Inhalt

VG München, Beschluss v. 07.09.2023 – M 18 S7 23.3329
Titel:

Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (abgelehnt), Interessensabwägung, Vorläufige Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, E-Tazkira, Medizinisches Gutachten

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 7
SGB VIII § 42a
SGB VIII § 42f
SGB X § 48
SGB X § 45
Schlagworte:
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (abgelehnt), Interessensabwägung, Vorläufige Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, E-Tazkira, Medizinisches Gutachten
Fundstelle:
BeckRS 2023, 25363

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 23. März 2023 (M 18 S 23.676) wird in Nr. I geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage des im vorliegendem Verfahren Antragsgegners gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme durch das Stadtjugendamt der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 10. Februar 2023 wird längstens bis zum 27. September 2024 angeordnet.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen den gerichtlichen Beschluss vom 23. März 2023 (M 18 S 23.676), mit dem die aufschiebende Wirkung der Klage des jetzigen Antragsgegners gegen die Beendigung seiner vorläufigen Inobhutnahme mit Bescheid vom 10. Februar 2023 angeordnet wurde.
2
Der – im vorliegendem Verfahren – Antragsgegner meldete sich am … … … bei der jetzigen Antragstellerin und legte u.a. eine „E-Taskira“ vor, die als Geburtsdatum den … … … ausweist. Er wurde daraufhin von der Antragstellerin gemäß § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen.
3
Bei der Asyl-Erstregistrierung des Antragsgegners durch die Polizeiinspektion am … … … wurde ein „Personalausweis afghanisch“ (gemeint wohl die „E-Taskira“) sowie eine „Geburtsurkunde“ des Antragstellers für die Durchführung des Asylverfahrens sichergestellt und an die Regierung von Oberbayern weitergeleitet.
4
Nach Durchführung eines Alterseinschätzungsgesprächs am … … … beendete die Antragstellerin mit Bescheid vom selben Tag die vorläufige Inobhutnahme, da die Überprüfung ergeben hätte, dass er nicht minderjährig sei. Er habe keine beweiskräftigen Papiere oder Dokumente vorgelegt. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme habe seine Minderjährigkeit zweifelsfrei ausgeschlossen.
5
Die Bevollmächtigten des Antragsgegners erhoben hiergegen am 14. Februar 2023 zum Verwaltungsgericht München Klage und beantragte, die Antragstellerin zu verpflichten, den Antragsgegner unter Aufhebung des Bescheids vom 10. Februar 2023 in Obhut zu nehmen (M 18 K … …*). Über diese Klage ist noch nicht entschieden.
6
Zugleich beantragten sie, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 10. Februar 2023 anzuordnen (M 18 S … …*).
7
Mit Beschluss vom 23. März 20223 ordnete das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 10. Februar 2023 an. Zur Begründung führte das Gericht insbesondere aus, dass der Vorlage der E-Tazkira im Original ein maßgeblicher Beweiswert zukomme und ein beweiskräftiges Dokument darstelle, was die Antragstellerin verkannt habe. Entgegen deren Ansicht sei auch keine Überprüfung der E-Tazkira in einem Legalisationsverfahren durchzuführen. Die Antragstellerin wäre, wenn Zweifel am Beweiswert der E-Tazkira oder der Identität des Antragstellers bestanden hätten, auf Grund ihrer Amtsermittlungspflichten nach § 20 SGB X angehalten gewesen, eine Überprüfung in die Wege zu leiten, was unterblieben sei. Auf Grund der Vorlage der E-Tazkira mit einem Geburtsdatum, das die Minderjährigkeit des Antragsgegners belege, spreche zumindest die ganz überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieser das 18. Lebensjahr noch nicht beendet habe und erweise sich die Beendigung der Inobhutnahme nach summarischer Prüfung als rechtswidrig, so dass die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen sei.
8
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss vom 23. März 2023 wurde durch Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 23. März 2023 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die mit der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob auch die elektronische afghanische Tazkira, ebenso wie solche auf Papier, keine hinreichende Verlässlichkeit der in ihr bezeugten Tatsachen begründen, in einem Eilverfahren ebenso wenig geklärt werden könne, wie die ausschließlich durchgeführte Alterseinschätzung durch qualifizierte Inaugenscheinnahme (§ 42 f Abs. 1 Satz 2 2. Alt. SGB VIII) in dem hier vorliegenden „Graubereich“ von rund ein bis zwei Jahren über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren eine hinreichende Grundlage für eine Altersfeststellung biete. In solchen Fällen bedürfe es vielmehr regelmäßig einer ärztlichen Altersuntersuchung (§ 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII), die hier jedoch nicht vorliege. Infolgedessen sei die Anordnung des Verwaltungsgerichts – jedenfalls im Ergebnis – zu Recht erfolgt.
9
Die Antragstellerin hat den Antragsgegner daraufhin erneut vorläufig in Obhut genommen und eine medizinische Untersuchung des Antragsgegners veranlasst.
10
Am … … … fand die rechtsmedizinische Untersuchung des Antragsgegners mittels körperlicher Untersuchung sowie radiologischer Untersuchung einer Handwurzel, eines Schlüsselbeines und der Zähne statt. In dem hierüber gefertigten Gutachten des … … … … … … wird zusammenfassend ausgeführt, dass nach Doppelbefundung in Gesamtschau der Befunde aus forensischer Sicht die zahnärztliche Begutachtung höher gewertet werde, da dort die vorliegende Befundkonstellation unter Berücksichtigung der Herkunft des Patienten laut zahnärztlicher Begutachtung nach aktuellem Wissensstand erst ab einem Alter von 18 Jahren vorliegen könne. Dieser Befund sei auch mit den radiologischen Ergebnissen vereinbar. Zusammenfassend sei daher nach dem Mindestalterprinzip von einem Alter über 18 Jahren auszugehen.
11
Mit Schriftsatz vom 4. Juli 2023 beantragte die Antragstellerin sinngemäß,
12
den Beschluss vom 23. März 2023 (M 18 S 23. …*) gemäß § 80 Abs. 7 VwGO aufzuheben und den Antrag abzulehnen.
13
Hilfsweise den Beschluss vom 23. März 2023 dahingehend abzuändern, dass die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers bis zur Feststellung der Volljährigkeit durch ein medizinisches Gutachten zur Altersbestimmung angeordnet werde.
14
Zur Begründung wird insbesondere ausgeführt, dass sich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 26. April 2023 letztlich auf seine bisherige Rechtsprechung bezogen habe, dass eine ärztliche Altersuntersuchung vorzunehmen sei. Aufgrund der nun vorliegenden rechtsmedizinischen Befunde zur Altersbestimmung sei abschließend gesichert, dass es sich beim Antragsgegner eindeutig um einen Volljährigen handle. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme mit Bescheid vom … … … sei somit zu Recht erfolgt und das klägerische Ziel in der Hauptsache, eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII, vor diesem Hintergrund ausgeschlossen. Es liege eine für die Entscheidung maßgebliche Veränderung der Sach- und Rechtslage vor. Der ergangene Eilbeschluss vom 23. März 2023 sei somit nach § 80 Abs. 7 VwGO aufzuheben bzw. hilfsweise zumindest auf die Feststellung der Volljährigkeit durch ein medizinisches Gutachten, welche hier bereits vorliege, zu beschränken.
15
Mit Schriftsatz vom 12. Juli 2023 beantragten die Bevollmächtigten des Antragsgegners,
16
den Antrag zurückzuweisen.
17
Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Bewertung der Zahnärztin im vorgelegten Gutachten ersichtlich fehlerhaft sei. Denn dort werde ausgeführt, dass für die Beurteilung eine populationsspezifische Studie für Europäer herangezogen worden sei, der Antragsgegner gehöre ethnisch jedoch zum Volk der Paschtunen, welche keine Europäer seien. Da das Gutachten im Folgenden ausführe, dass die ethnische Herkunft der Untersuchten nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nur für die Bedeutung der Zahnentwicklung relevant sei, könne der zahnärztliche Teilbefund wegen ersichtlicher Fehler nicht bei der abschließenden Gesamtschau herangezogen werden. Damit sei mit der radiologischen Untersuchung des Handwurzelgelenks und des Schultergelenks von einem Alter zwischen 16 und 18 auszugehen. Das angegebene Alter von 16 Jahren und 9 Monaten werde mit dem Gutachten nicht widerlegt.
18
Die Antragstellerin erwiderte hierauf mit Schriftsatz vom 14. Juli 2023 und verteidigte das vorgelegte Gutachten.
19
Durch Beschluss der Kammer vom 6. Juli 2023 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
20
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakten in den Verfahren M 18 K … und M 18 S … sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
21
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO ist unbegründet, so dass die begehrte Aufhebung bzw. hilfsweisen Abänderung des Beschlusses vom 23. März 2023 abzuweisen war. Das Gericht hat lediglich von Amts wegen sachdienlich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf den Tag der Volljährigkeit des Antragsgegners gemäß des von ihm benannten Geburtsdatums befristet.
22
Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO). Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO ist dabei kein Rechtsmittelverfahren, sondern vielmehr ein gegenüber dem ersten Eilverfahren selbständiges Verfahren. Voraussetzung für die Änderung des zunächst ergangenen Beschlusses ist, dass sich nach der ersten gerichtlichen Entscheidung die maßgebliche Sach- und Rechtslage geändert hat. Das Abänderungsverfahren bezieht sich nicht auf die Frage, ob der ursprüngliche Beschluss rechtmäßig ergangen ist, sondern darauf, ob der Beschluss für die Zukunft fortgelten soll (HK-VerwR/Achim Bostedt, 5. Aufl. 2021 Rn. 183, VwGO § 80 Rn. 183).
23
Im vorliegenden Fall hat sich durch die Vorlage des medizinischen Gutachtens zur Altersdiagnostik die Sachlage geändert, so dass der Antrag statthaft ist.
24
Im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO trifft das Gericht, wie auch im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, eine eigene originäre Ermessensentscheidung. Die Interessensabwägung des Gerichts hat dabei nicht als reine Rechtmäßigkeitskontrolle zu erfolgen, vielmehr ist maßgebend auf die Interessenlage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts abzustellen (Eyermann/Hoppe, 15. Aufl. 2019, VwGO § 80 Rn. 105 m.w.N.; NdsOVG, B.v. 2.10.2007 – 5 ME 121/07 – juris).
25
Im Rahmen dieser Interessensabwägung ist zwischen dem in der gesetzlichen Regelung – hier § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII – zum Ausdruck kommenden Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragsgegners an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Maßgeblicher Zeitpunkt für diese durch das Gericht vorzunehmende Interessensabwägung ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Prüfungsmaßstab ist nur, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die (weitere) Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist (Eyermann/Hoppe, 15. Aufl. 2019, VwGO § 80 Rn. 129 m.w.N.; HK-VerwR/Achim Bostedt, 5. Aufl. 2021, VwGO § 80 Rn. 164).
26
Auch nach Vorliegen des medizinischen Gutachtens überwiegt weiterhin das Interesse des Antragsgegners an der Fortsetzung seiner (zumindest) vorläufigen Inobhutnahme, da weiterhin erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen.
27
Das Gericht hält an der mit dem Beschluss vom 23. März 2023 vertretenen Auffassung fest, dass sich die Antragsgegnerin – auch nicht durch die Erstellung eines medizinischen Gutachtens – über die durch § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorgegebene Prüfungsreihenfolge hinwegsetzen kann. Vielmehr ist gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die Minderjährigkeit zunächst durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere und lediglich hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme – ggf. mit ärztlicher Untersuchung – festzustellen.
28
Die von dem Antragsgegner bei seiner Beantragung der vorläufigen Inobhutnahme am 6. Februar 2023 vorgelegte sog. „E-Taskira“ stellt (entgegen der afghanischen Taskira in Papierform) zumindest nach vorläufiger Beurteilung durch das Gericht ein Ausweisdokument dar, welches zum einen hinreichend verlässlich die Identität zwischen dem Inhaber des Ausweispapiers und der in dem Ausweis bezeichneten Person nachweist und zum anderen die ausreichende Gewähr für die Richtigkeit des dort ausgewiesenen Geburtsdatums bietet und daher zum Altersnachweis dienen kann (vgl. zu den Anforderungen an ein Ausweisdokument: OVG Bremen, B.v. 19.12.2018 – 1 B 234/18 – juris Rn. 11 m.w.N.).
29
Wie bereits im Beschluss vom 23. März 2023 ausgeführt, gibt es entsprechend den Angaben des Auswärtigen Amtes in Afghanistan zwar kein mit Deutschland vergleichbares Meldewesen. Jedoch sei grundsätzlich bei der Nationalen Statistik- und Informationsbehörde (NSIA) ein Personenstandsregister vorhanden, dort seien jedoch nur die ca. 10% der Bürgerinnen und Bürger registriert, die über eine sogenannte E-Tazkira verfügen. Solche sogenannten E-Tazkiras (auch electronic Tazkira) würden seit 3. Mai 2018 inzwischen im ganzen Land in Form einer Chipkarte ausgestellt werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan v. 15. Juli 2021, S. 25 f.). Während das Auswärtige Amt weiter ausführt, dass zur Zuverlässigkeit der Datenbank und ob bei Beantragung ein Abgleich mit vorhandenen Daten vorgenommen werde, keine Erfahrungswerte vorlägen, führt die Schweizerische Eidgenossenschaft aus, dass die „E-Tazkira“ zahlreiche moderne Sicherheitsmerkmale aufweise. Im Gegensatz zur Papier-Tazkira enthalte die „E-Tazkira“ Angaben zum Nachnamen bzw. Übernamen (sog. Tachallus) sowie das genaue Geburtsdatum. Die Einträge auf der Vorderseite seien auf Dari bzw. Paschtu geschrieben, die Rückseite enthalte eine englische Übersetzung. Die verschiedenen Quellen würden inkonsistente Angaben zum Ausstellungsverfahren der „E-Tazkira“ machen. Anträge könnten entweder für eine Einzelperson oder für eine ganze Familie eingereicht werden. Zentrales Element bei der Antragstellung sei der Familienstammbaum, der für jeden Antrag erstellt werden muss – egal ob für eine Einzelperson oder für eine Familie. Bei Anträgen von Einzelpersonen seien zwei Zeugen (davon ein Regierungsangestellter) notwendig, deren Tazkiras ebenfalls vorgelegt werden müssten (vgl. Schweizerische Eidgenossenschaft, Focus Afghanistan, Identitäts- und Zivilstandsdokumente, 15. Dezember 2022, S. 25 ff).
30
Soweit für das Gericht erkennbar, handelt es sich bei dem von dem Antragsgegner vorgelegten Dokument um solch eine „E-Taskira“. Dieser kommt zumindest nach vorläufiger Beurteilung ein erheblicher Beweiswert zu, über den sich die Antragstellerin nicht hinwegsetzen kann. Es wäre daher – wie bereits im Beschluss vom 23. März 2023 ausgeführt – an der Antragstellerin, sofern sie Anhaltspunkte für eine fehlende Eintragung und damit möglicherweise Fälschung des Dokuments hat, im Rahmen ihrer Amtsermittlung nach § 20 SGB X entsprechende Nachforschungen, sei es zunächst zumindest durch eine Nachfrage bei der Regierung von Oberbayern, der die „E-Tazkira“ wohl im Original vorliegt oder des Auswärtigen Amtes, einzuleiten. Dies ist jedoch offenbar vollständig unterblieben, zumindest macht die Antragstellerin hierzu auch im vorliegenden Verfahren keinerlei Angaben.
31
Erst wenn auf Grund solcher weiteren Klärungsversuche hinsichtlich des Beweiswertes der „E-Taskira“ nachvollziehbare Zweifel bestehen, kann die Antragstellerin zur Beurteilung der Minderjährigkeit hilfsweise auf andere Mittel der Alterseinschätzung zurückgreifen.
32
Zwar hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 26. April 2023 ausgeführt, dass die Frage, ob auch die elektronische afghanische Tazkira, ebenso wie solche auf Papier, keine hinreichende Verlässlichkeit der in ihr bezeugten Tatsachen begründen, in einem Eilverfahren nicht geklärt werden könne. Dies führt jedoch nicht dazu, dass diese „E-Taskira“ im Rahmen der Alterseinschätzung durch die Antragstellerin vollständig übergangen werden kann. Vielmehr sind zumindest die zur Verfügung stehenden Ermittlungen vorzunehmen. Sofern sich auf Grund dessen berechtigte Zweifel an dem Beweiswert ergeben, bietet – wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung ausführt – die Alterseinschätzung durch qualifizierte Inaugenscheinnahme in dem auch hier vorliegenden „Graubereich“ von rund ein bis zwei Jahren über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren keine hinreichende Grundlage für eine Altersfeststellung, so dass es eines medizinischen Gutachtens bedarf.
33
Zudem teilt das Gericht vorliegend die Zweifel der Bevollmächtigten des Antragsgegners an der Aussagekraft des medizinischen Gutachtens. Denn diese rügen zurecht, dass dort unter Punkt 4 – Gutachterliche Stellungnahme ausgeführt wird, dass für die zahnärztliche Beurteilung eine populationsspezifische Studie für Europäer herangezogen wurde (S. 7). Nachdem dies erkennbar fehlerhaft ist und – auch nach Aussage des Gutachtens – die ethnische Herkunft der Untersuchten für die Beurteilung der Zahnentwicklung relevant ist (vgl. zur Relevanz auch: Schmeling, Habilitationsschrift „Forensische Altersdiagnostik bei lebenden im Strafverfahren“, im Internet abrufbar unter: Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren (d-nb.info)) erscheint die vorgenommene Gesamtwürdigung zumindest zweifelhaft.
34
Nachdem daher auf Grund der Vorlage der „E-Taskira“ und des in seinem Aussagegehalt zweifelhaften medizinischen Gutachtens erhebliche Zweifel an der Volljährigkeit des Antragsgegners bestehen, überwiegt weiterhin das Interesse des Antragsgegners an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Der Antrag war daher abzuweisen.
35
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
36
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.