen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Ausruf des Angeklagten („Du Hurensohn! Ich ficke deine Mutter!“) beim Erreichen der Brüstung am Ende des Bahnsteigs bei der Betrachtung des Gesamtgeschehens als Ausdruck der Verärgerung über das Entkommen des D. und das Scheitern des Angriffs. Im Ergebnis besteht daher kein Zweifel, dass der Angeklagte den D. nicht etwa hat ziehen lassen, sondern dass D. dem Angeklagten entkommen ist. Zwar wäre es dem Angeklagten an sich möglich gewesen, sich selbst nach dem Ende des Bahnsteigs in das Gleisbett zu begeben und die Verfolgung des D. im Gleisbett und über die Bahngleise fortzusetzen. Hierbei hätte er sich allerdings selbst in den Gefahrenbereich des Gleisbetts und der Bahngleise begeben müssen und, falls er D. überhaupt erreichen hätte können, zu einem neuen Angriff ansetzen müssen, wobei er sich nun, nach dem Entfallen des Überraschungseffekts, auf einen Zweikampf mit D., der seiner Statur nach kräftiger war als der Angeklagte, einlassen hätte müssen.
4. Feststellungen zum Nachtatgeschehen
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Die Feststellungen unter B.III. zum Nachtatgeschehen beruhen auf der Einlassung des Angeklagten und den Angaben des Zeugen KHK C..
5. Feststellungen zu Alkohol und Drogen
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Die Feststellung unter B.IV., dass der Angeklagte bei der Begehung der Tat nicht unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen stand, beruht auf der Verlesung des Protokolls zur Feststellung von Alkohol und Drogen im Blut vom 30.05.2022, aus dem sich eine Atemalkoholkonzentration in Höhe von 0,00 mg/l am 30.05.2022 um 17:30 Uhr ergibt, des ärztlichen Berichts vom 30.05.2022, aus dem sich ergibt, dass bei dem Angeklagten zum Zeitpunkt der Blutentnahme am 30.05.2022 um 18:40 Uhr ein äußerlicher Anschein des Einflusses von Alkohol oder Drogen nicht bemerkbar gewesen ist, des Blutalkoholuntersuchungsbefundes des Universitätsklinikums B. vom 08.06.2022, aus dem sich hinsichtlich der Untersuchung der am 30.05.2022 um 18:40 Uhr bei dem Angeklagten entnommenen Blutprobe eine Blutalkoholkonzentration von < 0,1 ‰ ergibt, und der immunologischen Vortestbefunde des Universitätsklinikums B. vom 09.06.2022 und des rechtsmedizinischen Gutachtens des Universitätsklinikums B. vom 18.07.2022, aus denen bzw. aus dem sich hinsichtlich der Untersuchung der am 30.05.2022 um 18:40 Uhr bei dem Angeklagten entnommenen Blutprobe in Bezug auf Amphetamine, Methamphetamin, Ecstasy-Derivate, Kokain, Opiate, Cannabinoide, Methadon, Benzodiazepine und trizyklische Antidepressiva jeweils ein negativer Befund ergibt. Überdies haben sich aus dem Ergebnis der Untersuchung einer Haarprobe des Angeklagten vom 14.06.2022, das aus dem verlesenen Gutachten des Bayerischen Landeskriminalamtes vom 15.09.2022 hervorgeht, keine Anhaltspunkte ergeben, dass der Angeklagte bei der Begehung der Tat unter dem Einfluss von Drogen stand. Im Übrigen haben sich aus den Angaben der Tatzeugen keine Hinweise auf alkohol- oder drogenbedingte Ausfallerscheinungen ergeben.
6. Feststellungen zur Schuldfähigkeit
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Die Feststellungen unter B.II.6. zur Schuldfähigkeit beruhen auf dem Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. und dem psychologischen Gutachten des Sachverständigen Mag F..
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Die Sachverständige Dr. B., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, der die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft D. und die Jugendamtsakten des Landratsamts D. zur Verfügung gestanden haben, die den Angeklagten am 07.06.2022 in der Justizvollzugsanstalt L. und am 15.09.2022 im Bezirksklinikum M. im Rahmen einer persönlichen Exploration untersucht hat und die das Verhalten des Angeklagten an drei Hauptverhandlungstagen beobachtet hat, ist in diagnostischer Hinsicht aufgrund der ihr vorliegenden Anknüpfungstatsachen und der von ihr erhobenen Befundtatsachen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat an einer Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der intellektuellen Entwicklung und ohne Beeinträchtigung der funktionalen Sprache (ICD-11: 6A02.0) gelitten hat (und noch daran leidet), die in forensischer Hinsicht das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB erfüllt.
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Die Sachverständige hat anhand der Diagnosekriterien der ICD-11 auf den biografischen Werdegang des Angeklagten abgestellt und nachvollziehbar ausgeführt, dass sich bei dem Angeklagten bereits in der Kindheit Verhaltensauffälligkeiten im familiären, schulischen und sozialen Bereich gezeigt hätten, die sich im Jugendlichen- und Heranwachsendenalter fortgesetzt hätten. Es habe bereits früh ein hoher Förderbedarf bestanden. Der Angeklagte sei durch Probleme in Bezug auf die Konzentrationsfähigkeit, die Sprachentwicklung und die Umsetzung von Handlungsanweisungen und durch eine Störung des Sozialverhaltens mit aggressiven und impulsiven Verhaltensweisen aufgefallen, wobei sich eine ausgeprägte Affektverflachung, Antriebslosigkeit und Emotionslosigkeit abgezeichnet habe, die mit einer mangelnden Kommunikationsfähigkeit und verminderten Kritikfähigkeit einhergegangen sei. Eine Integration in die Gleichaltrigengruppe sei ihm nicht gelungen. Sein zunehmend aggressives Verhalten innerhalb der Familie habe zur Heimunterbringung in H. geführt. Dort sei er durch seine ausgeprägte Antriebslosigkeit und Emotionslosigkeit aufgefallen, bevor er am Tag des Auszugs, dem xx.xx.2021, seinem 18. Geburtstag, mit Körperverletzungen in Erscheinung getreten sei, die am 09.03.2022 zur ersten strafrechtlichen Verurteilung durch das Amtsgericht D. geführt hätten.
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Überdies hat die Sachverständige ausgeführt, dass im Rahmen der Exploration des Angeklagten in psychopathologischer Hinsicht ein deutlich abgeflachter Affekt und eine fehlende affektive Resonanz aufgefallen sei. Zudem hätten sich beim ersten Explorationstermin formale Denkstörungen in Form einer Verlangsamung, einer verlängerten Antwortlatenz und einer reduzierten Aufmerksamkeit gezeigt. Dabei habe der Angeklagte durch eine misstrauische und unnahbare Grundhaltung imponiert. Beim zweiten Explorationstermin, als der Angeklagte bereits eine Medikation mit 4 mg Risperidon erhalten habe, seien die Denkstörungen nicht mehr erkennbar gewesen; die affektiven Auffälligkeiten hätten jedoch weitgehend fortbestanden.
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Differentialdiagnostisch hat die Sachverständige neben der Autismus-Spektrum-Störung auch die Diagnosen einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ICD-11: 6A05) und einer Schizophrenie (ICD-11: 6A20) in Betracht gezogen, im Ergebnis jedoch trotz teilweiser Symptomüberlappung überzeugend verneint, insbesondere haben sich bei dem Angeklagten für ein halluzinatorisches oder wahnhaftes Erleben keine Anhaltspunkte finden lassen.
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An der Diagnose der Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der intellektuellen Entwicklung und ohne Beeinträchtigung der funktionalen Sprache (ICD-11: 6A02.0) besteht mithin kein Zweifel. Im Übrigen ist auch der Sachverständige Mag F., der eine testpsychologische Begutachtung des Angeklagten durchgeführt hat und den Angeklagten am 01.09.2022 und am 15.09.2022 untersucht hat, zur Diagnose der Autismus-Spektrum-Störung gelangt.
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In forensischer Hinsicht hat die Sachverständige Dr. B. die bei dem Angeklagten bestehende Autismus-Spektrum-Störung, bei der es sich um eine neuronale Entwicklungsstörung handelt, überzeugend dem Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB zugeordnet und nachvollziehbar ausgeführt, dass sich Ausprägung und Schwere der Störung als erheblich darstellten, da das Funktionsniveau des Angeklagten durch die Störung seit frühester Kindheit in verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere im familiären, schulischen und sozialen Bereich, deutlich eingeschränkt gewesen sei. Dies habe neben einem hohen Förderbedarf in Kindergarten und Schule bislang zum Fehlen einer Berufsausbildung und einer längeren Berufstätigkeit geführt, außerdem sei bislang keine selbständige Lebensführung und kein Beziehungsaufbau außerhalb der Familie zu verzeichnen. Die Defizite der Autismus-Spektrum-Störung hätten den biografischen Werdegang des Angeklagten seit frühester Kindheit geprägt und erhebliche Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen nach sich gezogen, so dass die Einordnung unter das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB geboten sei.
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Zur Auswirkung der Störung auf die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten hat die Sachverständige Dr. B. ausgeführt, dass sich keine Hinweise auf eine Realitätsverkennung oder einen Realitätsverlust zum Zeitpunkt der Tat ergeben hätten, die eine Einschränkung der Einsichtsfähigkeit in das Unrecht der Tat hätten bedingen können, insbesondere hätten sich bei dem Angeklagten keine Anhaltspunkte für intellektuelle Einbußen oder psychotische Wahrnehmungsveränderungen ergeben. Sein Bewusstsein, Unrecht zu tun, sei durch die Störung nicht beeinträchtigt gewesen.
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Zur Auswirkung der Störung auf die Steuerungsfähigkeit, die vermindert ist, wenn das Hemmungsvermögen des Täters gegenüber dem Durchschnitt von Personen, die keine psychische Störung im Sinne des § 20 StGB aufweisen, herabgesetzt ist, so dass der Täter dem Tatanreiz weniger Widerstand leisten kann (vgl. Fischer, StGB, 70. Auflage 2023, § 21 Rn. 8), hat die Sachverständige Dr. B. ausgeführt, dass das Tatgeschehen einerseits auf einen hohen Planungsgrad und ein kontrolliertes und zielgerichtetes Handeln des Angeklagten hindeute, andererseits jedoch durch die „ungeschickte“ Wahl des Tatorts und der Tatzeit im Hinblick auf das hohe Entdeckungsrisiko des Angeklagten ein mangelndes Überschauungsvermögen in Bezug auf die Konsequenzen seines Handelns erkennen lasse, das als Ausfluss der Störung zu begreifen sei. Daneben gehe mit der Autismus-Spektrum-Störung häufig eine Störung der Impulskontrolle einher, die in Verbindung mit störungstypischen Defiziten wie fehlenden Bewältigungsstrategien, ausgeprägter Gefühlsarmut, mangelnder Empathiefähigkeit und fehlender Reflexionsfähigkeit, die auch bei dem Angeklagten vorhanden seien, das Hemmungsvermögen eines Autisten beeinträchtigen könne und sich in Wutattacken äußern könne. Daher könne bereits bei der Betrachtung des Tatgeschehens unter Einbeziehung der störungstypischen Defizite des Angeklagten eine störungsbedingte Verminderung des Hemmungsvermögens nicht mehr ausgeschlossen werden. Unter zusätzlicher Einbeziehung des Motivs, das die Kammer festgestellt hat, nämlich dass sich der Angeklagte an D. für das erfahrene Mobbing in der Schulzeit, insbesondere für die Kränkung durch die Bezeichnung als „Neger“, rächen wollte, und unter der Annahme, dass der Angeklagte ca. drei bis vier Wochen vor der Tat dem D. begegnet sei, er hierdurch erneut ein Gefühl von Kränkung und Wut verspürt habe und er den D. deshalb angegriffen habe, um sein Rachemotiv zu verwirklichen, was die Kammer festgestellt hat, stelle sich die Tat deutlich als Ausfluss der Autismus-Spektrum-Störung dar und sei das Hemmungsvermögen des Angeklagten störungsbedingt sicher vermindert, wenngleich nicht aufgehoben gewesen. Denn durch die Defizite der Störung fehlten dem Angeklagten die Bewältigungsstrategien und Kontrollmechanismen, um bestimmte Vorgänge aus der Vergangenheit zu verarbeiten und angemessen mit Gefühlen von Kränkung und Wut umzugehen; daher sei es nachvollziehbar, dass durch die Begegnung mit D. ca. drei bis vier Wochen vor der Tat das Gefühl von Kränkung und Wut erneut „hochgekocht“ sei. Dabei sei es typisch für die Störung, dass sich Gedanken oder Gefühle unbewältigt festsetzten und sich zunächst im Sinne eines „Rumorens“ eine Weile aufstauten, bevor es im Sinne eines „Überschießens“ zu einer Entladung komme. Dieses Muster lasse sich bei dem Angeklagten auch bei dem Vorfall am 24.08.2022 im Bezirksklinikum M. erkennen, als er ca. eine halbe Stunde nach einer Zurechtweisung durch einen Pfleger gegen Tische und Stühle getreten habe und einen Stuhl durch den Aufenthaltsraum geworfen habe. Dem Angeklagten fehlten aufgrund der Störung die Bewältigungsstrategien und Kontrollmechanismen, um bei einem „Rumoren“ von Kränkung und Wut zügelnd auf seine Gefühle einzuwirken und die Konsequenzen seines Handelns angemessen in den Blick zu nehmen, zumal er sich mangels Empathiefähigkeit nicht in die Perspektive seines Gegenübers hineinversetzen könne. Daher stelle sich die Tat des Angeklagten unter Zugrundelegung des Rachemotivs als Ausfluss der Autismus-Spektrum-Störung dar und sei das Hemmungsvermögen des Angeklagten bei der Begehung der Tat störungsbedingt sicher vermindert, wenngleich nicht aufgehoben gewesen.
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Im Anschluss an die Ausführungen der Sachverständigen Dr. B. ist die Kammer überzeugt, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat an einer Autismus-Spektrum-Störung, bei der es sich um eine dauerhafte psychische Erkrankung handelt, gelitten hat (und noch daran leidet), die das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB erfüllt, dass die Autismus-Spektrum-Störung ursächlich für die Begehung der Tat war und dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Begehung der Tat aufgrund der Autismus-Spektrum-Störung erheblich im Sinne des § 21 StGB vermindert war. Soweit die Sachverständige Dr. B. letzte Zweifel daran, ob die Störung zu einer Verminderung der Steuerungsfähigkeit geführt habe, nicht überwinden konnte, beruhten ihre Zweifel darauf, dass sie als Psychiaterin die Motivation des Angeklagten nicht sicher habe feststellen können. Diese Feststellung hatte sie als Sachverständige allerdings auch nicht zu treffen, sondern war von der Kammer vorzunehmen. Unter der Annahme der Motivation des Angeklagten, die die Kammer festgestellt hat, gelangte sodann auch die Sachverständige Dr. B. zu dem Ergebnis, dass eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit feststehe.
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Bei der Beurteilung der Erheblichkeit im Sinne des § 21 StGB, bei der es sich um eine Rechtsfrage handelt (vgl. Fischer, StGB, 70. Auflage 2023, § 21 Rn. 8), hat die Kammer die Fähigkeit des Angeklagten, motivatorischen und situativen Tatanreizen in der Tatsituation zu widerstehen und sich normgemäß zu verhalten, geprüft und im Rahmen einer Gesamtwürdigung sämtliche Gesichtspunkte, die für und gegen eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei dem Angeklagten sprechen, herangezogen und bewertet. Dabei hat die Kammer insbesondere die Planmäßigkeit seines Vorgehens in den Blick genommen, aus den Ausführungen der Sachverständigen Dr. B., wonach es störungstypisch sei, dass sich Gedanken oder Gefühle unbewältigt festsetzten und erst im zeitlichen Abstand zur Entladung kämen, allerdings den Schluss gezogen, dass bereits die Planung der Tat unter dem Einfluss des unbewältigten Gefühls von Wut und Rache stand und auf das hieraus entstandene Rachemotiv eingeengt war, das in der Tatsituation zur Umsetzung gelangte. Dies zeigt sich überdies daran, dass der Angeklagte keine Bedenken hatte, sein Rachemotiv ohne Rücksicht auf das hohe Entdeckungsrisiko, das mit der Tatbegehung an einem hochfrequentierten Bahnhof zur Morgenzeit offensichtlich verbunden war, zu verwirklichen. Im Ergebnis stellt sich die Verminderung der Steuerungsfähigkeit mithin als erheblich im Sinne des § 21 StGB dar, da die Fähigkeit des Angeklagten, dessen Blickwinkel störungsbedingt einzig auf die Umsetzung seines Rachemotivs gerichtet war, den motivatorischen und situativen Tatanreizen zu widerstehen in der konkreten Tatsituation zu widerstehen, erkennbar herabgesetzt war.
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Im Übrigen haben sich für eine Intelligenzminderung oder eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung im Sinne des § 20 StGB keine Anhaltspunkte gefunden. Die Intelligenz des Angeklagten liegt, wie der Sachverständige Mag F. überzeugend ausgeführt hat, im (unteren) Durchschnittsbereich. In einem hochgradigen Affektzustand befand sich der Angeklagte bei der (planmäßigen) Begehung der Tat nicht, insbesondere fehlten, wie die Sachverständige Dr. B. überzeugend ausgeführt hat, die charakteristischen Kriterien einer Affektumkehr im Sinne von Affektaufbau und Affektabbau und einer schweren Erschütterung nach der Tat.
7. Feststellungen zum Motiv
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Die Feststellungen unter B.VI. zum Motiv ergeben sich aus der Einlassung des Angeklagten, die gestützt wird durch die Angaben der Zeugen A., M., D., N. und J. und des Sachverständigen Mag F. (siehe oben unter C.II.2.).
D. Rechtliche Würdigung
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Der Angeklagte hat sich aufgrund des festgestellten Sachverhalts des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 211 Abs. 1, Abs. 2, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, 22, 23 Abs. 1, 52 StGB schuldig gemacht.
I. Versuch des Mordes
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Der Angeklagte hat nach den getroffenen Feststellungen gemäß § 22 StGB unmittelbar zur Tötung des D. angesetzt, indem er in Tötungsabsicht mit einem Messer auf den Oberkörper des D. eingestochen hat; dabei handelte er heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB.
1. Heimtücke
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Heimtückisch handelt nach ständiger Rechtsprechung, wer eine zum Zeitpunkt des Angriffs bestehende Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tat ausnutzt (vgl. BGH, Urteil vom 22.01.1952, Az. 1 StR 485/51; Beschluss vom 02.12.1957, Az. GSSt 3/57; Urteil vom 16.02.2005, Az. 5 StR 14/04; Beschluss vom 10.01.2006, Az. 5 StR 341/05); maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs, d.h. bei Eintritt der Tat in das Versuchsstadium (vgl. BGH, Urteil vom 03.09.2002, Az. 5 StR 139/02; Urteil vom 29.11.2007, Az. 4 StR 425/07; Urteil vom 30.08.2012, Az. 4 StR 84/12; Urteil vom 11.03.2021, Az. 3 StR 316/20). Arglosigkeit ist gegeben, wenn sich das Opfer zum Zeitpunkt der Tat eines Angriffs auf seine körperliche Unversehrtheit nicht versieht (vgl. BGH, Urteil vom 30.05.1996, Az. 4 StR 150/96; Beschluss vom 30.10.1996, Az. 2 StR 405/96; Urteil vom 03.09.2015, Az. 3 StR 242/15). Der in der Heimtücke zum Ausdruck kommende Unrechtsgehalt liegt darin, dass der Mörder sein Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren (vgl. BGH, Urteil vom 20.10.1993, Az. 5 StR 473/93; Urteil vom 30.05.1996, Az. 4 StR 150/96). Die Überraschung des Opfers entfällt, wenn es einen Angriff des Täters für möglich hält; seine Arglosigkeit kann insbesondere dann beseitigt sein, wenn der Tat eine offene Auseinandersetzung mit feindseligem Verhalten des Täters vorangegangen ist (vgl. BGH, Urteil vom 21.12.1977, Az. 2 StR 452/77; Urteil vom 30.05.1996, Az. 4 StR 150/96). Wehrlosigkeit ist gegeben, wenn dem Opfer infolge seiner Arglosigkeit die natürliche Abwehrbereitschaft und -fähigkeit fehlt oder stark eingeschränkt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29.04.1997, Az. 4 StR 158/97; Beschluss vom 11.09.2007, Az. 1 StR 273/07; Beschluss vom 19.06.2008, Az. 1 StR 217/08). In subjektiver Hinsicht setzt das Mordmerkmal der Heimtücke nicht nur voraus, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers erkennt; erforderlich ist außerdem, dass er die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (vgl. BGH, Urteil vom 24.09.2014, Az. 2 StR 160/14; Beschluss vom 16.05.2018, Az. 1 StR 123/18; Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18). Dafür genügt es, wenn er die die Heimtücke begründenden Umstände nicht nur in einer äußerlichen Weise wahrgenommen, sondern in dem Sinne in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst hat, dass ihm bewusst geworden ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. BGH, Urteil vom 14.06.2017, Az. 2 StR 10/17; Beschluss vom 16.05.2018, Az. 1 StR 123/18; Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18; Urteil vom 22.05.2019, Az. 2 StR 530/18, Urteil vom 09.10.2019, Az. 5 StR 299/19; Urteil vom 11.05.2022, Az. 2 StR 445/21). Das Ausnutzungsbewusstsein kann bereits dem objektiven Bild des Geschehens entnommen werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt (vgl. BGH, Beschluss vom 30.07.2013, Az. 2 StR 5/13; Urteil vom 15.11.2017, Az. 5 StR 338/17; Beschluss vom 16.05.2018, Az. 1 StR 123/18; Urteil vom 04.07.2018, Az. 5 StR 580/17; Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18; Urteil vom 11.05.2022, Az. 2 StR 445/21). Dabei ist bei erhaltener Unrechtseinsicht die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt (vgl. BGH, Urteil vom 27.02.2008, Az. 2 StR 603/07; Urteil vom 31.07.2014, Az. 4 StR 147/14; Urteil vom 15.11.2017, Az. 5 StR 338/17; Beschluss vom 16.05.2018, Az. 1 StR 123/18; Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18; Urteil vom 11.05.2022, Az. 2 StR 445/21).
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Nach diesen Maßgaben ist das Mordmerkmal der Heimtücke in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt, da der Angeklagte nach den getroffenen Feststellungen die zum Zeitpunkt des Angriffs bestehende Arg- und Wehrlosigkeit des D. bewusst zur Tat ausgenutzt hat. D. versah sich zu dem Zeitpunkt, als der Angeklagte auf ihn zulief, ihn schubste und ihm mit dem Messer in den Bauch stach, keines Angriffs auf seine körperliche Unversehrtheit und hatte hierzu auch keinen Anlass. Er befand sich in einer alltäglichen Standardsituation, indem er am Bahnhof auf den Zug, mit dem er in die Arbeit fahren wollte, wartete, sich mit den Schülerinnen B. und J. unterhielt und im Begriff war, mit den Schülerinnen zum Bahnsteig zu gehen. Es bestand in der gegebenen Situation für ihn kein Anlass, mit einem Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit zu rechnen, insbesondere hatte im näheren zeitlichen Zusammenhang keine feindselige Auseinandersetzung mit dem Angeklagten stattgefunden. Demnach bestand für D. auch kein Anlass, Anstalten für eine Verteidigung gegen einen Angriff zu treffen. Der Angriff des Angeklagten traf ihn deshalb im Zustand der Ahnungslosigkeit und kam für ihn völlig überraschend. Aufgrund des Überraschungseffekts waren seine Reaktions- und Verteidigungsmöglichkeiten deutlich beeinträchtigt, insbesondere im Hinblick auf den ersten Messerstich, der ihn ohne die Möglichkeit der Gegenwehr oder des Ausweichens in den rechten Oberbauch traf. Zwar bemerkte D., als er vom Treppensims aufstand, das Zulaufen des Angeklagten auf ihn und ging dem ersten Messerstich ein Schubsen voran, jedoch war die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff durch den ersten Messerstich so kurz, dass dem D. keine Möglichkeit von Abwehrhandlungen oder Ausweichbewegungen blieb. Angesichts des äußeren Geschehensablaufs liegt es auf der Hand, dass der Angeklagte die Überraschungssituation, in der sich D. befand, erkannt hat und bewusst zur Tatbegehung ausgenutzt hat. Der Angeklagte, der in seinen kognitiven Fähigkeiten, die im Durchschnittsbereich liegen, nicht beschränkt ist und in seiner Einsichtsfähigkeit nicht beeinträchtigt war, trat D. nicht in einem offenen Kampf gegenüber, sondern näherte sich ihm wortlos, hielt das Messer in seiner Jackentasche verborgen, schubste ihn, zog das Messer aus der Jackentasche hervor und stach unmittelbar auf ihn ein. In der gegebenen Situation war klar ersichtlich, dass sich D. gegen einen schnell und unerwartet geführten Messerstich nicht oder nicht wesentlich wehren würde können. Seine Steuerungsfähigkeit war zwar aufgrund der bei ihm bestehenden Autismus-Spektrum-Störung erheblich vermindert, jedoch nicht aufgehoben. Eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung seiner Fähigkeit, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für D. zu erfassen, ist nicht ersichtlich. Wenngleich seine Hemmkräfte geschwächt waren, wusste er, dass er einen ahnungslosen Menschen durch den Angriff mit einem Messer überraschen würde, und nutzte die Überraschungssituation bewusst zur Tatbegehung aus.
2. Niedrige Beweggründe
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Niedrige Beweggründe liegen nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn die Motive einer Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen, d.h. wenn die Beweggründe für die Tat in deutlich weiter reichendem Maße als bei einem Totschlag verachtenswert erscheinen (vgl. BGH, Urteil vom 02.12.1987, Az. 2 StR 559/87; Urteil vom 18.10.1995, Az. 2 StR 341/95; Urteil vom 11.01.2000, Az. 1 StR 505/99; Urteil vom 02.02.2000, Az. 2 StR 550/99; Urteil vom 03.09.2002, Az. 5 StR 139/02; Urteil vom 22.03.2017, Az. 2 StR 656/13; Beschluss vom 24.10.2018, Az. 1 StR 422/18; Urteil vom 28.11.2018, Az. 5 StR 379/18). Die Beurteilung erfordert eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren; hierbei sind insbesondere das Verhältnis zwischen Anlass und Tat, die Vorgeschichte der Tat, eine den Täter oder das Opfer treffende Verantwortung an einer Konflikteskalation und das unmittelbar vorherrschende Tatmotiv im Zusammenhang mit sonstigen Beweggründen, Handlungsantrieben und Einstellungen des Täters gegenüber der Person und dem Lebensrecht des Opfers zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 17.04.2007, Az. 5 StR 548/06; Urteil vom 22.03.2017, Az. 2 StR 656/13; Beschluss vom 24.10.2018, Az. 1 StR 422/18; Urteil vom 28.11.2018, Az. 5 StR 379/18; Beschluss vom 12.09.2019, Az. 5 StR 399/19; Urteil vom 11.05.2022, Az. 2 StR 445/21). Bei normalpsychologischen Tatantrieben hängt die Einordnung der Beweggründe als niedrig davon ab, ob diese Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen (vgl. BGH, Urteil vom 30.08.2012, Az. 4 StR 84/12; Urteil vom 22.03.2017, Az. 2 StR 656/13; Beschluss vom 24.10.2018, Az. 1 StR 422/18; Urteil vom 28.11.2018, Az. 5 StR 379/18); das ist beispielsweise der Fall, wenn die tatmotivierende Gefühlsregung jedes nachvollziehbaren Grundes entbehrt (vgl. BGH, Beschluss vom 21.12.2000, Az. 4 StR 499/00; Urteil vom 28.01.2003, Az. 5 StR 310/02; Urteil vom 01.03.2012, Az. 3 StR 425/11). In subjektiver Hinsicht müssen dem Täter die der Bewertung als „niedrig“ zugrunde liegenden Umstände bekannt und die Beurteilung als sittlich besonders anstößig seiner Einsicht zugänglich gewesen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 10.09.2003, Az. 5 StR 373/03; Beschluss vom 14.04.2004, Az. 4 StR 577/03); er muss seine gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern können (vgl. BGH, Urteil vom 19.10.2001, Az. 2 StR 259/01; Beschluss vom 14.04.2004, Az. 4 StR 577/03; Urteil vom 25.09.2019, Az. 5 StR 222/19).
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Nach diesen Maßgaben hat der Angeklagte aus niedrigen Beweggründen gehandelt; dabei hat die Kammer im Rahmen einer Gesamtwürdigung die für seinen Handlungsantrieb maßgeblichen Faktoren in den Blick genommen. Das Motiv des Angeklagten bestand darin, sich an D. für das erfahrene Mobbing in der Schulzeit an der P.-Schule in D., insbesondere für die Kränkung durch die Bezeichnung als „Neger“, zu rächen. Dabei hat die Kammer bedacht, dass Rachsucht als normalpsychologischer Tatantrieb nur dann als niedriger Beweggrund gewertet werden kann, wenn sie auf einer niedrigen Gesinnung beruht. Dies ist jedoch hier der Fall, da das Rachebedürfnis des Angeklagten, insbesondere im Hinblick auf den Zeitablauf seit den Vorkommnissen, die gerächt werden sollten, jedes nachvollziehbaren Grundes entbehrt und ein krasses Missverhältnis zwischen Anlass und Tat zutage treten lässt. Die Vorkommnisse, in denen das Rachebedürfnis des Angeklagten wurzelt, fanden in der ersten Klasse an der P.-Schule in D. statt, als der Angeklagte und D. noch Kinder waren; sie lagen zur Zeit der Tat bereits mehr als ein Jahrzehnt in der Vergangenheit. Wenngleich die Erinnerung an die Vorkommnisse durch die Begegnungen des Angeklagten mit D. zwischen September 2018 und Juli 2019 bzw. im Mai 2022, ca. drei bis vier Wochen vor dem 30.05.2022, wieder wachgerufen wurde, war das erfahrene Mobbing spätestens mit dem Schulwechsel des Angeklagten im Juli 2011 beendet und schränkte die Lebensgestaltung des Angeklagten in der Folge nicht erkennbar ein. Dennoch sollte D. nach der Vorstellung des Angeklagten für das erfahrene Mobbing an der P.-Schule und die fortbestehenden Gefühle der Kränkung und der Wut mit seinem Leben bezahlen. Das Missverhältnis zwischen Anlass und Tat ist mithin eklatant. Hierdurch wird eine selbstsüchtige Gesinnung des Angeklagten belegt, wonach es ihn zustehe, seine Vorstellungen von Gerechtigkeit über das Leben einer anderen Person zu stellen. Bei der getroffenen Gesamtwürdigung, bei der die Kammer auch berücksichtigt hat, dass es sich nicht um eine aus einem zufälligen Zusammentreffen entstandene Spontantat, sondern um eine geplante Tat handelte, sind weder die Vorgeschichte noch die Tatsituation geeignet, die Tat des Angeklagten als menschlich verständlich erscheinen zu lassen, und bieten keinen Grund, der einer Bewertung seines Handlungsantriebs als auf sittlich tiefster Stufe stehend entgegenwirken könnte. Dabei hat die Kammer keinen Anhaltspunkt finden können, dass der Angeklagte außerstande gewesen wäre, die Bewertung seiner Handlungsantriebe als „niedrig“ nachzuvollziehen und seine gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen gedanklich zu beherrschen oder willensmäßig zu steuern. Seine kognitiven Fähigkeiten, die im Durchschnittsbereich liegen, sind nicht beschränkt und seine Einsichtsfähigkeit war nicht beeinträchtigt. Seine Steuerungsfähigkeit war zwar aufgrund der bei ihm bestehenden Autismus-Spektrum-Störung erheblich vermindert, jedoch nicht aufgehoben. Er hatte die notwendige Erkenntnisfähigkeit, um die Beurteilung seines Motivs als sittlich besonders anstößig zu erfassen; seine Hemmkräfte waren zwar geschwächt, allerdings weiterhin vorhanden.
3. Kein Rücktritt nach § 24 Abs. 1 StGB
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Der Angeklagte ist von dem Versuch des Mordes nicht nach § 24 Abs. 1 StGB zurückgetreten. Für einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch war bereits deshalb kein Raum, weil der Versuch, D. zu töten, fehlgeschlagen ist.
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Ein Versuch ist fehlgeschlagen, wenn der Taterfolg aus Sicht des Täters mit den bereits eingesetzten oder zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr erreicht werden kann, ohne dass eine ganz neue Handlungs- und Kausalkette in Gang gesetzt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 19.05.1993, Az. GSSt 1/93; Urteil vom 30.11.1995, Az. 5 StR 465/95; Beschluss vom 29.01.2002, Az. 4 StR 520/01; Urteil vom 15.09.2005, Az. 4 StR 216/05; Urteil vom 19.05.2010, Az. 2 StR 278/09; Urteil vom 25.10.2012, Az. 4 StR 346/12), wobei es auf die Sicht des Täters unmittelbar nach dem Ende seiner letzten Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont) ankommt (vgl. BGH, Beschluss vom 07.05.2014, Az. 4 StR 105/14). Demnach liegt ein fehlgeschlagener Versuch vor allem dann vor, wenn es dem Täter tatsächlich unmöglich ist, im unmittelbaren Fortgang des Geschehens den Erfolg noch herbeizuführen, insbesondere bei einer Flucht des Opfers (vgl. BGH, Urteil vom 14.07.1992, Az. 1 StR 243/92; Beschluss vom 07.08.2001, Az. 4 StR 300/01; Urteil vom 20.05.2009, Az. 2 StR 576/08).
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Nach diesen Maßgaben ist der Mordversuch des Angeklagten fehlgeschlagen. Zum Zeitpunkt des letzten Messerstichs am Bahnhofsgebäude war der Tatablauf, den sich der Angeklagte vorgestellt hatte, nämlich D. in einem Überraschungsangriff zu töten, aus Sicht des Angeklagten misslungen, da D. trotz der erlittenen Treffer weiterhin bewegungsfähig war, sich wehrte und schließlich flüchtete. Daher verfolgte der Angeklagte den D., das Messer in der Hand haltend, noch bis zum Ende des Bahnsteigs, konnte ihn jedoch nicht mehr einholen. Spätestens beim Erreichen der Brüstung am Ende des Bahnsteigs lag es bei der Betrachtung des Gesamtgeschehens aus Sicht des Angeklagten auf der Hand, dass sein Angriff gescheitert war, dass er das Geschehen nicht mehr in der Hand hatte und dass es zur Herbeiführung des Erfolges eines Ansetzens zu einem neuen Angriff in einem anderen örtlichen, situativen und zeitlichen Rahmen bedurft hätte (siehe oben unter C.II.3.c)). Eine Herbeiführung des Erfolges im unmittelbaren Fortgang des Geschehens war dem Angeklagten daher nicht mehr möglich.
II. Gefährliche Körperverletzung
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In Tateinheit mit dem Versuch des Mordes hat der Angeklagte eine gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5 StGB begangen. Er hat eine Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB begangen, indem er mit einem Messer mit einer einseitig geschliffenen Klinge und einer Klingenlänge von mindestens 4 cm mehrmals auf den Oberkörper von D. eingestochen hat und hierdurch dem D. sechs Stich- bzw. Schnittverletzungen zugefügt hat; bei dem Messer handelt es sich nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Benutzung und mit Blick auf die Erheblichkeit der Verletzung um ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Gleichzeitig hat der Angeklagte die Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB begangen, da der Stich mit dem Messer in Bauch des D., der die Leber verletzte, nach den Umständen des Einzelfalls geeignet war, das Leben des D. zu gefährden.
E. Rechtsfolgen
I. Anwendung von Jugendstrafrecht
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Der Angeklagte war zur Zeit der Tat 18 Jahre alt und somit Heranwachsender im Sinne des § 1 Abs. 2 JGG. Seine Tat war nach Jugendstrafrecht zu ahnden, da die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergab, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG. Nach dem bisherigen Werdegang, dem persönlichen Eindruck in der Hauptverhandlung und dem Bericht der Jugendgerichtshilfe lässt die bisherige Entwicklung des Angeklagten auf Reifeverzögerungen schließen, die jedoch noch behebbar sind. Das Heranwachsen des Angeklagten verlief nicht ohne Brüche und Schwierigkeiten. Seine Kindheit war belastet durch die Scheidung der Eltern und die Überforderung der Mutter, die eine Familienhilfe des Jugendamts erforderlich machte. Es folgte im Alter von 16 Jahren bis zum Eintritt der Volljährigkeit eine Heimunterbringung in H.. Der anschließende Verselbständigungsversuch durch die Wohnungsnahme in einer Einzimmerwohnung in B. gelang nicht; stattdessen zog der Angeklagte nach einem halben Jahr wieder bei der Mutter in D. ein und lebte bis zu seiner Festnahme wie ein Jugendlicher im Haushalt der Mutter. Im Hinblick auf die schulische Entwicklung des Angeklagten bestand bereits früh ein hoher Förderbedarf. Er wechselte mehrmals die Schule und musste zwei Klassen wiederholen. Seine schulischen Leistungen blieben bis zum Ende der Mittelschule im unterdurchschnittlichen Bereich. Erst durch den Besuch einer Berufsintegrationsklasse, in der seine Leistungen als „sehr gut“ bewertet wurden, erwarb er den Mittelschulabschluss, ohne jedoch in der Folge eine Berufsausbildung zu beginnen; stattdessen folgte in beruflicher Hinsicht bis März 2022 eine längere Zeit der Orientierungslosigkeit, in der sich der Angeklagte nicht für eine Ausbildung oder ein Praktikum motivieren konnte. Zum Zeitpunkt der Festnahme befand er sich erst seit ca. drei Monaten in einem Arbeitsverhältnis, wobei er einen Teil seines Einkommens als Beitrag für Kost und Logis bei der Mutter abgeben musste. Er hatte noch keine konkreten Pläne oder Ziele für die Zukunft und hatte sich außerhalb der Familie noch kein tragendes Beziehungsgefüge aufbauen können. Im Übrigen war seine Entwicklung durch die bei ihm bestehende Autismus-Spektrum-Störung belastet. In der Gesamtschau stand der Angeklagte daher zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleich.
II. Verhängung von Jugendstrafe
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Zur Ahndung der Tat ist gegen den Angeklagten (an sich, vgl. § 5 Abs. 3 JGG) die Verhängung von Jugendstrafe geboten, da die Voraussetzungen des § 17 Abs. 2 JGG i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG erfüllt sind.
1. Schädliche Neigungen
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Bei dem Angeklagten lagen zur Zeit der Tat schädliche Neigungen im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG vor, die in der Tat hervorgetreten sind und noch vorhanden sind. Schon das Urteil des Amtsgerichts D. vom 09.03.2022, rechtskräftig seit 09.03.2022, Az. …, hatte Körperverletzungen zum Gegenstand, die der Angeklagte am xx.xx.2021 begangen hatte. Die in dem Urteil ausgesprochenen Rechtsfolgen, d.h. die Weisung, einen sozialen Trainingskurs zu absolvieren und einen Geldbetrag in Höhe von 350 € zu zahlen, haben den Angeklagten nicht abgehalten, nur ca. zehn Monate nach den damaligen Taten und nur ca. drei Monate nach der damaligen Verurteilung einen versuchten Mord in Tateinheit mit einer gefährlichen Körperverletzung zu begehen. Die hohe Rückfallgeschwindigkeit geht einher mit einer massiven Intensivierung der Rechtsgutsverletzung. Aus diesen Umständen schließt die Kammer in Übereinstimmung mit der Einschätzung der Jugendgerichtshilfe auf die Neigung des Angeklagten, das Leben und die körperliche Unversehrtheit anderer Personen gering zu achten und Gewalt ohne große Bedenken zur Verwirklichung seiner Vorstellungen einzusetzen. Diese Persönlichkeitsmängel begründen die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten aus demselben Deliktsbereich, der nur durch eine längere Gesamterziehung begegnet werden kann. Mildere Maßnahmen als die Verhängung von Jugendstrafe sind zur Einwirkung auf den Angeklagten nicht ausreichend.
2. Schwere der Schuld
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Darüber hinaus erfordert die Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2 JGG die Verhängung von Jugendstrafe. Der Angeklagte hat einen versuchten Mord in Tateinheit mit einer gefährlichen Körperverletzung begangen. Dabei hat er mit Tötungsabsicht zwei Mordmerkmale verwirklicht und zwei Tatbestandsvarianten der gefährlichen Körperverletzung erfüllt. Die Tat stellt sich nicht als Spontantat dar, sondern der Angeklagte hat sich planmäßig zum Bahnhof begeben, um D. aus Rache für die erlebte Kränkung in der Schulzeit zu töten. Diese Gesichtspunkte erhöhen die persönliche Schuld des Angeklagten, auch unter Berücksichtigung der erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund der Autismus-Spektrum-Störung, deutlich und begründen die Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG. Überdies ergibt sich das Gewicht des Tatunrechts aus der gesetzlichen Strafandrohung des Erwachsenenstrafrechts, nach dem für den Versuch des Mordes, ausgehend von der absoluten Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe gemäß § 211 Abs. 1 StGB, bei doppelter Milderung nach § 23 Abs. 2 StGB i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB (wegen des Versuchs) und nach § 21 StGB i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB (wegen der erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit) ein Strafrahmen von 6 Monaten bis zu 11 Jahren 3 Monaten zugrunde zu legen sein würde. Zur Einwirkung auf den Angeklagten stellt sich mithin die Verhängung von Jugendstrafe als geboten dar. Die Tat hat eine erhebliche Geringachtung der Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit erkennen lassen, die der Angeklagte ohne große Bedenken seinem Bedürfnis nach Rache untergeordnet hat. Daher ist es erzieherisch notwendig, dass der Angeklagte in Anbetracht seines Versagens eine Nachreifung erfährt, die es ihm künftig ermöglicht, auf Kränkungen angemessen zu reagieren und sich normgemäß zu verhalten.
III. Strafrahmen
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Bei der Bemessung der Höhe der Jugendstrafe ist der Strafrahmen des § 18 Abs. 1 S. 1 JGG i.V.m. § 105 Abs. 3 S. 1 JGG zugrunde zu legen, der von 6 Monaten bis zu 10 Jahren reicht.
IV. Bemessung der Jugendstrafe
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Die Jugendstrafe ist gemäß § 18 Abs. 2 JGG i.V.m. § 105 Abs. 3 S. 1 JGG so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist. Dabei hat die Kammer die Persönlichkeit und die charakterliche Haltung des Angeklagten gewürdigt und neben dem Erziehungsgedanken das Erfordernis eines angemessenen Schuldausgleichs in den Blick genommen.
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Zugunsten des Angeklagten hat die Kammer berücksichtigt, dass er sich in der Hauptverhandlung teilgeständig eingelassen hat, dass er in der Hauptverhandlung bekundet hat, die Tat zu bereuen, und dass er sich in der Hauptverhandlung bei D. entschuldigt hat. Überdies hat die Kammer zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Tötung des D. nicht zur Vollendung gelangt ist, sondern im Stadium des Versuchs geblieben ist, und dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Begehung der Tat aufgrund der bei ihm bestehenden Autismus-Spektrum-Störung erheblich vermindert gewesen ist, so dass zwei vertypte Milderungsgründe gegeben sind. Ferner hat die Kammer zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Verletzungen, die D. erlitten hat, lediglich einen kurzen stationären Krankenhausaufenthalt des D. erforderlich gemacht haben und dass D. durch die Tat keine dauerhaften körperlichen Schäden davongetragen hat.
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Zulasten des Angeklagten hat die Kammer berücksichtigt, dass es sich bei der Tat um den Versuch eines Kapitalverbrechens gehandelt hat, dass der Angeklagte mit Tötungsabsicht zwei Mordmerkmale verwirklicht hat und zwei Tatbestandsvarianten der gefährlichen Körperverletzung erfüllt hat und dass es sich um eine geplante Tat gehandelt hat, deren Anlass außer Verhältnis zur Tat stand und schon lange in der Vergangenheit lag. Überdies hat die Kammer zulasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er bereits mit Urteil des Amtsgerichts D. vom 09.03.2022, rechtskräftig seit 09.03.2022, Az. …, wegen Körperverletzungen, die er am xx.xx.2021 begangen hatte, verurteilt worden ist, wobei ihn die in dem Urteil ausgesprochenen Rechtsfolgen nicht abgehalten haben, nur ca. zehn Monate nach den damaligen Taten und nur ca. drei Monate nach der damaligen Verurteilung einen versuchten Mord in Tateinheit mit einer gefährlichen Körperverletzung zu begehen. Ferner hat die Kammer zulasten des Angeklagten berücksichtigt, dass D. sechs Stich- bzw. Schnittverletzungen erlitten hat, wobei der Stich in den Oberbauch konkret lebensgefährlich war und zu einer Beschädigung der Leber führte; diesbezüglich war es lediglich dem Zufall zu verdanken, dass durch den Stich nicht die Pfortader beschädigt wurde. Außerdem hat die Kammer zulasten des Angeklagten berücksichtigt, dass D. infolge der Tat zumindest drei Monate arbeitsunfähig war und er seit der Tat unter Ängsten leidet.
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Im Übrigen hat die Kammer in den Blick genommen, dass sich der Angeklagte in dieser Sache seit ca. zehn Monaten in Untersuchungshaft bzw. einstweiliger Unterbringung befindet, es sich um seine erste Inhaftierung handelt und der Freiheitsentzug in Ansätzen bereits erzieherisch auf ihn gewirkt hat, wenngleich eine Auseinandersetzung mit seinen deliktrelevanten Persönlichkeitsmerkmalen noch aussteht. Darüber hinaus hat die Kammer bedacht, dass das Heranwachsen des Angeklagten von Brüchen und Schwierigkeiten im familiären, schulischen und sozialen Bereich begleitet gewesen ist und er bis zu seiner Inhaftierung nicht die erforderliche Behandlung der bei ihm bestehenden Autismus-Spektrum-Störung erfahren hat. Insgesamt sind bei dem Angeklagten unter Berücksichtigung der für ihn sprechenden Gesichtspunkte erhebliche Persönlichkeitsdefizite vorhanden. Er hielt sich für berechtigt, sich zur Befriedigung seines Rachebedürfnisses über die Rechtsordnung hinwegzusetzen und eine schwere Straftat gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit einer anderen Person zu begehen. Seine Persönlichkeitsdefizite begründen einen längeren Erziehungsbedarf, um bei dem Angeklagten einen Lebensweg ohne weitere Straftaten zu erreichen, aber auch dem Unrechtsgehalt der Tat gerecht zu werden.
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Unter Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Berücksichtigung seiner Persönlichkeit, seiner charakterlichen Haltung und der Folgen der Strafe für seine Zukunft erscheint der Kammer, unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts D. vom 09.03.2022, dessen Rechtsfolgen erst teilweise erledigt sind, gemäß § 31 Abs. 2 JGG, (an sich, vgl. § 5 Abs. 3 JGG) eine Jugendstrafe von 5 Jahren notwendig, aber auch ausreichend, um in dem gebotenen Maß erzieherisch auf den Angeklagten einzuwirken.
V. Maßregeln der Besserung und Sicherung
1. Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
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Als Maßregel der Besserung und Sicherung war die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen, weil die Voraussetzungen des § 63 StGB i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 105 Abs. 1 JGG vorliegen Der Angeklagte hat sich aufgrund des festgestellten Sachverhalts des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 211 Abs. 1, Abs. 2, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, 22, 23 Abs. 1, 52 StGB schuldig gemacht.
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Zur Schuldfähigkeit hat die Kammer festgestellt, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat an einer Autismus-Spektrum-Störung gelitten hat (und noch daran leidet), die bei ihm mit Sicherheit zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB geführt hat (siehe oben unter C.II.6.).
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Dabei handelt es sich nach dem Gutachten der Sachverständigen Dr. B., dem sich die Kammer aus eigener Überzeugung anschließt, um eine dauerhafte und fortbestehende psychische Erkrankung, die das Merkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB erfüllt und die auch künftig der Behandlung bedarf.
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Die Störung ist mit Sicherheit ursächlich gewesen für die Begehung der Tat und die erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten und lässt aufgrund seines derzeitigen Zustandes von dem Angeklagten in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten.
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Diesbezüglich hat die Sachverständige Dr. B. in prognostischer Hinsicht, ausgehend von den statistischen Basisraten für Gewaltdelikte von 25% bis 50% und für Tötungsdelikte von bis zu 3% in einem Zeitraum von zwei bis sechs Jahren, ausgeführt, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit bei dem Angeklagten aufgrund der Autismus-Spektrum-Störung über die Basisraten erhöht sei und für Gewaltdelikte in einem Bereich von über 30 – 40% liege, wobei für Tötungsdelikte eine nähere Bezifferung nicht möglich sei. Mit Blick auf das Vorleben, die Vorstrafe und die Anlasstat bilde sich bei dem Angeklagten eine Neigung zu aggressiven Verhaltensweisen bei unbewältigten Gefühlen ab, die sich auch bei dem Vorfall am 24.08.2022 im Bezirksklinikum M., als der Angeklagte nach einer Zurechtweisung durch einen Pfleger gegen Tische und Stühle getreten habe und einen Stuhl durch den Aufenthaltsraum geworfen habe, gezeigt habe. Die Wiederholungsgefahr für Gewaltdelikte sei dadurch erhöht, dass der Angeklagte aufgrund der Autismus-Spektrum-Störung nicht über die erforderlichen Bewältigungsstrategien und Kontrollmechanismen verfüge, um negative Gefühle zu regulieren und drängende Handlungsimpulse zu mäßigen. Dabei komme gefahrerhöhend hinzu, dass dem Angeklagten aufgrund der Autismus-Spektrum-Störung die Fähigkeit zum Perspektivwechsel fehle und er sich aufgrund seiner mangelnden Empathiefähigkeit nicht in sein Gegenüber hineinversetzen könne. Überdies fehle ihm aufgrund der Autismus-Spektrum-Störung die Reflexionsfähigkeit, um bei einem drängenden Handlungsimpuls die Konsequenzen seines Handelns in den Blick zu nehmen. Es sei daher auch in der Zukunft mit ähnlich gelagerten Taten zu rechnen.
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Der Einschätzung der Sachverständigen Dr. B. schließt sich die Kammer nach einer Gesamtwürdigung des Angeklagten und seiner Tat aus eigener Überzeugung an. Unter Würdigung der Person des Angeklagten, seines bisherigen Lebensweges, seiner Lebensbedingungen, seines Vorlebens, seines derzeitigen Zustandes und der von ihm begangenen Tat besteht kein Zweifel, dass von dem Angeklagten infolge seines Zustandes auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne von Gewalt- und Tötungsdelikten mit einer höhergradigen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
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Angesichts dessen kann der von dem Angeklagten gegenwärtig ausgehenden Gefahr allein durch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB begegnet werden.
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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) ist gewahrt, weil die Anlasstat von schwerwiegender Art ist und gleichgelagerte Taten von dem Angeklagten drohen. Dabei hat die Kammer insbesondere das junge Alter des Angeklagten und den Umstand, dass die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zeitlich unbefristet erfolgt, berücksichtigt. Demgegenüber war jedoch die aktuell fortbestehende erhebliche Gefährlichkeit des Angeklagten für die Allgemeinheit zu sehen. Bei der Anlasstat, bei der es sich um den Versuch eines Kapitalverbrechens handelte und für die es keinen menschlich nachvollziehbaren Grund gab, war es nur dem Zufall zu verdanken, dass es nicht zum Tod des Opfers kam. Es steht zu besorgen, dass der Angeklagte in unbehandeltem Zustand, wenn sich unbewältigte Gefühle bei ihm aktualisieren, jederzeit erneut ähnlich gelagerte Straftaten begehen wird. Die Anlasstat erfolgte nur ca. zehn Monate nach den Körperverletzungen vom xx.xx.2021 und nur ca. drei Monate nach der ersten strafrechtlichen Verurteilung vom 09.03.2022. Überdies hat die Kammer berücksichtigt, dass bei dem Angeklagten, wie sich aus dem Gutachten der Sachverständigen Dr. B. ergeben hat, günstige Behandlungsaussichten bestehen, so dass die begründete Erwartung besteht, dass, jedenfalls bei guter Mitarbeit des Angeklagten im Rahmen der Therapie, die Unterbringung binnen weniger Jahre wieder beendet werden kann. Bereits die Einnahme einer niedrig dosierten neuroleptischen Medikation hat bei dem Angeklagten, der bis zu seiner Inhaftierung nicht die erforderliche Behandlung der Autismus-Spektrum-Störung erfahren hat, zu einer Impulsglättung geführt, wenngleich eine tiefergreifende therapeutische Behandlung noch aussteht.
98
Die Unterbringung des Angeklagten stellt sich auch unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens (§ 2 Abs. 1 JGG) als verhältnismäßig dar. Die Kammer ist überzeugt, dass der Angeklagte nur zu einem straffreien Leben im Erwachsenenalter finden wird, wenn seine Autismus-Spektrum-Störung behandelt wird. Der Angeklagte möchte nach seinen eigenen Angaben im Rahmen der Hauptverhandlung ein normales und straffreies Leben führen und, um dies zu ermöglichen, behandelt werden. Diese Behandlung kann jedoch im Jugendstrafvollzug nicht ausreichend geschehen, sondern nur in einem psychiatrischen Krankenhaus. Aufgrund der bei dem Angeklagten zutage getretenen schädlichen Neigungen und der Schwere der Tat käme vorliegend, anstelle einer Unterbringung, nur die Verhängung einer nicht mehr zur Bewährung auszusetzenden Jugendstrafe in Betracht. Der Jugendstrafvollzug würde jedoch auf eine bloße Verwahrung des Angeklagten hinauslaufen, nachdem seine psychische Erkrankung dort nicht angemessen behandelt werden kann. Nach der Verbüßung der Jugendstrafe würde der Angeklagte mit derselben Störung entlassen werden und zur Überzeugung der Kammer alsbald erneut darauf beruhende Straftaten begehen. Die Verhängung einer Jugendstrafe ist vorliegend daher weder erzieherisch sinnvoller noch zur Vermeidung künftiger Straffälligkeit geeigneter als die Unterbringung. Sie stellt sich daher vorliegend nicht als milderes Mittel gegenüber der Unterbringung gemäß § 63 StGB dar.
99
Eine Aussetzung der Maßregel zur Bewährung gemäß § 67b Abs. 1 StGB kam nicht in Betracht. Der Zweck der Maßregel kann aktuell nur durch deren Vollzug erreicht werden. Denn der Gefährlichkeit des Angeklagten kann derzeit, über die bereits eingeleitete Medikation hinaus, bis zu einer tiefergreifenden therapeutischen Behandlung seiner Erkrankung, nicht auf andere Weise als durch den Vollzug der Maßregel begegnet werden. Die Anlasstat entstand aus einem unbewältigten Gefühl der Kränkung und der Wut, das sich in dem Angeklagten angestaut hatte und ihn den Entschluss zur Begehung der Tat fassen ließ. Daher wird es für den Angeklagten, neben der Festigung der Behandlungsbereitschaft, die unter schrittweisen Lockerungen zu erproben sein wird, unabdingbar sein, zumindest basale Bewältigungsstrategien zu erlernen, um künftig in sozialverträglicher Weise mit negativen Gefühlen umzugehen und drängende Handlungsimpulse zu kontrollieren. Bis dies erreicht ist, kann der Gefährlichkeit des Angeklagten nicht durch mildere Mittel, insbesondere nicht durch Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht, wirksam begegnet werden. Eine Behandlungsform in einem ambulanten Rahmen kommt daher aktuell nicht in Betracht.
2. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
100
Die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt war nicht anzuordnen, weil die Voraussetzungen des § 64 StGB i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 105 Abs. 1 JGG nicht vorliegen. Ein Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, liegt bei dem Angeklagten nicht vor. Überdies stand der Angeklagte bei der Begehung der Tat nicht unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen.
101
VI. Entbehrlichkeit der Jugendstrafe nach § 5 Abs. 3 JGG Die Kammer hat gemäß § 5 Abs. 3 JGG i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG von der Verhängung der Jugendstrafe neben der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB abgesehen. Die Behandlung der psychischen Störung des Angeklagten, die maßgeblich zur Begehung der Tat beigetragen hat, erfolgt durch die Unterbringung. Dabei werden die erzieherischen Einwirkungs- und Ahndungszwecke mit Blick auf die freiheitsentziehenden und therapeutischen Elemente der Unterbringung in ausreichender Weise verfolgt und realisiert. Die Verhängung der Jugendstrafe ist deshalb entbehrlich, da der Gefährlichkeit des Angeklagten gerade durch die Unterbringung entgegengewirkt wird (vgl. BGH, Urteil vom 03.12.2015, Az. 4 StR 387/15; Beschluss vom 22.07.2009, Az. 2 StR 240/09). Ein zusätzliches Bedürfnis für die Verhängung der Jugendstrafe besteht vorliegend nicht. Mithin hat die Kammer, unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts D. vom 09.03.2022, dessen Rechtsfolgen erst teilweise erledigt sind, gemäß § 31 Abs. 2 JGG, im Ergebnis allein die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet.
F. Kosten
102
Im Hinblick auf die Kosten des Verfahrens erschien es der Kammer sachgerecht, gemäß § 74 JGG i.V.m. § 109 Abs. 2 S. 1 JGG von der Auferlegung der Kosten abzusehen, da sich der Angeklagte vor der Tat erst seit ca. drei Monaten in einem Arbeitsverhältnis befand. Angesichts der berechtigten Nebenklage war es jedoch erzieherisch geboten, dem Angeklagten gemäß § 472 Abs. 1 StPO die notwendigen Auslagen des Nebenklägers aufzuerlegen.