Titel:
Abwägung der Bleibe- oder Ausweisungsinteressen bei der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen
Normenketten:
AufenthG § 11 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1, § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 2 Nr. 9, § 55, § 84 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, § 113 Abs. 1 S. 1, § 117 Abs. 5
StGB § 78 Abs. 3, § 78c Abs. 3 S. 2
BZRG § 46
Leitsätze:
1. Bei Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG aus generalpräventiven Gründen bedarf es keiner Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte, sondern lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten, im Einzelfall so etwa bei Falschangaben zur Erlangung der Duldung, einer Identitätstäuschung gegenüber der Ausländerbehörde, Falschangaben im Visumsverfahren, Verletzung der Passpflicht oder Körperverletzung. Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich iRd Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (vgl. VGH München BeckRS 2020, 30367 mwN). (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Zeitrahmen der Verjährungsfristen ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses an generalpräventiven Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG eine absolute Obergrenze für die Annahme eines noch bestehenden generalpräventiven Ausweisungsinteresses (vgl. BVerwG BeckRS 2017, 107747; BeckRS 2019, 16744). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Ausweisungs- und Bleibeinteressen sind weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar (vgl. BVerwG BeckRS 2017, 107747; BeckRS 2017, 125402). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Ausweisung aus generalpräventiven Gründen, Straffälligkeit, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Befristung, Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse, Tilgungsfristen, Verjährungsfrist, Straftaten, Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 25372
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,-- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben ein am ... in … geborener jordanischer Staatsangehöriger, wendet sich mit der seinem Antrag zugrundeliegenden Klage gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet und den Erlass eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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Der Antragsteller reiste nach eigenen Angaben am ... in das Bundesgebiet ein und stellte am ... einen Asylantrag, welchen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 29. Januar 2020 ablehnte. Die hiergegen erhobene Klage wies das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 3. Januar 2022 rechtskräftig ab (M 27 K …*).
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Seit dem ... ist der Antragsteller mangels Vorliegens von Reisedokumenten im Besitz einer Duldung.
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Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Dachau vom 2. Februar 2023 wurde der Antragsteller wegen versuchter Nötigung in Tateinheit mit Bedrohung in Tateinheit mit Verbreitung pornographischer Inhalte in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt. Die abgeurteilten Taten richteten sich gegen einen Arbeitskollegen des Antragstellers.
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Mit Schreiben des Landratsamts D. (Landratsamt) vom ... wurde der Antragsteller zu der beabsichtigten Ausweisung aus dem Bundesgebiet angehört. Eine Stellungnahme erfolgte nicht.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid des Landratsamts vom 27. April 2023, dem Antragsteller mittels Postzustellungsurkunde zugestellt am 28. April 2023, wurde der Antragsteller aus der Bundesrepublik ausgewiesen (Nr. 1). Es wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und auf die Dauer von drei Jahren ab Ausreise befristet (Nr. 2). Das Landratsamt stützte die getroffenen Verfügungen im Wesentlichen auf §§ 53, 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sowie §§ 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass die Ausweisung des Antragstellers auf generalpräventive Gründe gestützt werde, das Ausweisungsinteresse als schwerwiegend einzustufen sei und keinerlei familiäre oder soziale Bindungen im Bundesgebiet bekannt seien.
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Am 10. Mai 2023 hat der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht München zur Niederschrift Klage erhoben und beantragt,
den Bescheid vom 27. April 2023 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller eine Aufenthaltsgestattung auszustellen (M 27 K …*). Zudem wurde beantragt,
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für den Fall fehlender aufschiebender Wirkung der Klage deren aufschiebende Wirkung anzuordnen.
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Eine Klage- und Antragsbegründung erfolgten nicht.
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Das Landratsamt legte am 25. Mai 2023 die Behördenakte vor und beantragte für den Antragsgegner,
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den Antrag abzulehnen.
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Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2023 zeigte der Bevollmächtigte des Antragstellers dessen Vertretung an.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
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Der Antrag bleibt ohne Erfolg.
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I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist nur teilweise zulässig. Soweit er zulässig ist, ist er unbegründet.
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1. Der Antrag ist nicht statthaft und somit unzulässig, soweit er auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisung in Nr. 1 des Bescheides gerichtet ist. Der Klage kommt insoweit bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zu (§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil § 84 Abs. 1 AufenthG insoweit nicht einschlägig ist und auch die sofortige Vollziehung von der Antragsgegnerin nicht angeordnet worden ist.
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2. Die in der Hauptsache statthafte Anfechtungsklage (vgl. BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 42; Dollinger in: Bermann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 11 AufenthG Rn. 134) gegen den Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG hat gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung (vgl. VGH BW, B.v. 13.11.2019 – 11 S 2996/19 – juris Rn. 41 ff.; offengelassen in BVerwG, B.v. 28.5.2020 – 1 VR 2.19 – juris Rn. 12), sodass der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auf gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung insoweit statthaft ist.
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3. Der hiergegen gerichtete Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist jedoch unbegründet. Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist bei einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Suspensivinteresse vorzunehmen. Dabei nimmt das Gericht eine eigene, originäre Interessensabwägung vor, für die in erster Linie die Erfolgsaussichten in der Hauptsache maßgeblich sind. Im Falle einer voraussichtlich aussichtslosen Klage besteht dabei kein überwiegendes Interesse an einer Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Wird dagegen der Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein, so wird regelmäßig nur die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Bei offenen Erfolgsaussichten ist eine Interessensabwägung vorzunehmen, etwa nach den durch § 80 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO getroffenen Grundsatzregeln, nach der Gewichtung und Beeinträchtigungsintensität der betroffenen Rechtsgüter sowie der Reversibilität im Falle von Fehlentscheidungen.
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a) Die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird sich voraussichtlich als rechtmäßig und nicht rechtsverletzend (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) erweisen, sodass mangels Erfolgsaussichten in der Hauptsache das Vollzugsinteresse überwiegt.
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Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides ausgesprochene Ausweisung des Antragstellers wird sich voraussichtlich als rechtmäßig erweisen (vgl. VGH BW, B.v. 21.1.2020 – 11 S 3477/19 – juris Rn. 30).
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Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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Im Fall des Antragstellers besteht aus generalpräventiven Gründen eine noch im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und bei einer Abwägung überwiegt das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Antragstellers.
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Eine Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG kann auch alleine auf generalpräventive Gründe gestützt werden. Vom maßgeblichen weiteren „Aufenthalt“ eines Ausländers, der eine Straftat begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 17). Dabei bedarf es keiner Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, wie etwa wegen Drogendelikten oder Delikten im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder Terrorismus. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten, im Einzelfall so etwa bei Falschangaben zur Erlangung der Duldung, einer Identitätstäuschung gegenüber der Ausländerbehörde, Falschangaben im Visumsverfahren, Verletzung der Passpflicht oder Körperverletzung. Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 33 m.w.N.). Angeknüpft werden kann dabei nur an ein Ausweisungsinteresse, das zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch aktuell ist. Dabei ist für die gefahrabwehrrechtliche Beurteilung eines eintretenden Bedeutungsverlustes eines strafrechtlich relevanten Handelns die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB eine untere Grenze, die absolute Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB eine obere Grenze. In diesem Zeitrahmen ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses an generalpräventiven Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG eine absolute Obergrenze für die Annahme eines noch bestehenden generalpräventiven Ausweisungsinteresses (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 22 f.; U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 18 f.).
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Daran gemessen besteht im Falle des Antragstellers ein aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse. Das Gericht sieht insoweit von einer weiteren Darstellung ab und folgt den nicht zu beanstandenden generalpräventiven Erwägungen (S. 5 f. des Bescheids) des Antragsgegners (§ 117 Abs. 5 VwGO entsprechend). Das Ausweisungsinteresse ist auch noch aktuell. Die genannten Fristen sind im vorliegenden Fall ersichtlich nicht überschritten.
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Die von § 53 Abs. 1 AufenthG geforderte Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers in Deutschland erfolgt auf der Tatbestandsseite einer gebundenen Ausweisungsentscheidung und ist damit gerichtlich voll überprüfbar. Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch die weiteren Ausweisungsvorschriften mehrfache Konkretisierungen. So wird einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen durch den Gesetzgeber in den §§ 54, 55 AufenthG von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen sind weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 23 f.; U.v. 25.7.2017 – 1 C 12.16 – juris Rn. 15). Bei der Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sollen sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nicht als abschließend zu verstehen (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 25).
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Unter Heranziehung dieses Maßstabes ergibt die vorzunehmende Abwägung des Ausreiseinteresses mit dem Bleibeinteresse des Antragstellers ein Überwiegen des Ausreiseinteresses. Die umfangreiche Abwägung in dem streitgegenständlichen Bescheid ist rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere ist die Annahme eines nicht mehr nur geringfügigen Verstoßes im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG im Hinblick auf die Verurteilung des Antragstellers nicht zu beanstanden. Ein vertyptes Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG ist nicht ersichtlich, insbesondere verfügt der Antragsteller über keine familiären Bindungen im Bundesgebiet. Im Übrigen verweist die Kammer nach § 117 Abs. 5 VwGO in entsprechender Anwendung auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids.
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b) Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO bei der Befristungsentscheidung sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Rahmen. Auch insoweit wird hinsichtlich der Begründung nach § 117 Abs. 5 VwGO in entsprechender Anwendung auf die Ausführungen in dem streitgegenständlichen Bescheid verwiesen.
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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 sowie Ziffer 8.2 des Streitwertkatalogs (halber Auffangstreitwert).