Inhalt

VG München, Beschluss v. 19.07.2023 – M 22 SE 23.2755
Titel:

Kein Anspruch eines Obdachlosen auf unbefristete Unterbringung in einer bestimmten Unterkunft

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
BayVwVfG Art. 46
BayLStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 3
Leitsatz:
Die Obdachlosenbehörde verfügt bei der Auswahl unter den geeigneten Unterkünften über ein sehr weites Ermessen, das nur bei Vorliegen ganz besonderer Umstände eingeschränkt ist; dementsprechend besteht auch grundsätzlich kein Anspruch des Obdachlosen auf Einweisung in eine bestimmte Unterkunft (bzw. auf Verbleib in einer bestimmten Unterkunft), auch nicht für eine bestimmte Dauer. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Obdachlosenrecht, Teilerledigung, isolierte Anfechtung einer Befristung in der Hauptsache, kein Anspruch auf unbefristete Unterbringung in einer bestimmten Unterkunft, obdachlos, Befristung, Unterbringung, Unterkunft
Fundstelle:
BeckRS 2023, 25368

Tenor

I. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Von den Kosten des Verfahrens hat die Antragstellerin 1/3 und die Antragsgegnerin 2/3 zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin ist seit 2006 zur Vermeidung von Obdachlosigkeit in einer von der Antragsgegnerin als öffentlicher Einrichtung betriebenen Notunterkunft in der …  untergebracht.
2
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom ... 2023 (zugestellt laut Postzustellungsurkunde am …2023) verlängerte die Antragsgegnerin gegenüber der Antragstellerin die Befristung des Benutzungsverhältnisses für die Unterkunft bis zum... 2023 (Ziffer 1), ordnete die Räumung der Unterkunft bis zum... 2023 (Ziffer 2) an und wies die Antragstellerin zum... 2023 in die städtische Obdachlosenunterkunft in der... … befristet bis zum... 2023 ein (Ziffer 3). Für Ziffer 1 bis 3 wurde der Sofortvollzug angeordnet (Ziffer 4). Für den Fall, dass die Antragstellerin der Räumungsverpflichtung in Ziffer 2 nicht fristgerecht nachkommt, wurden unmittelbarer Zwang und Ersatzvornahme angedroht (Ziffer 5 und 6).
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Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin am... 2023 beim Verwaltungsgericht München Klage (Az. * … * …*) und beantragte zugleich sinngemäß, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage anzuordnen bzw. wiederherzustellen.
4
Zur Begründung wies sie auf ihren Wohnberechtigungsschein hin und trug u.a. vor, dass ihr eine mindestens 36m2 große Wohnung zustehe, sie seit 17 Jahren in der Unterkunft und seit 33 Jahren in … wohne.
5
Mit (Änderungs-)Bescheid vom... 2023 modifizierte die Antragsgegnerin die Ziffern 2, 3, 5 und 6 des angefochtenen Bescheids vom... 2023
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Mit am... 2023 bei Gericht eingegangenem Schreiben erklärte die Antragstellerin den Rechtsstreit insoweit für erledigt und beantragt mithin zuletzt,
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die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen Ziffer 1 des Bescheids der Antragsgegnerin vom... 2023 wiederherzustellen.
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Die Antragsgegnerin hatte einer Erledigungserklärung (vorab) zugestimmt und beantragt,
9
den Antrag abzulehnen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Soweit die Beteiligten die Streitsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einzustellen und es ist lediglich gemäß § 161 Abs. 2 VwGO noch über die Kosten zu entscheiden.
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1. Im Übrigen, soweit der Antrag aufrechterhalten bleibt (hinsichtlich Ziffer 1 des Bescheids vom …2023), ist dieser zulässig, da in der Hauptsache ein zulässiger Rechtsbehelf eingelegt wurde, von dem infolge Anordnung des Sofortvollzugs in Ziffer 4 keine aufschiebende Wirkung ausgeht.
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Mit der Regelung in Ziffer 1 des Bescheids hat die Antragsgegnerin das Benutzungsverhältnis für die der Antragstellerin bisher zugewiesene Obdachlosenunterkunft (sofort vollziehbar) nochmal bis zum... 2023 verlängert. Nachdem die Unterbringung selbst offensichtlich lediglich rechtlich vorteilhaft ist und die Antragstellerin auch in der Unterkunft wohnen bleiben will, kann die Klage der Antragstellerin bei verständiger Würdigung des Klagebegehrens allein als isolierte Anfechtung der Befristung der Unterbringung verstanden werden (§ 88 VwGO).
14
Bei begünstigenden Verwaltungsakten (hier: Zuweisung einer Notunterkunft), die den Adressaten allein durch die beigefügten Nebenbestimmungen belasten (hier: Befristung der Zuweisung), ist ein isoliertes Rechtsschutzverfahren gegen die belastende Nebenbestimmung entsprechend § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, wenn in der Hauptsache die selbstständige Teilanfechtung der jeweiligen Nebenbestimmung möglich und somit eine isolierte Anfechtung statthaft ist (vgl. Hoppe in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Auflage 2019, § 80 VwGO Rn. 18). Im Fall der Befristung eines begünstigenden Verwaltungsakts als belastende Nebenbestimmung im Sinne des Art. 36 Abs. 2 Nr. 1 BayVwVfG zielt ein solcher Antrag auf die Feststellung des Suspensiveffekts der Klage gegen die Befristung, mit der beabsichtigten Folge, dass auch mit Ablauf der Befristung der Verwaltungsakt im Übrigen nicht entfällt (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 10.10.2019 – 10 ME 191/19 – juris, dritter Leitsatz) und weiterhin bis zum Ausgang des Klageverfahrens von der Begünstigung Gebrauch gemacht werden kann.
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Nach gefestigter Rechtsprechung sind alle belastenden Nebenbestimmungen gemäß § 42 Abs. 1 VwGO grundsätzlich anfechtbar (BVerwG, U.v. 22.11.2000 – 11 C 2/00 – juris; BVerwG, U.v. 10.7.1980 – 3 C 136/79 – juris; U.v. 6.11.2019 – 8 C 14/18 – juris Rn. 13; U.v. 17.10.2012 – 4 C 5/11 – juris Rn. 5). Die von der isolierten Anfechtbarkeit zu trennende Frage der isolierten Aufhebbarkeit verortet die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Begründetheitsprüfung des Anfechtungsbegehrens, nicht der Zulässigkeit des Rechtsmittels (BVerwG, U.v. 22.11.2000 – 11 C 2/00 – juris Rn. 25; U.v. 19.9.2018 – 8 C 6/17 – juris Rn. 9 ff.; U.v. 6.11.2019 – 8 C 14/18 – juris Rn. 13; U.v. 6.11.2019 – 8 C 14/18 – juris, Rn. 13).
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2. Der zulässige Antrag bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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a) Zum einen ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Antragsgegnerin hinsichtlich der Verlängerung des bisherigen Benutzungsverhältnisses bis... 2023 (und dessen deklaratorischer Beendigung) in Ziffer 4 des Bescheids in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden, da sie in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügenden Weise unter Berücksichtigung des Einzelfalles ausreichend begründet wurde
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b) Zum anderen ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung aufgrund einer summarischen Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache, dass die Anfechtungsklage aller Voraussicht nach erfolglos bleiben wird. Angesichts dessen überwiegt das Vollziehungsinteresse der Antragsgegnerin gegenüber dem Interesse des Antragstellers, von Vollstreckungsmaßnahmen bis zu einer abschließenden Klärung der Sach- und Rechtslage verschont zu bleiben, mit der Folge, dass nach Auffassung der Kammer sich allein eine Ablehnung des Antrags als ermessensgerecht darstellt.
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aa) Die in der Hauptsache erhobene (isolierte) Anfechtungsklage ist nach summarischer Prüfung unbegründet, da gegen die sofort vollziehbare Befristung des Benutzungsverhältnisses in Ziffer 1 des Bescheids vom... 2023 keine rechtlichen Bedenken bestehen.
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Begründet ist eine isolierte Anfechtungsklage, wenn erstens die Nebenbestimmung (hier: die Befristung) rechtswidrig ist und zweitens zwischen der Nebenbestimmung und dem eigentlichen Inhalt des Haupt-Verwaltungsakts ein Zusammenhang besteht, der die isolierte Aufhebung der Nebenbestimmung ausschließt (vgl. dazu BVerwG, B.v. 29.3.2022 – 4 C 4/20 – juris Rn. 9 m.w.N.). Vorliegend ist die Befristung schon nicht rechtswidrig.
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bb) Die Antragsgegnerin hat als zuständige Sicherheitsbehörde (Art. 6 Landesstraf- und Verordnungsgesetz – LStVG) die Aufgabe der Gefahrenabwehr. Hierzu zählt gemäß Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG auch die Beseitigung einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.1995 – 4 CE 95.1023 – BayVBl. 1995, 729). Die Anforderungen an die zur Verfügung zu stellende Unterkunft richten sich dabei danach, was zur Abwendung der durch die Obdachlosigkeit bedingten Gefahren erforderlich ist. Obdachlose müssen, weil ihre Unterbringung nur eine Notlösung sein kann, eine weitgehende Einschränkung ihrer Wohnansprüche hinnehmen, wobei die Grenze des Zumutbaren dort liegt, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung nicht mehr eingehalten sind (BayVGH, B.v. 10.10.2008 – 4 CE 08.2647 – juris Rn. 4). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Obdachlosenbehörde bei der Auswahl unter den geeigneten Unterkünften über ein sehr weites Ermessen verfügt, das nur bei Vorliegen ganz besonderer Umstände eingeschränkt ist (vgl. VG München, B.v. 2.12.2008 – M 22 E 08.5680 – juris). Dementsprechend besteht auch grundsätzlich kein Anspruch des Obdachlosen auf Einweisung in eine bestimmte Unterkunft (bzw. auf Verbleib in einer bestimmten Unterkunft), auch nicht für eine bestimmte Dauer. Durch eine Einweisung wird auch weder ein Besitzstand noch ein Bleiberecht des Obdachlosen in der zugewiesenen Unterkunft begründet. Da die ordnungsrechtliche Unterbringung lediglich Überbrückungscharakter hat, empfiehlt es sich sogar eine Unterbringungsverfügung zu befristen. Dadurch wird auch dem Betroffenen gegenüber der vorübergehende Zweck der Unterbringung verdeutlicht. Eine solche Befristungsmöglichkeit hat die Antragsgegnerin auch § 3 Nr. 5 ihrer Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung explizit vorgesehen.
22
Dafür, dass die Antragsgegnerin die grundsätzlich bestehende Möglichkeit einer Verlängerung des Benutzungsverhältnisses für die Obdachlosenunterkunft in der … * ermessensfehlerhaft oder willkürlich verweigert hätte, ist vorliegend nichts ersichtlich. Vielmehr bestand für die Antragsgegnerin zusätzlich die Möglichkeit, das Benutzungsverhältnis – unabhängig vom Ablauf der Befristung nach § 9 Abs. 3 Nr. 9 der Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung – zu beenden, jedenfalls da die Antragstellerin die Benutzungsgebühr nicht bzw. wiederholt nicht vollständig entrichtet hat. Der Behördenakte ist zu entnehmen, dass zum... 2023 Gebühren in Höhe von 2.823,83 Euro nicht gezahlt wurden.
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cc) Ein Anspruch auf weitere Überlassung der Unterkunft folgt auch nicht aus den allgemein für die Unterbringung von Obdachlosen geltenden Regelungen.
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Die Antragsgegnerin hat ihre grundsätzliche Unterbringungsverpflichtung weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren in Abrede gestellt, sondern der Antragstellerin eine Unterkunft in der... … zugewiesen. Anhaltspunkte dafür, dass eine anderweitige Unterbringung nicht zumutbar ist, bestehen nicht. Es wird insbesondere im Hinblick auf das Vorbringen der Antragstellerin, dass ihr eine mindestens 36m2 große Wohnung zustehe, angemerkt, dass im Rahmen der Obdachlosenunterbringung aufgrund deren Überbrückungscharakters niedrigere Maßstäbe an die Unterbringungssituation gelten und zwangsläufig Einschränkungen im Vergleich zu wohnungsmäßiger Versorgung im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung hinzunehmen sind. Vor diesem Hintergrund ist auch die beabsichtigte Verwendung der bisherigen Unterkunft für mehrere Personen – worauf es vorliegend in rechtlicher Hinsicht auch nicht ankommt – nicht zu beanstanden.
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3. Der Kostenentscheidung folgt hinsichtlich des erledigten Teils aus § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO, im Übrigen aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung der Empfehlungen in Nr. 1.5 und 35.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.