Inhalt

VG München, Beschluss v. 19.07.2023 – M 22 S 23.3492
Titel:

Unmittelbarer Zwang und Ersatzvornahme zur Räumung einer Wohnung in einer Notunterkunft für Obdachlose rechtmäßig

Normenkette:
VwGO § 55a, § 55d, § 67 Abs. 4 S. 4, S. 7, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 3, Abs. 5 S. 1, § 154 Abs. 1
Leitsätze:
1. Das Gericht trifft bei der Anwendung des § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO eine Ermessensentscheidung, die sich wesentlich daran orientiert, ob nach den Umständen des Falles dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin oder dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes der Vorrang einzuräumen ist, wobei als maßgebliches, aber nicht alleiniges Kriterium auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abzustellen ist. (Rn. 24 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein öffentlich-rechtlicher Besitzstand wird auch in Fällen jahreslanger Zuweisung einer Notunterkunft an einen Obdachlosen nicht begründet werden. (Rn. 33 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Obdachlosenrecht, Räumungsanordnung, Zwangsmittelandrohung, Obachtlosenrecht, Ersatzvornahme, sofortige Vollziehung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 25365

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin ist seit 2006 zur Vermeidung von Obdachlosigkeit in einer von der Antragsgegnerin als öffentlicher Einrichtung betriebenen Notunterkunft in der …  untergebracht.
2
Mit Bescheid vom ... 2023 verlängerte die Antragsgegnerin gegenüber der Antragstellerin die Befristung des Benutzungsverhältnisses für die Unterkunft bis zum ... 2023 (Ziffer 1), ordnete die Räumung der Unterkunft bis zum ... 2023 (Ziffer 2) an und wies die Antragstellerin zum ... 2023 in die städtische Obdachlosenunterkunft in der ... … befristet bis zum ... 2023 ein (Ziffer 3). Für Ziffer 1 bis 3 wurde der Sofortvollzug angeordnet (Ziffer 4). Für den Fall, dass die Antragstellerin der Räumungsverpflichtung in Ziffer 2 nicht fristgerecht nachkomme, wurden unmittelbarer Zwang und Ersatzvornahme angedroht (Ziffer 5 und 6).
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Gegen diesen Bescheid wendete sich die Antragstellerin am ... 2023 mit Klage und Eilantrag an das Verwaltungsgericht München (Az. * … * …; ...*).
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Am ... 2023 erließ die Antragsgegnerin folgenden streitgegenständlichen (Änderungs-)Bescheid, der der Antragstellerin laut Postzustellungsurkunde am ... 2023 zugestellt wurde und den ursprünglichen Bescheid vom ... 2023 teilweise modifiziert:
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„ 1. Die Ziffer 1 bleibt unverändert.
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2. Die Ziffer 2 wird geändert:
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Die Wohnung (…), …, ..., ist von Frau ... (…), bis zum ... 2023 auf ihre Kosten zu räumen. Die ausgehändigten Schlüssel (…) sind dem Ordnungsamt bis …2023 zurückzugeben.
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3. Die Ziffer 3 wird ergänzt:
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Sie werden mit Wirkung ab dem ... in die städtische Obdachlosenunterkunft in der ... … (…) eingewiesen. Die Schlüssel können am ... 2023 (…) abgeholt werden. Die Einweisung wird bis zum ... 2023 befristet.
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4. Die Ziffer 4 bleibt unverändert.
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5. Die Ziffer 5 wird geändert:
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Wird die Nr. 2 dieses Bescheids nicht bis zum ... 2023 erfüllt, wird angedroht, dass die Gegenstände in der Wohnung im Wege der Ersatzvornahme zwangsgeräumt werden. Sollten Sie die Wohnung bis zum in Ziffer 2 genannten Zeitpunkt nicht verlassen, wird Ihnen die Anwendung von unmittelbarem Zwang angedroht.
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6. Die Ziffer 6 wird aufgehoben und erneut erlassen:
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Die Kosten der Zwangsräumung sind von Frau ... (…), zu tragen. Die Kosten werden auf 1.000,- Euro geschätzt.“
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Gegen diesen (Änderungs-)Bescheid erhob die Antragstellerin am ... 2023 beim Verwaltungsgericht München Klage (Az. * … * …*) und beantragte zugleich sinngemäß,
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die aufschiebende Wirkung ihrer Klage anzuordnen bzw. wiederherzustellen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen das Vorbringen zum Eilantrag im Verfahren ... wiederholt.
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Die Antragsgegnerin beantragte unter Verweis auf die Gründe des (Änderungs-)Bescheids vom ... 2023,
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den Antrag abzulehnen.
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Mit Beschluss vom ... 2023 stellte das Verwaltungsgericht München das Verfahren ... hinsichtlich der für erledigt erklärten Nummern 2, 3, 5, und 6 im Bescheid vom ... 2023 ein und lehnte den Antrag der Antragstellerin im Übrigen ab.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte im hiesigen Verfahren sowie im Verfahren ... Bezug genommen.
II.
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Der Antrag bleibt ohne Erfolg.
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Soweit die Antragstellerin gemäß § 80 Abs. 5 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Zuweisungsverfügung in Ziffer 3 des Bescheids vom ... 2023 beantragt, ist ihr Antrag bereits unzulässig. Im Übrigen ist er zulässig (dazu unter 1.), aber unbegründet (dazu unter 2.).
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz Nr. 4 VwGO von der Behörde angeordnet wurde – hier in Bezug auf die Räumungsanordnung und die Zuweisung einer anderen Notunterkunft in Ziffern 2 bzw. 3 des streitgegenständlichen Bescheids – wiederherstellen bzw., soweit die Klage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung entfaltet – hier in Bezug auf die Zwangsmittelandrohungen in Ziffern 5 bzw. 6 –, anordnen.
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Das Gericht trifft hierbei eine Ermessensentscheidung, die sich wesentlich daran orientiert, ob nach den Umständen des Falles dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin oder dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes der Vorrang einzuräumen ist, wobei als maßgebliches, aber nicht alleiniges Kriterium auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abzustellen ist.
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Vorliegend ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderliche und gebotene Interessenabwägung aufgrund einer summarischen Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache, dass die Anfechtungsklage gegen Ziffern 2, 3, 4 und 5 des Bescheids der Antragsgegnerin vom ... 2023 im Ergebnis ohne Erfolg bleiben dürfte.
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1. Soweit die Klägerin in der Hauptsache die Zuweisung einer Notunterkunft in der ... … anficht, ist ihre Klage und damit auch ihr Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bereits unzulässig. Bei der Zuweisung einer Obdachlosenwohnung handelt es sich um einen begünstigenden Verwaltungsakt. Der Eingewiesene kann von diesem Verwaltungsakt nach Belieben Gebrauch machen. Es besteht keine Pflicht, in die zur Verfügung gestellte Unterkunft tatsächlich einzuziehen (VG München, B.v. 24.10.2002 – M 22 E 02.2459 – juris Rn. 53; VG Ansbach, B.v. 12.8.2004 – AN 5 S 04.01448 – juris Rn. 10). Dementsprechend besteht vorliegend für die Antragstellerin auch keine Verpflichtung zum Einzug in die ihr zugewiesene Unterkunft, die durch die Antragsgegnerin zwangsweise durchgesetzt werden könnte. Folglich fehlt es auch an den Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung seitens der Behörde. Eine gleichwohl verfügte Regelung dieses Inhalts geht ins Leere. Eine grundsätzlich mögliche isolierte Anfechtung der Befristung der Zuweisung entspricht offensichtlich nicht dem Begehren der Antragstellerin.
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2. Im Übrigen ist der Antrag unbegründet.
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a) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Antragsgegnerin hinsichtlich der (deklaratorischen) Beendigung der bisherigen Zuweisung und der Räumungsanordnung in Ziffer 4 des Bescheids ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden, da sie in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügenden Weise unter Berücksichtigung des Einzelfalles ausreichend begründet wurde.
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b) Die Räumungsanordnung in Ziffer 2 ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Insbesondere wurde die Antragstellerin vor Bescheiderlass mit Schreiben vom* ... 2023 ordnungsgemäß angehört (Art. 28 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz – BayVwVfG, § 9 Abs. 4 Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung).
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c) Auch die materiell-rechtlichen Anforderung an den Erlass einer Räumungsanordnung sind gegeben.
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aa) Die angeordnete Räumung kann auf § 10 Abs. 1 Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung gestützt werden. Danach sind überlassene Räume vollständig geräumt und sauber zurückzugeben, u.a. wenn das Benutzungsverhältnis nach § 9 Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung beendet wurde. Nach § 9 Abs. 3 Nr. 9 kann die Zuweisung einer Notunterkunft aufgehoben werden, wenn der Benutzer die Benutzungsgebühr nicht oder wiederholt nicht vollständig oder zu spät entrichtet. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen – nachdem die Antragstellerin zum ... 2023 Gebühren in Höhe von 2.823,83 Euro nicht gezahlt hat – unzweifelhaft vor. Der formellen Beendigung des Benutzungsverhältnisses nach dieser Vorschrift bedurfte es vorliegend jedoch nicht (mehr), weil der Antragsgegnerin die Notunterkunft lediglich befristet bis ... 2023 zugewiesen worden war, was in rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden ist (zur Zulässigkeit der Befristung vgl. § 3 Nr. 5 Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung). Die Nichtverlängerung des Benutzungsverhältnisses ist einer Beendigung insoweit gleichzusetzen.
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bb) Die Räumungsanordnung erfolgte auch ermessensfehlerfrei. Ein Anspruch der Antragstellerin auf weitere Verlängerung oder gar Abschluss eines privatrechtlichen Mietvertrags für die Unterkunft in der … * besteht – auch in Fällen jahrelanger Zuweisung – grundsätzlich nicht. Denn ein öffentlich-rechtlicher Besitzstand, der einer anderweitigen Umsetzung entgegenstehen könnte, wird damit nicht begründet (vgl. VG München, B.v. 3.5.2005 – M 22 S 05.1618; B.v. 6.8.2018 – M 22 S 18.3631 – beide juris).
34
Die Antragsgegnerin verfügt als Obdachlosenbehörde bei der Auswahl unter den geeigneten Unterkünften über ein sehr weites Ermessen, das nur bei Vorliegen ganz besonderer Umstände eingeschränkt ist (vgl. VG München, B.v. 2.12.2008 – M 22 E 08.5680 – juris). Die Anforderungen an die zur Verfügung zu stellende Unterkunft richten sich danach, was zur Abwendung der durch die Obdachlosigkeit bedingten Gefahren erforderlich ist. Obdachlose müssen, weil ihre Unterbringung nur eine Notlösung sein kann, eine weitgehende Einschränkung ihrer Wohnansprüche hinnehmen, wobei die Grenze des Zumutbaren dort liegt, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung nicht mehr eingehalten sind (BayVGH, B.v. 10.10.2008 – 4 CE 08,2647 – juris Rn. 4).
35
Nach diesen Maßstäben ist festzustellen, dass die Antragstellerin offenkundig ihre weitere Unterbringung in der bisherigen Obdachlosenunterkunft in der … * nicht beanspruchen kann. Ein Anspruch auf die Zurverfügungstellung einer bestimmten Unterkunft besteht ebenfalls nicht. Ihre grundsätzliche Unterbringungsverpflichtung hat die Antragsgegnerin weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren in Abrede gestellt und der Antragstellerin rechtzeitig (zuletzt auch in Ziffer 3 des Bescheids vom ... 2023) eine Anschlussunterkunft zugewiesen. Anhaltspunkte dafür, dass die angedachte Unterbringung in der ... … nicht zumutbar ist, bestehen nicht. Insofern wird auf die Gründe des Beschlusses im Verfahren ... Bezug genommen.
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d) Schließlich bleibt die Anfechtungsklage in der Hauptsache auch hinsichtlich Ziffern 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheids in der Sache ohne Erfolg, da die Androhung von Ersatzvornahme und unmittelbarem Zwang nicht zu beanstanden ist. Insbesondere dürfte mit Blick auf die besonderen Umstände des Falles die der Antragstellerin von der Antragsgegnerin für die Räumung in Ziffer 5 des Bescheides gesetzte Vollstreckungsfrist sich noch als angemessen darstellen.
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Nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) ist bei der Androhung eines Zwangsmittels für die Erfüllung einer Handlungsverpflichtung eine Frist zu bestimmen, innerhalb welcher dem Pflichtigen der Vollzug billigerweise zugemutet werden kann. Vorliegend lagen zwischen der Bekanntgabe des Bescheides am ... 2023 und der für die Erfüllung der Räumungsverpflichtung gesetzten Frist am ... 2023 über vier Wochen. Dieser Zeitraum war nicht zu kurz für die ordnungsgemäße Vorbereitung eines Umzugs aus der selbst möblierten 36m2 großen Wohnung, zumal die Antragstellerin bereits ab dem ... 2023 Zugang zur Obdachlosenunterkunft in der ... … hat. Unter Berücksichtigung der Gegebenheiten wird man davon ausgehen können, dass sich die sehr kurze Vorstreckungsfrist als noch ermessensgerecht darstellt. Die verfügte Ersatzvornahme ist aus denselben Gründen ebenfalls rechtmäßig.
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3. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Ziffer 1.5 sowie Ziffer 35.3 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.